von Robert Lessmann Dr 6. Juni 2025
Antonio Guterres muss sparen. Bei einem derzeitigen Haushalt von 3,26 Milliarden (Mrd.) € (3,7 Mrd. USD) will der UNO-Generalsekretär 15-20 Prozent einsparen. Allein im Sekretariat könnten 20 Prozent der Stellen wegfallen. Einzelne Unterorganisationen und Programme verfügen über gesonderte, oft erheblich höhere Budgets, doch auch sie sind von Kürzungen betroffen. Insgesamt könnten 7.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen sein. Besondere Gefahr besteht für Einzelorganisationen wie das Flüchtlings- und das Palästinenserhilfswerk (UNHCR und UNRWA), die in Washington besonders ungeliebt sind. Aus der Weltgesundheitsorganisation WHO sind die Vereinigten Staaten gerade wieder ausgetreten; aus der UNESCO (Erziehung, Wissenschaft und Kultur) und dem UNHCHR (Menschenrechte) sind sie unter Trump aus- und unter Biden wieder beigetreten. Dabei sind die Vereinten Nationen wegen notorisch überfälliger Beitragszahlungen ohnehin unter Druck. So waren die USA als wichtigster Geber zum 1.1.2025 mit 1,5 Mrd. USD in Verzug. Der inzwischen zweitwichtigste Geber, China, zahlt auch immer erst zum Jahresende. Angesichts der drängenden Probleme (Kriege, Konflikte, Klima) sind eine regelbasierte Weltordnung und multilaterales Handeln wichtiger denn je. Aber gerade sie sind ein Hindernis für Großmachtambitionen – und Reaktionären in ihrem Kulturkampf seit eh und je ein Dorn im Auge. Der Schweizer Unternehmer Christoph Blocher (Schweizerische Volkspartei) nannte die UNO in Ablehnung eines Beitritts (der dann 2002 doch erfolgte) bereits in den 1980er Jahren einen Hort des Kommunismus. Die USA, China und Russland haben den Internationalen Gerichtshof in Den Haag nie anerkannt und missachten seine Urteile, was nicht verwundert, verfolgen diese drei ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats in ihrer Außenpolitik doch expansionistische Ziele. Ganzheitliche Analysen und Nachhaltigkeit Mit den 2015 verabschiedeten nachhaltigen Entwicklungszielen (auch Agenda 2030) legen die Vereinten Nationen schon seit zehn Jahren mehr Wert auf ressortübergreifende Ansätze und Nachhaltigkeit. Soeben (20.5.2025) ist beim in Wien ansässigen Büro für Drogen und Verbrechensbekämpfung (UNODC) ein Bericht erschienen: „ Minerals Crime: Illegal Gold Mining “, als Teil einer in Arbeit befindlichen Globalanalyse von Verbrechen, die die Umwelt schädigen. Bereits der World Drug Report 2023 hatte ein ganzes Kapitel 4 der Verschränkung krimineller Aktivitäten und der Umweltzerstörung in Amazonien gewidmet. (Wir berichteten an dieser Stelle: „Amazoniens Unterwelt“, 26. November 2024, robert-lessmann.com/amazoniens-unterwelt/) Gleich fünf UNO-Unterorganisationen erarbeiteten einen Bericht über Ernährungsunsicherheit in Lateinamerika und der Karibik, der bereits 2024 erschienen ist.* Demnach ist die Region nach Asien am meisten von der Klimakrise betroffen. Unmittelbare Folgen sind Extremwetterereignisse und sinkende landwirtschaftliche Produktivität. Soziale Ungleichheit komme als verschärfender Faktor hinzu. Im Jahr 2023 waren 41 Millionen Menschen in der Region von Hunger betroffen; eine besonders starke Zunahme sei in der Karibik festzustellen. 187,6 Millionen Personen leiden unter Ernährungsunsicherheit, eines von zehn Kindern unter fünf Jahren leidet an Mangelernährung. Paradoxerweise gehen Unterernährung und Übergewicht miteinander einher, sagt Karin Hulshof, die Regionaldirektorin von UNICEF für Lateinamerika und die Karibik. Das Recht von Frauen und Kindern auf Nahrung müsse bei allen Entscheidungen zur Klimapolitik Priorität haben, fordert sie. Im Jahr 2022 waren weltweit 5,6 Prozent der Kinder unter fünf Jahren von Übergewicht betroffen. In Lateinamerika waren es 8,6 Prozent. Die Hälfte der Bevölkerung in der Karibik könne sich keine gesunde und ausgewogene Ernährung leisten, in Mittelamerika seien es 26,3 Prozent und in Lateinamerika 26 Prozent. Laut FAO müsse die Landwirtschaft klimaresilienter werden, damit sie zunehmende Herausforderungen durch den Klimawandel und Extremwetterereignisse besser überstehen kann. Ein Bericht des UN-Weltentwicklungsprogramms (UNDP) vom Jänner 2025 analysiert ebenfalls Probleme durch den Klimawandel, geringe Produktivität, schwaches Wirtschaftswachstum, strukturelle Ungleichheit sowie Vertrauensverlust in Politik und Institutionen. Schon bald müsse man in vielen Ländern Lateinamerikas und der Karibik mit Wasserknappheit rechnen und bis zum Jahr 2080 mit einer schweren Wasserkrise. Das UNDP empfiehlt unter anderem Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Technologie. Politische Entscheidungen – zum Beispiel in Argentinien – gehen in eine andere Richtung. Von Seepferdchen und dem Kokain der Meere: Wildlife Crime Report 2024 Auch ein halbes Jahrhundert nach Inkrafttreten des Washingtoner Artenschutzabkommens (CITES, verabschiedet 1973; heute 184 Unterzeichnerstaaten) sind viele Tier- und Pflanzenarten gefährdet oder vom Aussterben betroffen. Nur wenige Bereiche, wie Elfenbein und Nashorn, genießen globale Aufmerksamkeit. Andere Arten, wie akut vom Aussterben bedrohte Orchideen, werden kaum beachtet. In Südamerika liegen die gravierendsten Probleme im Bereich von Tropenhölzern, wie Großbeschlagnahmungen zeigen. Auch hier weist der Bericht auf gefährliche Verschränkungen verschiedener krimineller Sektoren hin, im konkreten Fall mit dem Drogenhandel und dem illegalen Goldabbau. Auch eine soziale Sensibilität greift Platz, die man sich in anderen Bereichen, wie zum Beispiel dem Kokaanbau, auch längst gewünscht hätte. So sind Seepferdchen ein nicht zu unterschätzender illegaler Exportartikel Perus für Aquarien oder getrocknet (nach Asien, etwa Thailand oder die Philippinen). Peru ist übrigens die drittgrößte Fischereination nach China und Indonesien. Die Seepferdchen kommen meist tot oder sterbend als Beifang. Die Illegalität beginnt mit der Anlandung. Fischer sehen den Seepferdchen-Beifang als eine Art Bonus und wissen meist gar nicht, dass ihr Tun illegal ist. Sie wieder in die See zu werfen erscheint so sinnlos wie eine Bestrafung für das unabsichtliche Werk der kleinen Fischer. Illegal ist in Peru aber das Fischen mit Schleppnetzen innerhalb der Fünfmeilenzone, wo die meisten Seepferdchen hängen bleiben dürften. Gute Geschäfte machen Aufkäufer und Händler. Davon zeugen einzelne Beschlagnahmungen im Bereich von mehreren hundert Kilogramm. Im Jahr 2017 wurden 900 kg in Vietnam in einem Container aus Peru beschlagnahmt. Im September 2019 waren es 1.043 kg getrocknete Seepferdchen in einem Schiff vor der peruanischen Küste. Besonders kurios ist die Symbiose von Drogenexport und der illegalen Fischerei durch Mitglieder mexikanischer Drogenorganisationen. Ursprünglich ein willkommenes Zubrot beim Drogentransit, entdeckte man mit der Schwimmblase eines vom Aussterben bedrohten Fisches (Totoaba) das „Kokain der Meere.** Die Fischer erhalten dafür pro Kilo zwischen 500 und 3.000 USD. In China, wo sie in Suppen, in der traditionellen Medizin oder sogar als Wertanlage verwendet wird, kann man 80.000 USD erzielen. Washington isoliert Von einem Wendepunkt in der Geschichte der internationalen Drogenpolitik spricht Ann Fordham, Direktorin der NGO International Drug Policy Consortium (IDPC): Mit 30 Stimmen, 18 Enthaltungen und drei Gegenstimmen (Argentinien, Russland und die USA) nahmen die Delegierten der 68. Commission on Narcotic Drugs (CND) des Wirtschafts- und Sozialrates der UN, die im März diesen Jahres in der Wiener UNO-City stattfand, eine unter Federführung Kolumbiens eingebrachte Resolution an, die die Einrichtung einer 19-köpfigen Expertengruppe vorsieht, um das Regelwerk der internationalen Drogenkontrolle zu überdenken und „to prepare a clear, specific, and actionable set of recommendations aimed at enhancing the implementation of the three drug conventions, as well as the obligation of all relevant international instruments, and the achievement of all international drug policy commitments.“ Zehn Mitglieder bestimmt die CND, fünf der Generalsekretär und drei das International Narcotics Control Board (INCB, der UN Suchtstoffkontrollrat zur Überwachung der Einhaltung der drei UN-Drogenkonventionen) und eines die Weltgesundheitsorganisation WHO. Dieser Beschluss reiht sich ein in eine Tendenz der allmählichen Öffnung der internationalen Drogenkontrolle, die ursprünglich fast vollständig von den USA dominiert war. So räumte die UN Sondergeneralversammlung zum Thema Drogen von 2016, bei deren Vorbereitung erstmals andere UN Unterorganisationen, wie die WHO oder das Hochkommissariat für Menschenrechte und zivilgesellschaftliche Organisationen mitwirkten, größere „Interpretationsspielräume“ bei der Auslegung der drei UN Drogenkonventionen ein, um Desertionen vorzubeugen. NGO-Vertreterinnen machen nicht zuletzt ein „atemberaubend arrogantes Eingangsstatement“ und völlig unflexible Positionen ohne Verhandlungsbereitschaft der US-Delegation für das klare Votum der Delegierten verantwortlich. So wurden China, Kanada und Mexiko entgegen aller Gepflogenheiten direkt angegriffen und für die vielen Überdosis-Toten der US-Opioidkrise verantwortlich gemacht. Die kolumbianische Botschafterin Laura Gil in ihren Statement: „Alle Kolumbianerinnen und Kolumbianer verstehen und spüren, dass das globale Drogenproblem einen Schatten auf uns alle wirft, und dieses Forum ist eine Einladung, um unter dem Schirm der Konventionen das Prinzip der gemeinsamen und geteilten Verantwortung [für das Drogenproblem R.L.] jetzt und heute zu überdenken. Mein Land hat mehr Menschenleben geopfert als jedes andere in diesem Drogenkrieg, der uns aufgezwungen wurde. (…) Unsere besten Männer und Frauen und ein Löwenanteil unseres Budgets gingen in die Bekämpfung des illegalen Drogenhandels. Wir brauchen neue und effektivere Mittel um ein globales System zu verwirklichen. Weiter zu machen wie bisher wird zu nichts führen.“ Ob diese Resolution tatsächlich einen Wendepunkt darstellen wird, muss ihre Umsetzung zeigen. Diese könnte, wie andere vielversprechende Ansätze, finanziellen Strangulierungen zum Opfer fallen. Laura Gil, die treibende Kraft dahinter, wurde am 5. Mai zur Stellvertretenden Generalsekretärin der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) gewählt und wird Wien verlassen. In der UNO-City kursieren Gerüchte und Spekulationen darüber, wie es mit den verschiedenen Unterorganisationen, wie etwa dem UNODC, weiter gehen könnte. Bei aller berechtigten Kritik an den Schwächen der Vereinten Nationen: Sie sind nur so stark wie ihre Mitgliedsländer es zulassen. Das Geschäft jener zu betreiben, die sie ohnehin schwächen oder abschaffen wollen, wäre abenteuerlich. * Food and Agriculture Organization (FAO), Fondo Internacional de Desarrollo Agrícola (FIDA) Organisación Panamericana de Salud (OPS), Programa Mundial de Alimentos (WFP) und UNICEF: „El Panorama Regional de la Seguridad Alimentaria y la Nutrición 2024“ ** Neben dem erwähnten UNODC-Bericht auch: Israel Alvarado Martínez and Aitor Ibáñez Alonso: „Mexican Organized Crime and the Illegal Trade in Totoaba Maw“ in: Organized Crime 24, No. 4, 1st Dec. 2021 (https://doi.org/10.1007/s12117-021-09436-9)
von Robert Lessmann Dr 14. Mai 2025
Das hatte sich der wohl erfolgreichste Präsident, den Bolivien je hatte, anders vorgestellt. Das kleine Land im Herzen des Halbkontinents war nach seinem Erdrutschsieg Ende 2005 vielbeachteter Hoffnungsträger. Könnte die Entwicklung dort ein Vorbild sein? Nichts weniger als die „Neugründung Boliviens“ hatte man sich vorgenommen. Eine Regierung der sozialen Bewegungen wollte man sein. Bereits sechs Wochen nach Amtsantritt wurde ein Einberufungsgesetz zu einer verfassunggebenden Versammlung verabschiedet. Die neue Verfassung wurde dann 2009 – erstmals durch eine Volksabstimmung – angenommen. Bolivien wurde durch sie zum „plurinationalen Staat“. Soziale Rechte, Indígena-Rechte und die Rechte der Pachamama wurden darin festgeschrieben. Indigene Sprachen wurden auch Amtssprachen und die bunte Wiphala-Fahne gleichwertig neben die rot-gelb-grüne Nationalflagge gestellt. Die Nationalisierung der Kohlenwasserstoffressourcen vom 1. Mai 2006 spülte bei günstiger Konjunktur Devisen in die Staatskasse, die für eine Umverteilungs- und Sozialpolitik verwendet wurden. Die Armutsquote sank deutlich, die durchschnittliche Lebenserwartung stieg um Jahre. Ein bedeutender Teil der Unterschicht stieg in die untere Mittelschicht auf. Deren Binnennachfrage stabilisierte die Wirtschaft, auch als die Exporteinnahmen nach 2015 einbrachen. Grundlage war der Extraktivismus, insbesondere die Exporte von Erdgas. Grundlegende Strukturreformen unterblieben. Die Präsidentschaft von Morales war von einer Serie von Wahlen und Abstimmungen begleitet, was manche Beobachter als referenditis bezeichneten. Er hat sie alle mit absoluter Mehrheit gewonnen: eine bis dato in Bolivien unbekannte politische Stabilität. Nur nicht die beiden letzten... Heute sitzt Morales im Trópico de Cochabamba ohne Kandidatenstatus, ohne Partei, von einem harten Kern seiner Getreuen beschützt. Gegen ihn läuft ein Verfahren wegen Sex mit Minderjährigen und Menschenhandel. Wie kam es dazu? Morales’ Fall Schon in seiner Zeit als Gewerkschaftsführer hat Morales Widersacher und Gegenkandidaten erfolgreich ausgeschaltet. Als Präsident wechselte er seine Minister in rascher Reihenfolge, servierte unter anderem seinen Mentor und Lehrmeister ab, den großen alten Gewerkschafter Filemón Escobar, und war sehr erfolgreich darin, die wichtigsten der vielen sozialen Bewegungen zu bedienen, die seine Regierung unterstützten. Die neue Verfassung vom Januar 2009 sieht in Art. 168 nur zwei aufeinanderfolgende Amtsperioden vor. Ein Referendum zur Änderung dieses Artikels ging im Februar 2016 knapp verloren. Mitentscheidend waren damals Berichte eines „Enthüllungsjournalisten“ über ein gemeinsames außereheliches Kind des Präsidenten mit einer stets grell geschminkten Blondine, was dieser abstritt. Bilder von gemeinsamen Auftritten – etwa beim Karneval von Oruro – belegten demgegenüber zumindest eine gewisse Verbindung zwischen beiden und später wurde die Dame zu einer Haftstrafe verurteilt. Sie hatte in dieser Zeit millionenschwere Regierungsaufträge für die chinesische Firma an Land gezogen, für die sie arbeitete. Der Ruf war angekratzt, doch wurden keine Spuren eines angeblichen Kindes gefunden. Politisch schlimmer wog, dass Morales das Ergebnis dieses Votums ignorierte und bei den Wahlen vom Oktober 2019 erneut kandidierte, was seinen Ruf als Demokrat nachhaltig beschädigte. Seine Popularität sank. Für die Opposition war klar: Es würde Wahlbetrug geben, das Regierungslager sah einen Putsch voraus. Die Wahlen brachten dann herbe Verluste von wahrscheinlich 14 Prozent, doch Morales gewann sie noch immer mit etwa 47 Prozent. Fraglich blieb, ob er 10 Prozentpunkte vor dem stärksten Oppositionskandidaten lag, wodurch eine Stichwahl vermieden würde. Als in der Wahlnacht die Schnellauszählung (nicht die amtliche!) angehalten wurde, nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Sechs von neun Departments-Wahlzentralen gingen in Flammen auf. Straßenproteste wurden wenige Tage später durch eine Polizeimeuterei befeuert. Schließlich legte der Armeechef Morales den Rücktritt nahe. Präsident und Vizepräsident gingen erst ins mexikanische Exil, dann nach Buenos Aires. Dorthin – so die heutige Anklage – sollen Morales immer wieder junge Mädchen zugeführt worden sein. Mit einer seinerzeit Fünfzehnjährigen soll er eine Tochter haben. Es war Hybris der Macht, mit der sich Morales selbst ins Abseits manövrierte. In Bolivien übernahm eine De-facto-Regierung, die von der politischen Rechten getragen wurde, von Korruption gekennzeichnet war und ohne Umschweife versuchte, den Prozess des Wandels, der seit 2006 stattgefunden hatte, rückgängig zu machen. Sie scheiterte an den Herausforderungen der Corona-Pandemie und politischen Ambitionen der Beteiligten. So wurde der Zweitplatzierte bei der Wahl von 2019, Carlos D. Mesa, praktisch ausgeschaltet. Vor allem aber erzwangen die machtvollen sozialen Bewegungen, die die MAS-Regierung stets getragen hatten, durch Straßenblockaden Neuwahlen, die dann im November 2021 die MAS mit 55,1 Prozent eindrucksvoll zurück an die Macht brachten. Vom argentinischen Exil aus hatte Morales seinen langjährigen Superminister für Wirtschaft und Finanzen, Luis Arce, als Spitzenkandidaten nominiert und seinen Intimfeind David Choquehuanca als Kandidat für die Vizepräsidentschaft. Der langjährige Außenminister hatte sich nach dem verlorenen Referendum vom Februar 2016 als Kandidat ins Spiel gebracht und war von Morales daraufhin auf einen Diplomatenposten ins „Exil“ befördert worden. Die Parteibasis hatte zuvor für Choquehuanca und Andrónico Rodríguez als Vize votiert, einen jungen politischen Ziehsohn Morales’. Nach dem Amtsantritt der Regierung Arce/ Choquehuanca kehrte Morales, vom argentinischen Präsidenten Alberto Fernández bis an die Grenze begleitet, im Triumphzug nach Bolivien zurück und versuchte sogleich, als Parteichef und Übervater weiterhin die Regierung zu lenken. Das konnte nicht gutgehen. Schon die Regionalwahlen von Anfang 2021 wurden – obzwar deutlich gewonnen – zum relativen Misserfolg. Es reüssierten oftmals Kandidaten und Kandidatinnen, die von Morales ausgebremst worden waren. Der jungen Eva Copa, die als Senatspräsidentin das Fähnlein der MAS gegen die De-facto-Regierung hochgehalten hatte während die Parteispitze im sicheren Exil saß, wurde vorgeworfen, mit der Regierung kooperiert zu haben. Eine Nominierung wurde ihr verwehrt. Sie wurde dann auf einer indigenistischen Liste mit 70 Prozent zur Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt, El Alto, gewählt. Stichwahlen gingen verloren und wurden teilweise durch MAS-Dissidenten gewonnen. Die MAS-internen Spannungen nahmen zu und regelmäßig wurden Präsident und Vizepräsident oder einzelne Minister von den sozialen Bewegungen zum Rapport einbestellt, die damals noch hinter Morales standen. Währenddessen versuchte die Opposition von ihrer Hochburg Santa Cruz aus fortlaufend, die Regierung durch „Bürgerstreiks“ zu destabilisieren, was das Land in Summe Milliarden kostete. Unter anderem war man gegen so triviale Dinge wie eine Volkszählung. Ein Fanal war die Aufforderung von Morales an „seine Regierung“ endlich in Sachen Volkszählung zu handeln – und zwar mit den Argumenten der Opposition. In dem Maße, wie die Kritik am Expräsidenten wuchs, der aus dem sicheren Exil heraus jene kritisiert hatte, die daheim für ihn den Kopf hingehalten hatten, wurde Morales’ Kritik an „seiner“ Regierung immer direkter und schriller. Morales warf ihr einen Rechtsruck und Paktieren mit der Opposition vor, nachdem man sich auf ein Verfahren zur Volkszählung geeinigt hatte. Zwölf Abgeordnete wurden aus der Partei ausgeschlossen, jegliche Kritik als „Verrat“ diffamiert. Als sich der junge Innenminister Eduardo del Castillo im Jänner 2022 „erdreistete“, Maximiliano Dávila zu verhaften, der unter Morales Chef der Spezialkräfte für den Kampf gegen den Drogenhandel gewesen war, nun aber von der DEA gesucht wurde und sich auf der Flucht nach Argentinien befand, wurde er neben Vizepräsident Choquehuanca und zusammen mit dem Justizminister zum Lieblingsfeind. Morales sprach von einem sinistren Plan gegen ihn und verlangte immer wieder deren Rücktritt. Man beschuldigte sich gegenseitig, mit dem Drogengeschäft unter einer Decke zu stecken. Als die MAS-Parlamentsfraktion zusammen mit der Opposition ein Amtsenthebungsverfahren gegen del Castillo durchsetzte, wurde er von Präsident Arce umgehend wieder berufen. Schließlich hatte er sich nicht nur aktiv gegen die Machtergreifung der Rechten 2019 gewehrt. Er hatte zusammen mit dem Justizminister auch dafür gesorgt, dass die maßgeblich Verantwortlichen vor Gericht gestellt wurden, darunter eine ganze Reihe hoher Militärs. Selbstdemontage der MAS Im Oktober 2023 war das Band zerrissen. Es gab bereits zwei MAS-Parlamentsfraktionen und auch die sozialen Bewegungen waren in „evistas“ und „arcistas“ gespalten. Morales berief einen Parteitag in seiner Hochburg im Kokaanbaugebiet des Tropico de Cochabamba ein, wo sich der lider indiscutible zwei Jahre vor den Wahlen zum Parteichef wiederwählen und vorzeitig zum Spitzenkandidat küren ließ. Dass Arce und Choquehuanca nicht kamen wurde als „Selbstausschluss“ gewertet. Freilich wurde der Parteitag als solcher wegen Verfahrensfehlern bei der Einberufung vom Wahlgerichtshof nicht anerkannt. Der Oberste Gerichtshof untersagte Morales schließlich mit einer abenteuerlichen Auslegung der Verfassung überhaupt die Kandidatur, weil er schon zweimal Präsident war. Diese spricht freilich für diesen Fall wie gesagt von aufeinanderfolgenden Amtsperioden. Die „evistas“ erkennen das Urteil nicht an, weil die Amtszeit der Richter bereits abgelaufen war. Eine Neuwahl der Verfassungsrichter war wegen der Pattsituation im Parlament nicht möglich gewesen. Im Mai 2024 wählten die „arcistas“ auf „ihrem“ Parteitag in El Alto mit Unterstützung des ihnen nahe stehenden „Einheitspakts“ der sozialen Organisationen den Bauerngewerkschafter (CSUTCB) Grover García zum Parteichef der MAS. Die „evistas“ protestierten dagegen mit Märschen und Straßenblockaden, die teilweise gewalttätig verliefen und sukzessive an Zulauf verloren. Auch sie dürften Milliardenschäden für die Volkswirtschaft verursacht haben. Präsident Arce hielt sich derweil vornehm zurück: Es sei die Zeit zu arbeiten. Für eine Kandidatenwahl sei es zu früh, gab er den fleißigen Administrator. Ein Volkstribun ist er ohnehin nicht. Dafür verfügt er als Präsident über die Mittel, seine Gefolgschaft bei der Stange zu halten. Woher Morales sie nimmt, ist nicht bekannt. Dabei steckt Bolivien in einer ernsten Wirtschaftskrise. Dollars sind knapp. Zeitweise muss händeringend Diesel importiert werden und die Lähmung des Transportsektors befeuert die Inflation. Ersatzinvestitionen wurden lange vernachlässigt. Die Regierung gibt die Schuld der Blockade der „evistas“, die im Parlament zusammen mit der Opposition Gesetze und Kreditbewilligungen blockierten. Die Devisenreserven fallen schon seit 2015 und liegen mit 1,9 Mrd. US-Dollars (USD; entspricht 4 Prozent des PIB) auf dem niedrigsten Stand seit 2005. Ein Bericht der UN Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) listet Bolivien unter den Ländern mit dem niedrigsten Wachstum und der höchsten Inflation auf. Präsident Arce wurde in der öffentlichen Wahrnehmung vom Architekten des bolivianischen Wirtschaftswunders zum Versager. In Umfragen liegt er bei 5 Prozent, während Morales immerhin noch rund 20 Prozent zugeschrieben werden. Ein bolivianischer Elon Musk? Was diese Umfragen wert sind, ist die Frage. Am meisten Aufmerksamkeit genossen jene, die von Marcelo Claure in Auftrag gegeben wurden, einem Selfmade-Unternehmer und Besitzer von Fußballclubs in Bolivien und den Vereinigten Staaten. Er strebe selbst kein Regierungsamt an, sagt er, wolle aber gerne helfen, Bolivien aus der Krise zu führen. Hauptsache, die Herrschaft der MAS ende. Aber Andrónico wäre noch immer besser als ein Pädophiler (Morales) oder ein Unfähiger (Arce): „Andrónico es mil veces mejor que un pedófilo o un incapaz y tengo mucha fé que todos trabajaremos juntos para sacar a Bolivia de este hueco“. Seine politische Präferenz liegt rechts der Mitte. Dort tritt eine Reihe von Altpolitikern an. Manfred Reyes Villa, 2021 mit 59 Prozent erneut zum Bürgermeister von Cochabamba gewählt, kommt ursprünglich aus dem Umfeld der ADN von Exdiktator Hugo Banzer. Er gilt als ebenso effizienter wie korrupter Administrator. Nach der Machtübernahme der MAS 2006 musste er mit einem halben Dutzend Korruptionsverfahren im Gepäck außer Landes fliehen. Daneben scheint eine Rechtsallianz, die hauptsächlich aus Drahtziehern der 2019 eingesetzten „Interimsregierung“ bestand, mit dem Ausscheiden von „Tuto“ Quiroga zerbrochen. Ihr wurden rund 20 Prozent prognostiziert. Quiroga war nach dem Krebstod von Hugo Banzer als dessen Vize von August 2001 bis August 2002 schon einmal zum Präsident aufgerückt. Er gilt als Schlüsselfigur jener illustren Runde, die nach der Flucht von Morales 2019 in der Universidad la Católica die Strippen für die Einsetzung der „Interimsregierung“ zog. Frontmann ist nunmehr der Zementunternehmer Samuel Doria Medina, der bereits 1992 unter dem sozialdemokratischen Präsidenten Jaime Paz Zamora einmal Planungsminister war. Er gilt als liberal-gemäßigt. Ebenso wie Carlos D. Mesa der Zweitplatzierte bei den Wahlen vom Oktober 2019, vormals ein honoriger Journalist und Historiker, der jedoch wegen seiner Rolle bei den Novemberereignissen von 2019 als „verbrannt“ gilt. Mit von der Partie ist aus dem Gefängnis Chonchocoro heraus auch Fernando Camacho, Organisator der Blockadeaktionen von Santa Cruz gegen die Regierung Arce, der sich damit brüstet, dass sein Vater 2019 die Polizei geschmiert und zur Rebellion angestiftet hat. Er wurde deshalb am 28. Dezember 2022 verhaftet. Im Umfeld der Überreste der seinerzeit von Hugo Banzer gegründeten ADN geistert ferner der notorische Speiseöltycoon Branco Marincovic herum, der bereits beim Zivilputsch von Santa Cruz 2008 die Fäden zog. Bolivien hat eine sehr junge Bevölkerung. Viele Wählerinnen und Wähler sind unter 30 Jahre alt und dürften sich kaum noch an die erfolgreichen ersten Jahre der Morales - Regierung erinnern, geschweige denn an das voraus gegangene Chaos und die damit verbundenen politischen Dinosaurier. Eine wichtige Rolle dürfte die Präsenz in den sozialen Medien spielen. Der Faktor Andrónico Politologen sprechen von einem dysfunktionalen Parteiensystem. Die einzige Partei mit nationaler Reichweite und Verankerung ist die MAS – und selbst die hatte vor den Regionalwahlen 2021 Schwierigkeiten, geeignete Kandidaten zu finden. Die Finanzierung ist ein großes Problem. Man ist in einer Partei, weil man im Falle ihres Wahlsiegs auf einträgliche Posten hofft. Umgekehrt suchen sich Persönlichkeiten eingetragene Wahlkürzel, die sich mitunter sogar in Familienbesitz befinden und vermietet werden. Morales etwa ist aktuell verzweifelt auf der Suche nach so einer "Taxipartei". Ferner will er mit einem Marsch auf La Paz seine Kandidatur erzwingen. Ebenfalls auf der Suche nach einer „politischen Heimat“ ist Andrónico Rodríguez. Der 36-jährige Senatspräsident stammt aus Morales’ Kernland im Trópico und wurde von ihm als potenzieller Nachfolger aufgebaut. Lange führte er im Parlament die Fraktion der „evistas“ an, war dabei aber eher moderat und besonnen. Nach langem Zögern ist er nun vielfachen Rufen nach einer politischen Frischzellenkur nachgekommen und hat erklärt, dass er kandidieren wolle. Die „evistas“ sprachen umgehend von Verrat. Er steht für eine Fortführung des proceso de cambio und der bäuerlich-plebejischen Orientierung, kommt mit seiner Dialogbereitschaft aber auch bei den städtischen Intellektuellen an. Nun sucht der erklärte Kandidat nach einer Partei. Noch ist nicht abzusehen, wohin die Reise geht. In Frage kommen das Movimiento Tercer Sistema von Felix Patzi, der einmal Bildungsminister unter Morales war und gefeuert wurde oder das Movimiento de la Renovación Nacional der Bürgermeisterin Eva Copa, denen er erst Statur geben könnte. Oder ist Andrónico die letzte Chance für die MAS? Die hatte nach der Kandidatur von Andrónico Rodríguez einen Parteitag, auf dem Luis Arce zum Präsidentschaftskandidaten gekürt werden sollte, auf unbestimmte Zeit verschoben und Präsident Arce erklärte daraufhin, er würde nicht kandidieren und forderte Morales auf, es ihm gleich zutun. Beides vergeblich: Rodríguez wollte nicht für die "arcistas" kandidieren. Nachtrag (26.5.) nach Registrierungsschluss Der Nationale Wahlgerichtshof gab nunmehr folgende Kandidatenlisten bekannt: Nueva Generación Patriótica (NGP): Präsidentschaftskandidat Jaime Dunn mit Vizepräsidentschaftskandidat Édgar Uriona Partido Demócrata Cristiano (PDC): Rodrígo Paz mit Edman Lara Frente Izquierda Revolucionaria (FIR) y Demócratas: Jorge Quiroga mit Juan Pablo Velazco Unidad Nacional (UN) y Creemos : Samuel Doria Medina mit José Luis Lupo APB – Sumate : Manfred Reyes Villa mit Juan Carlos Medrano Libertad y Progreso/ ADN : Paulo Folster mit Antonio Saravia Fuerza del Pueblo : Jhonny Fernandez mit Felípe Quispe Aus der (noch) Regierungspartei MAS gingen letztlich drei Listen hervor: Movimiento al Socialismo (MAS): Eduardo del Castillo und Milán Berna (aus der Bauerngewerkschaft CSUTCB) Movimiento de Renovación Nacional (MORENA): Eva Copa mit Jorge Richter (vormals Regierungssprecher von Präsident Arce) Alianza Popular/ MTS : Andrónico Rodríguez mit Mariana Prado (von 2017-2019 Planungsministerin unter Morales; gegenwärtig läuft noch ein Verfahren, ob das Movimiento Tercer Sistema von Felix Patzi die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt) Evo Morales hat seine ehemalige Ministerin für Kultur und Tourismus (2017-2019), Wilma Alanoca, als Vizepräsidentschaftskandidatin vorgesehen und kämpft mit einem für heute (26.5.) angekündigten Marsch auf La Paz weiterhin um nachträgliche Zulassung.
von © Robert Lessmann Dr 27. Januar 2025
Beim Thema Migration haben die Trump-Dekrete bereits Verzweiflung ausgelöst. Als „scary“ (erschreckend oder beängstigend) beschreibt unsere Kollegin Coletta Youngers, die bis vor Kurzem jahrzehntelang für das Washington Office on Latin America (WOLA) gearbeitet hat, die Atmosphäre seit der Amtseinführung des 47. Präsidenten. In ihrem Stadtviertel wohnen viele Migranten, die sich fragen, was mit den angekündigten Razzien auf sie zukommt. Beängstigend ist auch die umgehende Begnadigung der Teilnehmer des Sturmes auf das Kapitol, knapp 1.600 Angeklagte beziehungsweise Verurteilte, darunter Führer und Mitglieder der paramilitärischen und rechtsradikalen „Proud Boys“ und „Oath Keepers“, die wegen schwerer bis schwerster Delikte vor Gericht kamen, zum Beispiel Enrique Tarrio, Vorsitzender der „Proud Boys“, der wegen Verschwörung zu 22 Jahren Haft verurteilt worden war. Die nachträgliche Legitimierung eines Putschversuchs durch den Anstifter? Seinerseits scheinbar legitimiert durch das aktuelle Wahlergebnis, was die Sache eher schlimmer macht als besser. Beängstigend auch der sofortige Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaabkommen und der Weltgesundheitsorganisation WHO. Ein klares Bekenntnis gegen den Multilateralismus in einer Zeit multipler Krisen. „America First“, bedeutet das für Lateinamerika die Rückkehr zur Monroe-Doktrin, wonach der Halbkontinent exklusives Einflussgebiet oder Hinterhof der Vereinigten Staaten sind? Jedenfalls wird Lateinamerika an Aufmerksamkeit gewinnen. Zuletzt spielte der Halbkontinent im Süden eine eher geringe Rolle in der US-Außenpolitik, die dort auf Krisen wie Migration und Drogen bezogen war und sich sonst um andere Regionen kümmerte. Während in der ersten Amtszeit Trumps wichtige Posten, wie der des zuständigen Undersecretary for Western Hemispheric Affairs im State Department, monatelang unbesetzt blieb, legen das schon die Personalentscheidungen nahe. Außenminister wird mit Marco Rubio ein exilkubanischer Hardliner, sein Stellvertreter wird Christopher Landau, der Botschafter in Mexiko war. Schon im Vorfeld wurden Mitarbeiter des State Departments ausgetauscht und durch Getreue ersetzt. Nicht zuletzt wurden eine Reihe von Botschaftsposten in lateinamerikanischen Staaten umbesetzt. Mit Mauricio Claver-Carone wurde ein weiterer Exilkubaner, Hardliner und Sanktionsbefürworter Sonderbeauftragter für Lateinamerika. Schon während seiner ersten Amtszeit war Trump dafür bekannt, unterschiedliche Positionen gegeneinander auszuspielen. Sondergesandter – unter anderem für Venezuela – wurde mit Richard Grenell ein weiterer bekannter Hardliner, vormals Botschafter in Berlin, doch er ist mehr „Freihändler“ als Sanktionsbefürworter. Zentrale Themen dürften neben Migration und Drogen nun auch der Kampf um Rohstoffe und gegen die chinesische Dominanz sein. Hier kommt der omnipräsente Elon Musk ins Spiel, der als Autobauer direkte Interessen am Lithium-Dreieck (Argentinien, Bolivien, Chile) hat. Im WOLA erwartet man insgesamt deutliche Rückschritte bei demokratischen Normen, Räumen für die Zivilgesellschaft, dem Schutz der Minderheitenrechte, der Unabhängigkeit der Justiz, bei Initiativen für Inklusion und Vielfalt, Minderheitenrechten und beim Klimaschutz. Die Nähe zu autoritären Führern, wie Javier Milei (Argentinien), Nayib Bukele (El Salvador) oder der Bolsonaro-Familie könnte anti-demokratische Elemente in der Region beflügeln und demokratische Institutionen, bürgerliche Freiheiten und Sicherheiten sowie den Schutz der Menschenrechte in Frage stellen. Ein Sohn Bolsonaros gilt als Schlüsselfigur für die Vernetzung der lateinamerikanischen mit der internationalen Rechten und Jair Bolsonaro rief seine Anhänger zu Massendemonstrationen gegen die Einschränkungen für Musks Plattform X auf. Zur Amtseinführung konnte er nicht kommen. Wegen laufender Verfahren ist er mit einem Ausreiseverbot aus Brasilien belegt. Thema Migration Die Bekämpfung der Migration war und ist ein Trump’sches Kernthema. Er sieht sie gerne als gezielten Versuch (von wem eigentlich?) die Vereinigten Staaten zu schwächen. Migranten bezeichnet er als Terroristen, Vergewaltiger, Gesindel, Verbrecher und drohte mit der größten Abschiebungswelle, die die Welt gesehen hat. Dadurch werden vor allem Mexiko und die mittelamerikanischen Länder unter massiven Druck geraten und die Beziehungen belastet. Unter Androhung von Strafzöllen durchgesetzte Zwangsabschiebungen in Rambo-Manier gaben einen Vorgeschmack. Auch unter Biden war die Migrationspolitik restriktiv, aber durch bestimmte Schutzmechanismen – Temporary Protection Status etwa für Kinder oder Menschen aus Kuba, Haiti, Nicaragua und Venezuela – abgemildert. Nun sollen flächendeckende Razzien, auch in Spitälern und Kirchen, sowie Massendeportationen durchgeführt werden. Grenzkontrollen sollen weiter militarisiert und Grenzbefestigungen ausgebaut werden. Die mexikanische Präsidentin Claudia Sheinbaum hat angekündigt, ihre Landsleute schützen zu wollen, etwa durch Rechtsbeistand über die Konsulate. Von den angedrohten Abschiebevorhaben sind potenziell vier Millionen Menschen aus Mexiko betroffen, zwei Millionen aus Mittelamerika, mehr als 800.000 aus Südamerika und 400.000 aus der Karibik. Rhetorischer Theaterdonner und Symbolpolitik also? Jenseits des dafür bewusst in Kauf genommenen menschlichen Leids und persönlicher Katastrophen: Weder für die abschiebenden Behörden noch für die Länder, die sie aufnehmen sollen dürfte das überhaupt auch nur annähernd zu leisten sein. Mehr noch: Nicht nur für Kuba, für eine ganze Reihe krisengeplagter Volkswirtschaften sind Familienüberweisungen der wichtigste oder zumindest ein wichtiger Devisenbringer. In Guatemala, Honduras und El Salvador entsprechen sie jeweils etwa einem Viertel des Bruttoinlandsprodukts. Thema Drogen In der puritanistischen Einwanderergesellschaft waren „Drogen“ stets als besonders gravierendes und meist als von Außen in den „gesunden Gesellschaftskörper“ hereingetragenes Problem wahrgenommen worden. Die USA waren es auch, die mit der Haager Konvention von 1912 das erste internationale Drogenabkommen überhaupt forciert hatten. Seitdem Präsident Richard Nixon den Drogen im Jahr 1972 „den Krieg“ erklärte, war es über Parteigrenzen hinweg ein politisches Tabu soft on drugs zu erscheinen. Während der Präsidentschaft von Ronald Reagan kamen in den 1980er Jahren die südamerikanischen Produzentenländer von Kokain in den Focus, das als Hauptproblem angesehen wurde. Going to the source hieß die Devise. Während innenpolitisch in den letzten Jahren stärker differenziert und mehr Gewicht auf gesundheitspolitische Ansätze gelegt wurde, hat sich bei der Externalisierung der Drogenpolitik wenig geändert. Nur Weltpolizist Uncle Sam verfügt seit 1978 über ein Büro für internationale Drogen- und Gesetzesvollzugsangelegenheiten im Außenministerium, dessen Budget stets erheblich über dem des entsprechenden Pendants bei den Vereinten Nationen (UNDCP) liegt; hinzu kommen einschlägige Budgets, etwa im Pentagon.* Doch der jahrzehntelange, teilweise militarisierte Drogenkrieg ist bei hohen sozialen und ökologischen Kosten gescheitert. Die Produktion von Kokain (Bolivien, Kolumbien, Peru) ist auf Rekordniveau. Begleiterscheinung der militarisierten Drogenbekämpfung waren ausufernde Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Doch heute steht nicht mehr das pflanzenbasierte Kokain im Vordergrund, sondern das synthetisch hergestellte Fentanyl, das aus Mexiko kommt. Seit 2008 sind mehr als eine Million Menschen in den USA an Überdosen des starken Opioids Fentanyl gestorben. Nach Jahren stetigen Anstiegs geht ihre Zahl aktuell zurück. Während Trumps erster Amtszeit hatte sie sich vervierfacht. Die Biden-Administration hatte darauf mit einem Bündel von Maßnahmen der harm reduction (Schadensminderung) reagiert, während die Republikaner traditionell eher auf das Strafgesetzbuch setzen. Trump hat angekündigt, mexikanische Drogenorganisationen als Terrorgruppen einzustufen und bedroht die mexikanische Regierung mit Strafzöllen, um sie „zum Handeln zu zwingen“. In republikanischen Kreisen wurden darüber hinaus Militäreinsätze in Mexiko, einschließlich der US Special Forces angedacht. Die mexikanische Regierung dürfte über diesen Unilateralismus alles andere als begeistert sein, selbst wenn es im Endeffekt nicht so weit kommen sollte. Es drohen Gegenzölle und ein Handelskrieg zu beiderseitigem Nachteil. Gefragt wäre vielmehr Kooperation bei der Stärkung des Justizsystems und bei der Korruptionsbekämpfung. Der Fall Venezuela Hier darf man eine Rückkehr zur Politik der ersten Amtsperiode Trumps erwarten. Am Tag vor der Amtseinführung des selbsterklärten Wahlsiegers Nicolás Maduro benannte Donald Trump in einem Post dessen Gegenspieler Edmundo Gonzáles Urrutia als Präsident und lobte die Unterstützung für ihn durch die venezolanische Community in den USA. Marco Rubio sagte in seiner Anhörung als designierter Außenminister vor dem Kongress, das Land sei von kriminellen Organisationen und Drogenhändlern kontrolliert und kritisierte die Biden-Regierung für die Lockerung von Sanktionen. Trumps designierter Sicherheitsberater Michael Waltz traf Gonzáles Urrutia (noch in seiner Eigenschaft als Kongressabgeordneter für Florida) bei dessen Besuch in Washington. Dieser wirbt mit dem Argument, dass nach einem Systemwechsel Millionen Flüchtlinge freiwillig nach Venezuela zurückkehren würden. Maduro wiederum dürfte an einer Verlängerung der Öl-Lizenzen interessiert sein und könnte im Gegenzug bei publikumswirksamen Abschiebeflügen kooperieren. Venezuela ist der drittgrößte Öllieferant für die USA (2024) und Trump braucht Öl zur Reduzierung der Energiekosten („ drill baby drill“ ). Hier kommt der „Freihändler“ Richard Grenell ins Spiel, der bereits in der Vergangenheit mit Maduro verhandelt hat. Der Fall Kolumbien Kolumbien ist traditionell der wichtigste Verbündete der USA in der Region, die wichtigste Auffang- und Durchgangsstation für Migranten aus Venezuela und priorisiert den Handel mit den USA vor dem mit China – auch unter der Linksregierung von Präsident Gustavo Petro. Die USA haben dort im Rahmen des Drogenkriegs sieben Militärbasen. Zwar ist seit dem Friedensabkommen mit den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia ( FARC) von 2016 die Gewalt im Land deutlich reduziert. Wichtig wäre heute Unterstützung beim Ausbau rechtsstaatlicher Präsenz in den von den FARC verlassenen Gebieten und die Bekämpfung der Konfliktursachen. Doch weiterhin bekämpfen sich die noch aktive Guerilla ELN ( Ejército de la Liberación Nacional ), FARC-Dissidenten (zuletzt in der Region Catatumbo, wo es um Transitrouten für Kokain geht), rechtsextreme Paramilitärs untereinander – und mit dem Militär. Alle zusammen werden sie GAI ( Grupos Armados Ilegales ) genannt und diese Gruppen kontrollieren einen Großteil der Kokainproduktion, die in Hochproduktivitätszonen vor allem im Süden Kolumbiens konzentriert ist und auf historischem Rekordniveau liegt. Hier bieten sich Kooperationsmöglichkeiten. Größer scheint jedoch die Gefahr, dass die Trump-Regierung auf die alten martialischen Strategien setzt und es darüber zu Auffassungsunterschieden mit der Regierung von Gustavo Petro kommt, die man bereits mit der Erpressung von Zwangsabschiebungen brüskiert hat. Schließlich hatte man bis vor zehn Jahren unter US-Regie in großem Stil Kokafelder mit Pflanzengift aus der Luft besprüht. Der Fall Zentralamerika Zentralamerika ist neben Mexiko die wichtigste Heimat von Migranten, die in die USA kommen. Die betroffenen Länder dürften mit der angedrohten Abschiebungspraxis unter erheblichen Druck geraten. Hierzu hat man in Washington noch keinerlei spezifische Maßnahmen definiert, doch dürfte eine Abkehr von der langfristig angelegten, proaktiven Politik der Ursachenbekämpfung erfolgen, für die Vizepräsidentin Kamala Harris zuständig war. Gewalt ist die wichtigste Fluchtursache dort. Durch Massenabschiebungen dürften Gewalt und Chaos zunehmen. So werden keine Probleme gelöst, sondern neue geschaffen. Politisch könnte Präsidentin Xiomara Castro in Honduras wegen ihrer Beziehungen zu Venezuela, Kuba, Nicaragua und China unter Druck geraten. Das Trump-Lager hatte ferner enge Beziehungen zu Leuten unterhalten, die in Guatemala wegen Korruption sanktioniert wurden. Sie könnten Frühlingsluft wittern. Der Fall Kuba Unter dem Druck des nunmehrigen Außenministers Marco Rubio hatte Trump in seiner ersten Amtszeit die Tauwetter-Politik unter Präsident Obama aufgehoben, neue Sanktionen verhängt, gemeinsame Arbeitsgruppen – etwa zu Migration, Menschenrechten und Umwelt – aufgelöst und Kuba wieder auf die Liste der Staaten gesetzt, die Terror unterstützen. Einige dieser Maßnahmen wurden von der Biden-Regierung aufgehoben. Die Streichung Kubas von der „Terrorliste“ erfolgte erst nach der Freilassung von 553 Inhaftierten kurz vor Ende seiner Amtszeit und wurde nun von Trump umgehend wieder rückgängig gemacht. Mit dem Exilkubaner Marco Rubio und anderen Hardlinern in Schlüsselpositionen dürfte sich die sowieso schon sehr begrenzte Entspannung der Beziehungen erledigen. Möglicherweise liegt in der Migration ein Anknüpfungspunkt für politischen Pragmatismus, die mit der Zuspitzung der Wirtschaftskrise auf der Insel seit 2022 auf Rekordhöhe liegt. Thema WHO Die Weltgesundheitsorganisation WHO mit Sitz in Genf bedauert in einem Statement den Austritt der USA. Mit 8.000 Beschäftigten ist sie die größte UNO-Unterorganisation. Sie wurde am 7. April 1948 zu dem Zweck gegründet, sich für „bestmögliche Gesundheit für alle“ einzusetzen. Zu ihren Erfolgen gehört der Kampf gegen Infektionskrankheiten wie Polio und Pocken. Für viele Länder, gerade im globalen Süden, sind ihre Frühwarnungen, Koordination und Notfallfonds im Ernstfall lebenswichtig. Mit 18 Prozent sind die USA der größte Beitragszahler zum WHO-Budget. Der Austritt muss gegenüber dem UNO-Generalsekretär Guterres noch schriftlich erklärt werden, dann dauert es ein Jahr bis er wirksam wird. Thema Klima Die Klimakrise führt immer schneller zu immer mehr Katastrophen. Das zeigen zuletzt auch die verheerenden Brände in Kalifornien, für die Trump nur mangelhaften Katastrophenschutz verantwortlich macht. Allein im bolivianischen Amazonien sind im letzten Jahr 10 Millionen Hektar – eine Fläche größer als Österreich – abgebrannt (2023 waren es „nur“ 6,3 Millionen Hektar), während das Land nun, zur Regenzeit, unter Überschwemmungen leidet. Für Donald Trump ist die Klimakrise aber eine „Erfindung“ und er hat folgerichtig den Austritt aus dem Pariser Klimaschutzabkommen angekündigt, das mit seinem ohnehin inzwischen außer Reichweite geratendem 1,5 Prozent-Ziel am 12. Dezember 2015 beschlossen wurde. Ganz im Sinne der kurz vorher beschlossenen Agenda 2030, den Nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen. Eine weitere Abkehr vom Multilateralismus. Was sonst? Außenminister Marco Rubio hat alle Hilfsprogramme eingefroren. Es wird geprüft, ob sie in Trumps Konzept passen. Einschlägige Kooperationsprogramme zum Minderheitenschutz, Gender, Anti-Rassismus stehen ebenso zur Disposition wie die Unterstützung der in dieser Richtung aktiven NGOs. So erwartet etwa das WOLA die Rückkehr zur sogenannten Mexiko-City-Politik, die US-Hilfen an Organisationen untersagt, die Abtreibung befürworten, um nur ein Beispiel zu nennen. Der US-kolumbianische Anti-Rassismus-Aktionsplan könnten dem zum Opfer fallen. Für die nächsten zwei Jahre wird Trump eine republikanische Kongressmehrheit zur Durchsetzung seiner Politik hinter sich haben. Lateinamerika muss steifen Nordwind im Sinne der Unterstützung autoritärer Strömungen, Menschenrechtsprobleme sowie wirtschaftliche und geostrategische Herausforderungen befürchten. Geopolitik des Zugangs Nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine ist die Geopolitik zurück auf der Agenda. Dabei hat Trump – neben den Drohungen an China – zuletzt Kopfschütteln ausgelöst, indem er ankündigte, Kanada als 51. Bundesstaat integrieren und Grönland kaufen sowie den Panama-Kanal notfalls militärisch besetzen zu wollen: „Make America Great Again“. Der in den USA geborene und emeritierte Politologe der Uni Wien, Mitchell Ash, unterscheidet im Trump-Team Erzkonservative, Milliardäre und Verrückte – und vielfach wurden die geopolitischen Begehrlichkeiten als verrückt abgetan. Ganz so einfach ist es nicht. Trump liebt es Drohkulissen und Druck aufzubauen. Ein weiteres Abschmelzen der Arktis würde neue Routen für die Schifffahrt eröffnen und den Seeweg von Westeuropa nach Asien um zwei Wochen verkürzen. Kontrollieren lassen sie sich von Grönland aus, das zum EU-Mitglied und NATO-Partner Dänemark gehört. Das Trump’sche Getöse mag in einem ersten Schritt Abspaltungstendenzen beflügeln. Über den Panama-Kanal laufen 5 Prozent des Welthandels. Besonders wichtig ist er für die Verbindung der US-Westküste nach Asien. Die USA sind auch stärkster Nutzer mit 40 Prozent der transportierten Container, vor China (21) und Japan mit 14 Prozent. Überhaupt ist der Kanal als solcher ein Produkt des US-Imperialismus. Nach einer militärischen Intervention wurde Panama im Jahr 1903 von Kolumbien abgespalten und noch im gleichen Jahr wurde der Vertrag zum Bau des Kanals unterzeichnet, der dann 1914 fertig gestellt wurde. Panama war mit der Howards Air Force Base bis 1999 das Hauptquartier des für Südamerika zuständigen Southern Command der US-Streitkräfte. Im gleichen Jahr wurde der Kanal aufgrund der Carter-Torrijos-Verträge von 1977 an Panama übergeben. Heute werden an beiden Enden des Kanals die Häfen von einer Tochter der CK Hutchinson Holding mit Sitz in Hong Kong bewirtschaftet, was nicht nur Trump beunruhigen dürfte, zumal es im vergangenen Jahr 2024 wegen Wassermangel zu ernsten Behinderungen und Gerangel um die Passagen kam. Gleichzeitig wurde durch den Beschuss der Huthi-Rebellen auch der Verkehr durch den Suez Kanal behindert. Damit nicht genug wurde im November 2024 durch die peruanische Präsidentin Dina Boluarte, deren linker Vorgänger im Dezember 2022 durch einen kalten Putsch ins Gefängnis befördert worden war, der Hafen Chancay bei Lima eröffnet. Die Eröffnung erfolgte im Beisein des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping. Die staatliche chinesische Schifffahrtsgesellschaft COSCO hatte 3,4 Milliarden USD investiert. Der Sonderbeauftragte Claver-Carone trat mit dem Vorschlag hervor, Waren, die den Hafen von Chancay durchlaufen, mit 60 Prozent Zoll zu belegen. Zusammen mit Argentinien bauen die USA ihrerseits in aller Stille an einer gemeinsamen Marinebasis in Ushuaia, dem Tor zur Antarktis, wie bei einem gemeinsamen Besuch der Southcom Chefin Generalin Laura Richardson, dem US Botschafter und Präsident Javier Milei im April 2024 deutlich wurde. Nach Verlegung des Southcom aus Panama war die Basis auf dem ecuadorianischen Flughafen Manta (1999-2009) das Zentrum der militärischen US-Aktivitäten in Südamerika. Die Verträge wurden jedoch vom damaligen Präsidenten Rafael Correa nicht verlängert. Der aktuelle ecuadorianische Präsident Daniel Noboa würde sie gerne erneuern, was inzwischen aber gegen die Verfassung verstieße. Ferner braucht er die Unterstützung Washingtons bei seiner Politik der harten Hand im Kampf gegen den Drogenhandel, womit er im Weißen Haus offene Türen einrennen dürfte. Generalin Laura Richardson war es auch, die sich in der Vergangenheit mehrfach öffentlich um den Verlust der Kontrolle in Sachen Rohstoffe zu Gunsten Chinas sorgte. Hier geht es insbesondere um Kupfer und Lithium. Beides braucht man für Elektroautos und Tesla-Chef Musk dürfte ein massives Interesse am Lithium-Dreieck Argentinien, Bolivien, Chile haben. Chile ist vor Peru auch der weltgrößte Kupferproduzent. Die weltweit größten Lithium-Reserven liegen in Bolivien. Am 12. Dezember 2018 war in Berlin im Beisein des bolivianischen Außenministers und des deutschen Wirtschaftsministers Peter Altmaier ein Joint Venture zur Lithiumgewinnung gegründet worden. Bis zum November 2019 saß der beteiligte baden-württembergische Mittelständler auf unterschriftsreifen Verträgen, die dann auf Eis gelegt wurden, was zu Spekulationen über eine Beteiligung von Mitkonkurrenten am seinerzeitigen Sturz der Regierung Morales Anlass gab, zumal Elon Musk, darauf angesprochen, in seiner bekannt flapsigen Art später sagte: „Wir stürzen wen wir wollen.“ Zweifellos hätte er die finanziellen Mittel dazu. Sicher ist, dass es auch innerhalb Boliviens Widerstände gegen die Verträge gab. Nachdem eine demokratisch gewählte Regierung Ende 2020 die Regierungsgeschäfte in La Paz übernahm wurden auch Verhandlungen wiederaufgenommen, an denen aber kein europäisches Land mehr beteiligt war, was möglicherweise der zweifelhaften Rolle des damaligen EU-Botschafters León de la Torre bei der Machtergreifung der politischen Rechten geschuldet ist. Investiert haben inzwischen chinesische und ein russisches Unternehmen im bolivianischen Salar de Uyuni. Nicht nur im Lithium-Dreieck hat China die USA überholt. Chinas Handelsvolumen mit Lateinamerika ist zwischen 2000 und 2022 von 12 auf 485 Milliarden USD gestiegen. Stark gewachsen ist auch die Bedeutung chinesischer Kredite. Für Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Paraguay, Peru, Uruguay und Venezuela ist China der wichtigste Handelspartner. Drängen die USA unter Trump nun in ihren alten Hinterhof – gemäß der Monroe-Doktrin von 1823 – zurück? Diese war mit ihrem „hands off Latin America“ gegen den europäischen Imperialismus gerichtet. Heute könnte es darum gehen, Terrain zurück zu gewinnen. Allzu großes Gepolter dürfte dabei nicht hilfreich sein, zumal die progressiven Länder heute besser untereinander vernetzt sind und mit China eine mächtige Alternative haben. So erfolgten beispielsweise auf die aktuellen Drohungen gegen Mexiko und Panama umgehend Solidaritätsbekundungen aus dem Süden. Während die Lateinamerikaner auf Diversifizierung ihrer Beziehungen setzen, hat Europa ihre Avancen stets eher verpuffen lassen und ist im außenpolitischen „Beiwagerl“ Washingtons sitzen geblieben, wo Präsident Trump nun wieder mit der Abkoppelung droht. Wie auch immer: Vieles von dem, was Trump mit Pauken und Trompeten ankündigt, wird sich so gar nicht umsetzen lassen und könnte letztlich auch für die Vereinigten Staaten und seine Oligarchen selbst kontraproduktiv sein. Ungeachtet dessen dürften damit große Probleme für Lateinamerika verbunden sein. Wie ein Blick auf Lateinamerika zeigt: Das Liebäugeln mit dessen Politikstil sowie unilaterale und autoritäre Ansätze führen in die Sackgasse und schaffen mehr Probleme als sie lösen. In einer Zeit multipler und sich verschärfender Krisen ist damit zusätzlich die Gefahr zunehmender Konflikte und eines Abgleitens in den Faschismus verbunden. * Näheres siehe Lessmann, Der Drogenkrieg in den Anden, Wiesbaden, 2016; Bureau for International Narcotics Matters and Law Enforcement Affairs ; UNODC United Nations Office on Drugs and Crime.
von Kristina Dietz und Ulrich Brand 4. Dezember 2024
Es scheint, als ob die Regierung von Nicolás Maduro trotz offensichtlicher Wahlfälschungen, breiter Proteste und internationaler Kritik, z um B eispiel von den Regierungen Kolumbiens, Chiles und Brasiliens, an der Macht bleiben kann. Wie siehst Du die Situation heute in Venezuela? Die aktuelle Situation in Venezuela ist durch das Zusammenwirken verschiedener Ereignisse gekennzeichnet. Erstens haben der Wahlbetrug vom 28. Juli und die Geschehnisse rund um die Wahl die venezolanische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Die Wahlbeteiligung war mit 73 Prozent sehr hoch. Unabhängige Wahlbeobachter:innen achteten darauf, dass es keine Unregelmäßigkeiten gab. Am Ende des Wahltages gab es nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Regierung die Wahl verloren hatte, und zwar eindeutig. Der Mythos, die venezolanische Gesellschaft würde mehrheitlich hinter dem Chavismus stehen, wurde an diesem Tag ein für alle Mal zerstört. Die Regierung hat nicht die geringste Chance, wieder Vertrauen von der Bevölkerung zu erhalten. Maduro hat sich mit der Behauptung, er habe die Wahlen gewonnen, gegen die Bevölkerung gestellt und für den Weg der Repression entschieden. In den Tagen nach der Wahl wurden mehr als 2000 Personen inhaftiert, etwa 100 Jugendliche wurden mit Vorwurf des Terrorismus inhaftiert. Dieses brutale Vorgehen hat Angst, Unsicherheit und Verwirrung in der Bevölkerung ausgelöst. Es ist immer noch unklar, wie der repressiven und autoritären Haltung der Regierung begegnet werden soll. Ein Aufstand der Bevölkerung, der die Regierung bedrohen könnte, ist keine Option. Die venezolanische Gesellschaft verfügt schlichtweg über keinen Organisationsgrad, mit dem er gelingen könnte. Zudem haben die Leute Angst. Zweitens ist das, was die Regierung gerade inszeniert, nicht einfach nur die Nichtanerkennung einer Wahlniederlage unter Beibehaltung der bestehenden institutionellen Ordnung. Was in Venezuela gerade passiert, ist die schrittweise Etablierung einer zunehmend autoritären Rechtsordnung. Die Negation der Wahlniederlage ist ein weiterer Schritt in einem Prozess, der sich bereits länger angekündigt hat. In den letzten Jahren hat die Regierung eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, etwa das Gesetz gegen Hass, das Gesetz gegen Terrorismus oder das Gesetz gegen Faschismus. Mit diesen Gesetzen wurden die demokratischen Grundrechte immer mehr eingeschränkt und die Befugnisse der Regierung und des Präsidenten mehr und mehr ausgeweitet. Mit diesen neuen Gesetzen hat die Regierung die politische Debatte im Land verändert, der Ton ist zunehmend autoritär. Konzepte wie Hass oder Terrorismus werden wahllos eingesetzt, um politische Gegner:innen auszuschalten. Der Vorwurf des Terrorismus kann Haftstrafen von 20-30 Jahren zur Folge haben. Was wir gerade beobachten, ist keine improvisierte Reaktion auf eine Wahlniederlage, sondern die schrittweise Durchsetzung eines autoritären Projektes. Allerdings markiert der 28. Juli 2024 einen profunden Wendepunkt in diesem Prozess: Wenn die Souveränität der Bevölkerung und die Verfassung missachtet werden, dann hört die Demokratie auf zu existieren. Hast Du die Reaktion der Regierung so erwartet oder bist Du davon ausgegangen, dass Maduro einen Sieg der Opposition akzeptieren würde? Die Erfahrungen von Übergängen vom Autoritarismus zur Demokratie in den verschiedenen Teilen der Welt haben gezeigt, dass Übergänge meistens ausgehandelt werden, vor allem dann, wenn es keine Kraft gibt, die in der Lage ist, eine Regierung zu besiegen. Es kommt zu einem paktierten Übergang, einem Pakt zwischen alten und neuen politischen Eliten. Das war in Chile zum Ende der Pinochet-Diktatur so, in Spanien, in Griechenland. In Venezuela gab es im Vorfeld zurückliegender Wahlen Diskussionen hierzu. Diesmal war es anders. Anders als sonst, entschied sich die Opposition für die Teilnahme an den Wahlen. In den Jahren zuvor hatte sie zur Wahlenthaltung aufgerufen mit dem Ziel, die Regierung zu delegitimieren, nach dem Motto, „die Regierung betrügt eh, eine Wahlbeteiligung lohnt sich nicht“. Einige Oppositionelle forderten sogar die USA auf, in Venezuela zu intervenieren. Das war diesmal anders. Die Opposition begann sich zu organisieren und für die Wahl zu mobilisieren. Nachdem den meisten der möglichen Oppositionskandidat:innen die Einschreibung zur Wahl verweigert wurde, blieb am Ende fast zufällig Edmundo González als Präsidentschaftskandidat der Opposition übrig. Zu diesem Zeitpunkt ging es für die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr darum, wer der Kandidat der Opposition war, sondern darum, Maduro zu besiegen. Das politische Programm war vollkommen egal. Und zwar so sehr, dass innerhalb von zwei Wochen eine Person, die der großen Mehrheit der Bevölkerung völlig unbekannt war, viel mehr Unterstützung in der Bevölkerung erhielt als Maduro. González wurde zu dem Kandidat, der Maduro besiegen konnte. Um auf das Thema der ausgehandelten Übergänge zurückzukommen: In den vergangenen Jahren und besonders in den Monaten vor Wahlen, wurde in Venezuela immer viel über die Möglichkeit von Verhandlungen diskutiert. Gefragt wurde, wie sich die Kosten des Verbleibs für die Regierung erhöhen oder die Kosten des Ausstiegs senken ließen. Das gab es diesmal nicht. María Corina Machado [Anführerin der rechten Opposition, der 2023 die Ausübung politischer Ämter für 15 Jahre seitens der Maduro-Regierung untersagt wurde] sprach stattdessen davon, Maduro inhaftiert sehen zu wollen. Die US-Regierung lobte eine Belohnung von 15 Millionen Dollar für Informationen aus, die es erlauben würden, diesen „Kriminellen“ [Maduro] zu fassen. All das machte jeden Raum für Verhandlungen zu. Der Diskurs der Opposition und die US-Politik haben in gewisser Weise dazu beigetragen, dass Maduro sich radikalisierte. Nach dem Motto: „Wenn die Aufgabe der Präsidentschaft bedeutet, dass sie mich inhaftieren, meine Ersparnisse konfiszieren und der Chavismus als Bewegung zerstört wird, dann bleibt nur eins: Bis zum Ende an der Macht festhalten“. Weder in den Positionen der rechtsgerichteten nationalen Kräfte, noch in jenen der US-Regierung eröffneten sich Chancen für einen Verhandlungsübergang. Du sprichst von der Regierung Maduro als von einem „zivil-militärisch-polizeilichen Regime“. Was meinst Du damit? Die Allianz zwischen Regierung, Militär und Polizei wird zunehmend deutlich. Das war vor den Wahlen bereits so, aber eher diskret, nun wird es immer klarer und öffentlich sichtbar. Nach den Wahlen gab es eine gemeinsame Pressekonferenz des Oberkommandos des Militärs und des Oberkommandos der Polizei, die Maduro absolute Rückendeckung gaben und den Wahlsieg Maduros anerkannten. Das bedeutete einen Bruch. Dass die Militärs autoritäre Regierungen vorbehaltlos unterstützen, ist ein trauriger Teil der Geschichte Lateinamerikas. Aber dass die Polizei sich dem öffentlich anschließt ist ein Novum und weist eindeutig in Richtung Autoritarismus. Als Chávez zum ersten Mal für die Präsidentschaft kandidierte, appellierte er an die zivil-militärische Union, denn er war ein Vertreter des Militärs. Er appellierte an die Idee, dass das Militär zusammen mit zivilen Kräften die Gesellschaft verändern könnte. Das Thema der zivil-militärischen Union gab es also schon vor der ersten Wahl von Chávez zum Präsidenten. Aber wenn zu dieser Union jetzt noch die Polizei hinzugefügt wird, ist das so, wie einen Polizeistaat auszurufen. Das ist sehr ernst. Wie ist die wirtschaftliche Situation im Land? Welche wirtschaftlichen Interessen stehen hinter diesem Bündnis? Die allgemeine Situation des Landes ist katastrophal. Es gibt einen bekannten venezolanischen Wirtschaftswissenschaftler, der vor Kurzem zynisch bemerkte, dass die Situation der venezolanischen Wirtschaft sehr stabil sei. Stabil im Graben, sie bewege sich nicht. Das Inlandsprodukt beträgt etwa 20 Prozent dessen, was es vor 10 Jahren war – ein Einbruch von 80 Prozent der Wertschöpfung in zehn Jahren. So etwas kommt nicht mal in Kriegszeiten vor. Und das bedeutet, dass die Beschäftigungslage katastrophal ist. Der Mindestlohn liegt bei drei Dollar im Monat, das Bildungs- und das Gesundheitssystem brechen zusammen. In den Grundschulen kommen die Lehrer:innen manchmal zwei Tage in der Woche zum Unterrichten. An den anderen Tagen versuchen sie, andere Einkommensquellen zu erschließen, um zu überleben. Die Krankenhäuser erfüllen nicht die Anforderungen des öffentlichen Gesundheitswesens, die Zahl der Krankenschwestern, die das Land verlassen haben, ist extrem hoch. Die Löhne reichen nicht zum Überleben. Insgesamt haben 25-30 Prozent der Bevölkerung das Land verlassen. Die jungen Leute haben das Gefühl, dass sie ihrer Zukunft beraubt wurden, dass wir uns in einem Land befinden, in dem es keine Zukunft gibt. Das Land zu verlassen stellt für viele die einzige reale Alternative dar. Aber wenn die Alternative für die Jüngeren nicht der politische Aktivismus, der soziale Kampf und die Konfrontation mit der Regierung ist, sondern das Verlassen des Landes, weil sie die Hoffnung verloren haben, dann ist das dramatisch. Wie viele Menschen haben ungefähr das Land verlassen? Die Schätzungen variieren, sie liegen zwischen sieben und acht Millionen Menschen in einem Land mit vormals 30 Millionen Einwohner:innen. Die Emigration begann langsam vor etwa zehn Jahren und hat in den letzten sechs Jahren stark zugenommen. Die zweitgrößte Stadt Maracaibo ist wahrscheinlich die Stadt mit der höchsten Abwanderungsrate. Manche schätzen, dass bereits 40 Prozent der ehemaligen Bewohner:innen die Stadt verlassen haben. Das hat natürlich Auswirkungen auf die soziale und materielle Infrastruktur, die Gebäude, den sozialen Zusammenhalt. Alles bricht zusammen. Inwieweit zieht der politisch-militärisch-polizeiliche Block auch wirtschaftliche Vorteile aus der aktuellen Situation? Wie gesagt, die Regierung Chávez war eine zivil-militärische Regierung. Das Militär hatte viel Macht und hatte wichtige Positionen inne, was schon damals zu viel Korruption führte. Eine entscheidende Institution in diesem Zusammenhang war in den Jahren der Chávez-Regierung die Stelle, die für den Kauf von Devisen zuständig war. Der Unterschied zwischen dem offiziellen Dollar, der dort ausgegeben wurde, und dem Marktdollar betrug in einigen Fällen 10 zu 1. Wer also an die Devisen des offiziellen Dollars kam, konnte sich bereichern. Mit einem Wechsel im Direktorium der venezolanischen Zentralbank flog das alles auf. Die neue Direktorin begann die Konten zu überprüfen und stellte fest, dass in jenem Jahr die Ausgaben von 20 Milliarden Dollar nicht belegt waren. Es handelte sich angeblich um Importe des Staates, aber es gab keine Belege dafür, dass sie tatsächlich getätigt worden waren. Allein in einem Jahr. Und sie wurde bald entlassen. Natürlich. Mit Maduro hat sich diese Korruption deutlich verschlimmert. Chávez kam aus dem Militär, er hatte von dort politisch-ideologische Unterstützung und seine Führung war anerkannt. Nicht so bei Maduro, der Zivilist aus einer linken Partei war, der Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas. Er musste seine eigene Unterstützung durch das Militär aufbauen, und das tat er im Wesentlichen, indem er die Macht mit dem Militär teilte und viele öffentliche Führungspositionen an das Militär gab. Schon unter Chávez und unter dem Einfluss Kubas wurden viele Unternehmen verstaatlicht, was zur wirtschaftlichen Krise beitrug, denn es fehlte oft ein angemessenes Management, das Interesse an einer Entwicklung der Produktion hatte. Sie wurden staatlich subventioniert. Der Hintergrund der fehlenden Produktivität ist dramatisch: Die Regierung hat in den letzten 25 Jahren nie ein eigenständiges wirtschaftliches Projekt entwickelt. Im Zentrum stand immer die Verteilung des Ölüberschusses. Als diese Überschüsse und die Subventionen nachließen, fehlten die Möglichkeiten eigenständig zu investieren, sich technologisch zu erneuern, Betriebsmittel zu kaufen. Dazu kommen Wirtschaftssanktionen der USA. Beides zusammen hat die Wirtschaft des Landes zerstört. Eine Wirtschaft, die 100 Jahre lang auf der Grundlage von Öl funktioniert hat. Der Staat war der große Verteiler der Öleinnahmen, was die gesamte Wirtschaftstätigkeit aufrechterhielt. Vor ein paar Jahren gab es ein Projekt der Regierung, dem wirtschaftlichen Zusammenbruch mit der Erschließung des sogenannten Orinoco-Bergbaubogens ( Arco Minero del Orinoco ) entgegenzuwirken. Zusätzlich zum Öl sollten mit Bergbau Devisen ins Land kommen. Wie hat sich dieses super-extraktivistische Projekt entwickelt? Erstens wurde erkannt, dass die Ölförderung als Grundlage der Volkswirtschaft erschöpft ist. Die Fördermöglichkeiten nahmen ab, die starken Preisschwankungen auf dem Weltmarkt führten immer wieder zu Einbrüchen bei den Devisen- und Staatseinnahmen. Gleichzeitig gab es seitens der Bevölkerung die Erwartung, dass die Wirtschaft weiter wachsen würde, der Staat genug Mittel hätte und sich die Lebensbedingungen verbessern würden. Doch es wurde, wie gesagt, kein alternatives Projekt zur Schaffung von Wohlstand entwickelt. So etwas benötigt ja auch Zeit. Stattdessen verkündete die Regierung im Februar 2016, den Bergbau massiv zu fördern. Gerechtfertigt wurde das damit, dass der illegale Kleinbergbau verschwinden müsse, Ordnung zu schaffen sei und große Unternehmen, vor allem Goldfirmen aus Kanada, investieren sollten. Das Gold sollte das Öl ersetzen. Aber das ist nie passiert, unter anderem weil den internationalen Unternehmen die Rechtssicherheit fehlte. Die großen Investoren blieben also aus. Stattdessen entwickelte sich ein informeller Goldbergbau im Orinoco-Gebiet, an dem sich Teile des Militär, die kolumbianische Guerilla ELN, kolumbianische Paramilitärs und verschiedene venezolanische nichtstaatliche Akteure bereichern. Unter diesen Akteuren bildeten sich so genannte Syndikate, also nicht staatliche Gewaltakteure heraus, die die Herrschaft in der Orinoco-Region übernahmen. Sie kontrollieren weite Teile der Region, schlichten lokale Streitigkeiten, kontrollieren den Goldbergbau, bestimmen den Preis, zu dem Gold verkauft werden kann. Kommen denn überhaupt internationale Investitionen nach Venezuela? Welche Rolle spielt dabei die US-Regierung? Aktuell kommen nur sehr wenige ausländische Investitionen ins Land. Anfang Oktober war in der Presse zu lesen, dass die Regierung Biden die Genehmigung für Chevron, in Venezuela Öl zu fördern und in die USA zu exportieren, bis April nächsten Jahres verlängert. Die Venezuela-Politik der US-Regierung ist durch kurzfristige und langfristige Interessen gekennzeichnet, die nicht unbedingt übereinstimmen. Zum einen verfolgt die US-Regierung die Strategie der kurzfristigen Stabilisierung der venezolanischen Situation, das heißt größtmögliche Stabilität im Inneren Venezuelas, um die politischen Kosten einer steigenden venezolanischen Migration im US-Wahlkampf gering zu halten. Nur so ist zu erklären, dass die US-Regierung auf den Wahlbetrug nicht mit mehr Sanktionen reagiert hat. Sie weiß, dass weitere Sanktionen zu verstärkter Migration, weiterer Verschlechterung und größerer Instabilität führen würden. Nach den Wahlen könnte sich dies also ändern. Zum anderen bestimmt der langfristige geopolitische Wettbewerb mit China und der Krieg in der Ukraine die US-Außenpolitik in Bezug auf Venezuela. Die Vereinigten Staaten sind daran interessiert, mehr Öl auf den Markt zu bringen, zur Not eben aus Venezuela, damit die europäischen Staaten nicht in die Versuchung geraten, fossile Energien wieder aus Russland zu kaufen. Gleichzeitig haben die Chinesen die Geduld mit Venezuela verloren. Venezuela schuldet China etwa 60 Milliarden Dollar an Krediten, die es seit einiger Zeit nicht bezahlt hat, die es vermutlich auch nicht bezahlen wird. Eine ökonomische Unterstützung aus China gibt es praktisch nicht mehr. Zwar arbeiten auch weiterhin chinesische Unternehmen in Venezuela, etwa im Bereich Infrastruktur oder Ölförderung. Die unterscheiden sich in Bezug auf Ausbeutung aber nicht von anderen transnationalen Unternehmen. Welche Rolle spielen die Rücküberweisungen der Migrant:innen für die Stabilität der Wirtschaft? Ich kenne keine verlässlichen Schätzungen. Ein beträchtlicher Teil der Menschen, die das Land verlassen haben, stammen aus sozialen Schichten mit niedrigen Einkommen. Ihre Einkommensmöglichkeiten in den Ankunftsländern sind begrenzt. Entsprechend gering sind die Überweisungen nach Venezuela. Dennoch ist natürlich der Unterschied für Familien, die zwischen einem Mindestlohn von 3 Dollar pro Monat in Venezuela und einer Überweisung von 50 Dollar liegen, sehr groß. Das Thema Migration hat in Venezuela eine tiefe gesellschaftliche Wunde erzeugt. Alle sind betroffen; da ist etwa das Drama der Großmütter, die davon überzeugt sind, dass sie ihre Enkel:innen nie wieder sehen werden. Eines der Dinge, die die Kandidatin der Opposition, María Corina Machado, in ihrer Wahlkampagne vorgeschlagen hat, ist, dass die Kinder zurückkehren können sollten, damit die Mütter ihre Kinder sehen können. Das ist etwas, was die Gefühle der Menschen direkt anspricht. Die Migration ist eine Realität, die das soziale Gefüge der venezolanischen Gesellschaft und der Familien zerreißt. Wie fühlt sich die enorme Auswanderung im Alltag an? Was bedeutet das für das soziale Gefüge? Für die verschiedenen sozialen Schichten bedeutet es natürlich Unterschiedliches. Die mittleren und oberen sozialen Schichten haben die Möglichkeit zu reisen und können ihre Verwandten besuchen. In den ärmeren Schichten wird es als eine Art Herzschmerz empfunden, dass etwa Enkelkinder geboren werden und die Großeltern sie nie kennen lernen werden. Da ist dieses Gefühl, dass es sich um einen unumkehrbaren Prozess handelt. Was macht aktuell die Opposition und was machen die sozialen Bewegungen? Bei der Opposition handelt es sich um ein heterogenes Spektrum verschiedener Sektoren. Was in Venezuela als Opposition bezeichnet wird ist ein Bündnis rechter Parteien, das Edmundo González Urrutia und María Corina Machado unterstützte. Offensichtlich dachte dieser Sektor, dass den Umfragen und den Mobilisierungen zufolge die Niederlage der Regierung so absolut vernichtend sein würde, dass die Regierung keine andere Wahl hätte, als die Macht abzugeben. Doch, wie bereits weiter oben erwähnt, war das nicht möglich. Sie hatten viele Beobachter:innen bei den Wahlen, Zeugen bei der Abstimmung, Kopien der Protokolle, die sie veröffentlichten, um die Niederlage zu belegen. Aber anscheinend gab es keinen Plan, wie man den Kampf fortsetzen könnte, falls die Regierung so reagieren würde, wie sie reagiert. Also sind sie gelähmt. María Machado traut sich nicht, die Leute zum Straßenprotest zu mobilisieren, weil es zu viele Repressionen gibt. Sie ist quasi untergetaucht, man hat sie schon lange nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Sie ist zwar ständig auf Pressekonferenzen, aber die sind alle virtuell. Es ist schwer zu sagen, wie lange es dauert, bis ihr Aufenthaltsort bekannt wird. Edmundo González hat das Land verlassen und ist mittlerweile in Spanien. Jenseits der rechten Opposition gibt es Sektoren und Gruppen, die die Notwendigkeit der Bildung eines breiten Bündnisses gegen die Regierung erkennen. Die emanzipatorische Linke alleine wird den Widerstand nicht leisten können. Es bedarf einer Art breiten Front zur Verteidigung der Demokratie und der Verfassung. Es gibt einige Schritte in diese Richtung, aber das wird nicht von heute auf morgen geschehen. So hat zum Beispiel einer der Präsidentschaftskandidaten einer Partei, die sich für soziale Fragen einsetzt aber nur sehr wenig Stimmen erhalten hat, eine sehr aktive öffentliche Rolle in den letzten Wochen eingenommen und alle zur Verfügung stehenden rechtlichen Instrumente genutzt, um den Wahlbetrug anzuprangern. Ende September hat er bei der höchsten Berufungsinstanz Venezuelas, der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs, einen Antrag auf Aufhebung der Entscheidung der Wahlkammer gestellt, die den Betrug besiegelte. Dafür hat er ein 80-seitiges Papier vorgelegt, in dem er sehr präzise und minutiös alle Artikel der Verfassung, von Wahlgesetzen und gesetzlich geregelter Verfahrensabläufe auflistet, die während der Wahlen verletzt wurden. Eine kleine, mehr oder weniger repräsentative Gruppe der Zivilgesellschaft hat das Dokument unterschrieben, unter anderem wir als Bürger:innen-Plattform zur Verteidigung der Verfassung in Venezuela. Das hat viel Aufmerksamkeit in den sozialen Medien erzeugt, was sehr gut war. Die Idee im Moment ist, viele kleinere Aktionen zu unternehmen, um die Kritik und den Druck aufrechtzuerhalten, auch wenn es keinen Masterplan zum Sturz einer Diktatur gibt. Es geht vielmehr darum Kanäle offen zu halten, über die die Menschen ihre Unzufriedenheit ausdrücken, ihren Protest formulieren und artikulieren können. Und es geht aktuell darum, überhaupt wieder Vertrauen herzustellen zum Beispiel mit den konservativen politischen Sektoren, zu denen es viel Misstrauen gibt. Es gibt viele Leute, die schnell von Ultrarechten oder Faschismus sprechen. Ich denke, wir müssen stärker differenzieren und sprachlich abrüsten, wenn wir irgendwie eine breite Allianz aufbauen wollen, bei allen politischen Differenzen, die es klarer Weise gibt. Was bedeutet das? Wie kann das gelingen? Aktuell müssen wir es schaffen vom Links-Rechts-Gegensatz zum Gegensatz zwischen Autoritarismus und Demokratie zu kommen. Wenn das erreicht ist, dann werden wir sehen, wie konkrete Alternativen weiter politisch diskutiert werden und welches Land wir wollen. Aber im Moment ist das einfach nicht möglich. Seit 1999 war Venezuela eine Referenz für die globale Linke. Chávez erklärte um 2007 herum das Ziel, den Sozialismus im 21. Jahrhundert zu verwirklichen. Was können wir als internationalistische globale Linke aus den letzten 25 Jahren in Venezuela lernen? Ich würde diese Frage aus zwei Perspektiven beantworten. Die erste bezieht sich auf die Notwendigkeit der Selbstkritik hinsichtlich der Bewertung der venezolanischen Entwicklungen. Rückblickend zeigt sich eine große politische Blindheit gegenüber den Entwicklungen in Venezuela. Das hat viel mit einem dogmatischen Glauben an die Revolution zu tun. Es gab in der Tat schon früh Anzeichen autoritärer Tendenzen, etwa den Messianismus von Chávez, die massive Präsenz des Militärs, die Betonung des Extraktivismus, das Fehlen eines alternativen Produktionsmodells. Später, als Chávez in 2007 die Revolution als sozialistisch deklarierte, identifizierte man Sozialismus mit Etatismus, mit jenen Konsequenzen für die Wirtschaft, auf die ich oben hingewiesen habe. Und mit Folgen für die demokratische Basisorganisation. Die erfolgte in den ersten Jahren der Regierung Chávez oft spontan, von unten, mit oder ohne Unterstützung der Regierung, inklusiv und vielfältig und mit umfassenden sozialen Errungenschaften wie der Alphabetisierung, Zugang zu Wasser, die Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Spätestens die Entscheidung Chávez‘, eine sozialistische Einheitspartei zu gründen, der sich alle Koalitionspartner unterordnen sollten, stellte eine Zäsur dar. Das alles geschah mit einem völligen Mangel an historischem Problembewusstsein, nicht nur hinsichtlich des sowjetischen Sozialismus. In Venezuela gab es in den 1960er Jahren eine sehr ernsthafte Debatte über die Erfahrung des Sozialismus und der Einheitspartei, über Alternativen, über das Verhältnis von Partei und Bewegungen. Diese Diskussion verschwand aus dem politischen Bewusstsein der jüngeren Generationen. Als der Sozialismus des 21. Jahrhunderts ausgerufen wurde, war es, als würde man von Null beginnen, ohne irgendeinen Blick zurück. Wie kann man nach den Erfahrungen des sowjetischen Sozialismus zur Bildung einer Einheitspartei aufrufen? Irgendetwas aus dieser Geschichte muss man doch lernen im Sinne von „wie können wir verhindern, dass dieselben autoritären Tendenzen entstehen“? Als sich die Revolution für sozialistisch erklärte, nahm der kubanische Einfluss in einem außerordentlich Maße zu. Man schickte viele junge Leute zur ideologischen Schulung nach Kuba. Das waren junge Leute, die absolut an den Sozialismus glaubten, daran, dass dies die Wahrheit war und das, was getan werden musste. Ein anderer wichtiger Aspekt ist, wie diese [etatistische] Vorstellung von sozialistisch und revolutionär die demokratischen Basisorganisationen beeinflusste. Nach und nach wurde ein umfassendes Institutionengefüge von oben aufgebaut, mit klaren Vorgaben, wie die Basisorganisationen, etwa die Gemeinderäte gebildet werden sollten. Es wurde ein ganzer Apparat geschaffen, der absolut vom Staat bestimmt und finanziert wurde. Ab wann nahmen diese starken Regulierungen und Vereinheitlichungen zu? Das war ab 2008 noch unter Chávez. Dann kam das Problem hinzu, dass es abgesehen vom Diskurs, kein alternatives Projekt zum Öl gab, das zur Schaffung von Wohlstand führte. Die angesprochenen lokalen Basisorganisationen wurden auch aus den Öleinnahmen finanziert. Und mit den finanziellen Ressourcen erfolgte die politische Loyalität. Die ehemals reiche Erfahrung der Vielfalt basisdemokratischer Organisation wurde schließlich Teil des Staates und der Partei. Ohne jegliche Autonomie. Was sind die Lehren hieraus? Ist ein anderer, demokratischer „Sozialismus im 21. Jahrhundert“ möglich? Ich bin überzeugt, dass wir die Verbindung zwischen links sein und dem Begriff des Sozialismus vollständig aufgeben müssen. Der Sozialismus als historische Erfahrung ist gescheitert – und zwar überall auf der Welt. In Afrika, in Asien, in Europa, in Osteuropa, in Lateinamerika. Und jede dieser Erfahrungen endete ausnahmslos in einem autoritären Regime. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir denken sollten, der Kapitalismus sei für ewig. Die antikapitalistischen Kämpfe und die Kämpfe dessen, was wir historisch als Linke definiert haben, sind viel breiter angelegt. Viele der theoretischen Interpretationen eines Teils des Marxismus, diese Vorstellungen von Stufen, von der Linearität des historischen Seins, des historischen Subjekts, sind gescheitert. Dennoch haben sie zusammen mit dem Lagerdenken und der Logik des Kalten Krieges in Teilen der Linken weiterhin ein großes Gewicht. So unterstützt das Forum von São Paulo, das wichtigste Bündnis linker Parteien und Bewegungen in Lateinamerika, auch weiterhin die Regierung von Daniel Ortega in Nicaragua und natürlich auch die von Maduro. Damit schaden sie der Linken zutiefst. Denn wenn wir eine Regierung „links“ nennen, die autoritär, repressiv, korrupt und extraktivistisch ist, dann stehen wir auf der Seite der Rechten. Ulrich Brand (Universität Wien) und Kristina Dietz (Universität Kassel) führten das Gespräch Anfang Oktober beim Treffen der vom Anden-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanzierten, seit 2011 bestehenden Permanenten Arbeitsgruppe „Alternativen zu Entwicklung“, deren Mitglied auch Lander ist, der darüber hinaus auch der erwähnten Plattform zur Verteidigung der Verfassung in Venezuela angehört. Foto Edgardo Lander © RLS
von Robert Lessmann Dr 26. November 2024
Cali, Baku, Rio. Es war ein Herbst der Gipfel. Der Gipfel ohne Höhepunkte, der Gipfel ohne Ankommen – im Sinne von angemessenen und glaubwürdigen Ergebnissen. Als ob die Welt Zeit hätte. Wirbelstürme in der Karibik und den USA, ja selbst in Südeuropa. Taifune in Taiwan und China. Unwetter kennen keine ideologischen - oder Landesgrenzen. Starkregen und Überflutungen in Nepal, Frankreich, in Spanien mit mehr als 200 Todesopfern, ja auch in Österreich. Brände in Griechenland und in Amazonien. In Indien fällt wegen Smog der Schulunterricht aus. Man soll im Haus bleiben. Die Besucher der COP 16 Artenschutz-Konferenz in Cali wurden dort von Ascheregen begrüßt, immer noch eine Begleiterscheinung der Zuckerrohrernte. Bolivien erlebte die schlimmste Naturkatastrophe seiner Geschichte und rief einen nationalen Notstand aus. Rund zehn Millionen Hektar – eine Fläche deutlich größer als Österreich – im amazonischen Umland sind abgebrannt. Im Vorjahr waren es „nur“ 6,3 Millionen Hektar. Es geht um’s Klima, es geht um die Welt. Und immer wieder geht es dabei um Amazonien, ihre „grüne Lunge“. Es geht darum, Kipppunkte zu vermeiden, points of no return , wo die Schäden irreversibel sind und selbst weitere Schäden hervorrufen. In dieser Lage lassen Berichte der Vereinten Nationen und von NGOs aufhorchen, die vor einer gefährlichen Verknüpfung von Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen und dem Organisierten Verbrechen in Amazonien warnen, wodurch eine neue Dynamik entsteht. Es war bei einem Lokalaugenschein im TIPNIS, einem Natur- und Indígena-Schutzgebiet (Territorio Indígena y Parque Nacional Isiboro – Securé; letzteres sind zwei Flüsse, die das Schutzgebiet eingrenzen) am Fuße der Andenkette, wo die Berge enden und Amazonien beginnt. Damals waren Proteste von Umweltschützern und indigenen Vertretern gegen ein Straßenbauprojekt durch das unzugängliche Regenwaldgebiet von der Größe Tirols die erste große Herausforderung für die Regierung Morales in Bolivien, weil es ohne die verfassungsmäßig vorgeschriebene Konsultation der indigenen Bevölkerung und ohne Umweltverträglichkeitsprüfung in Angriff genommen wurde. Drei indigene Völker leben dort: Yuracaré, Moxeños und Chimanes. In der Tat findet die meiste Entwaldung im Umkreis von fünf Kilometern zu einer Straße statt. Im konkreten Fall befürchteten die Gegner des Projekts insbesondere ein weiteres Vordringen des Kokaanbaus und des Kokaingeschäfts im Schutzgebiet. Der oberste Drogenbekämpfer des Landes, in etwa im Rang eines Staatssekretärs, warnte beim Ortstermin vor Vereinfachungen. Das TIPNIS sei ein komplexes Universum. Siedler, unter ihnen Kokabauern, würden illegal vordringen, indigene Gemeinschaften ihren Lebensraum verteidigen. Es gebe aber auch Indígenaführer die selbst in den illegalen Export von Tropenhölzern verstrickt seien. Unlängst hätten seine Spezialkräfte im TIPNIS ein 24-stündiges Feuergefecht mit Kolumbianern gehabt, die dort ein Kokainlabor betrieben. Ich selbst war der Auffassung, dass jedenfalls das Drogengeschäft die Klandestinität suche und eine Straße eher das Vordringen der Sicherheitskräfte erleichtern würde. Das war im Jahr 2011. Triebkraft Drogenhandel Die Kokainproduktion ist für die daran beteiligten Länder sowohl ein wichtiger – wenn auch illegaler – Wirtschaftsfaktor, als auch ein ernstes gesellschaftspolitisches und ökologisches Problem. Kokablätter werden überwiegend an den Ostabhängen der Anden produziert, wo diese nach Amazonien hin abfallen. Bei der Weiterverarbeitung kommen große Mengen verschiedener Chemikalien zum Einsatz, beispielsweise rund 300 Liter Kerosin pro Kilo Kokain-Hydrochlorid. Die drei wichtigsten Produzenten haben jeweils Flächenanteile an Amazonien: Kolumbien (7 Prozent), Peru (13), und Bolivien (8), ergänzt noch durch Brasilien (59 Prozent), das eine wichtige Rolle beim Transit der fertigen Droge zu den Absatzmärkten spielt. Besonders verheerend wirkt sich die jahrzehntelang vorherrschende Politik der Vernichtung von Kokafeldern aus, teilweise durch Besprühen mit Pflanzengift aus der Luft. In Ermangelung tragfähiger Alternativen zogen die Bauern ins Hinterland und legten neue Felder an. Diese Drogenbekämpfungspolitik ohne Nachhaltigkeit brachte alljährlich tolle Ergebnisse in den Statistiken, doch unter dem Strich liegt die Koka- und Kokainproduktion nach beinahe fünf Jahrzehnten dieser Politik heute auf historischem Rekordniveau. Und während sie einerseits so erfolglos war, dass es das illegale Drogengeschäft nicht einmal nötig hatte mit der Produktion in andere Weltregionen auszuweichen* oder auf die Sorte Epadú, deren Blätter zwar weniger Kokain enthalten, die aber unter dem amazonischen Blätterdach gedeihen kann und insofern kaum aufspürbar ist, hat die Kokavernichtung ohne Nachhaltigkeit im Laufe der Jahre wohl an sich schon Millionen von Hektar (Sub-) Tropischen Regenwald gekostet. Nachdem man in der internationalen Drogenpolitik langsam dabei ist, jahrzehntelang getragene Scheuklappen abzulegen und ganzheitlicher zu denken, öffnete das Drogenkontrollprogramm der Vereinten Nationen (UNODC – United Nations Office on Drugs and Crime) mit seinem World Drug Report 2023 noch eine andere Perspektive: Ein ganzes Kapitel 4 ist dort der Verschränkung verschiedener krimineller Aktivitäten und der Umweltzerstörung in Amazonien gewidmet. Die Drogenökonomie, so heißt es dort, wirke als Antrieb für andere illegale Aktivitäten und Umweltzerstörung: illegale Landnahme, Abholzung, illegalen Bergbau, illegalen Handel mit Tieren und Pflanzen (Wildlife Crime). Geringe staatliche Präsenz, Armut und Korruption in Amazonien wirken als fruchtbare Nährlösung dafür und als Katalysator für Sekundärkriminalität: Steuer- und Finanzdelikte, Korruption, Totschlag, Überfälle, sexuelle Gewalt, Ausbeutung von Arbeitern und Minderjährigen sowie Gewalt, Mord und Totschlag gegenüber Umweltschützern, Menschenrechtlern und indigenen Völkern. Größer als der Umwelteffekt der Drogenproduktion an sich seien die Folgeschäden der dadurch angefachten Drogenökonomie, zum Beispiel die Anlage von Profiten in Viehzucht, Sojaanbau, im Holzgeschäft und in Goldminen, die oftmals zu Konflikten mit der indigenen Bevölkerung führen. Katalysator Gold Vor 35 Jahren durfte ich als Referent bei einer Menschenrechtsorganisation für das Volk der Yanomami kämpfen und habe dabei einen Film des bekannten Survival-Experten Rüdiger Nehberg und des Filmemachers Wolfgang Brög gegen Puristen in unserem Verband verteidigt. Die beiden hatten sich unter dem Vorwand, für einen deutschen Unterweltler Schwarzgeld investieren zu wollen, bei illegalen Goldsuchern eingeschlichen. Resultat war eine bedrückende Dokumentation über Umwelt- und Menschenrechtsverbrechen sowie die Untätigkeit der zuständigen brasilianischen Regionalbehörden. Sie hatten dabei auch Yanomami gefilmt, die dies offensichtlich nicht wollten, was kritisiert worden war. Der Film war zur Hauptsendezeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt worden und ich verteidigte ihn mit dem Argument, ich könne wohl hunderte politisch korrekter Pressmitteilungen schreiben ohne ein vergleichbar großes Publikum zu erreichen. Genützt hat das alles ohnehin nichts. Die Lage ist heute schlimmer denn je. Es ist schwierig, gegen den Markt anzukämpfen. Das wissen nicht nur Drogenfahnder. Der Goldpreis hat sich seit 2008 verdreifacht. Die größten Produzenten sind China (370 Tonnen), Australien (310); Russland (310), Kanada (200), die USA (170). Erst an 6. Stelle folgt mit Mexiko (120) ein lateinamerikanisches Land, an 11. Peru (90) und an 14. Brasilien (60). Brasilien soll über einige der größten Goldvorkommen verfügen, hauptsächlich im Norden, in Amazonien, auf dem Gebiet der Yanomami. Die Goldförderung in den Andenländern und in Amazonien ist häufig illegal – geht also allenfalls indirekt in die Statistik ein – und ist mit großen Umweltverheerungen verbunden. Oft kommt dabei das giftige Schwermetall Quecksilber zum Einsatz. In Brasilien dürfte die Hälfte der Goldförderung illegal sein und findet – zum Beispiel im Yanomami-Gebiet an der Grenze zu Venezuela – unter Kontrolle der großen brasilianischen Drogenorganisationen, wie dem Primeiro Comando da Capital (PCC) statt, das den Schürfern „Schutz“ anbietet, „Steuern“ verlangt, Schürfstellen kontrolliert und manchmal Maschinen stellt und wartet. In Peru und Bolivien mischt das Comando Vermelho mit, die älteste brasilianische Drogenorganisation, die 1979 in Rio gegründet worden war. Zwischen 2011 und 2021 sei es in Brasilien zu einem Anstieg des Abbaus auf indigenen Territorien um 625 Prozent gekommen, besonders stark seit 2019. Während der Covid-19-Pandemie sei es bei abnehmenden Kontrollen und gekürzten Budgets zu einem regelrechten Goldrausch gekommen, berichtet das UNODC. Von Januar 2019 bis Dezember 2022 war dort der rechtsextreme Jair Bolsonaro Präsident, dem Indianerschutzrechte und Umweltschutz wenig und die Erschließung der „grünen Hölle“ Amazoniens viel bedeuten. Mit desaströsen Folgen, verheerenden Ausbrüchen von Unterernährung und Krankheiten. Besonders betroffen sind die Schutzgebiete der Yanomami mit etwa 30.000 Menschen. 50-90 Prozent von ihnen leiden unter Quecksilbervergiftungen unterschiedlichen Grades sowie unter der Zunahme von Gewalt. In Kolumbien, Peru und Bolivien findet man Gold häufig in den Flüssen an den Ostabhängen der Anden, wo auch die wichtigen Kokaanbaugebiete liegen. In allen diesen Gebieten ist ein signifikanter Anstieg der Mord- und Totschlagsraten festzustellen. Der Preis für einen Barren (ein Kilogramm) liegt mit rund 82.000 € rund doppelt so hoch wie der für ein Kilo Kokain zu Großhandelspreisen in europäischen Metropolen. Wobei mit Kokain im Straßenverkauf dann doch noch weit höhere Preise erzielt werden. Gold stinkt nicht. Im Vergleich zu Kokain ist es viel leichter verkehrsfähig. Ideal zur Geldwäsche. Kolumbien – Ecuador – Connection Machtvolle Drogenorganisationen sind besonders im Dreiländereck zwischen Brasilien, Kolumbien und Peru aktiv, einschließlich in und um die benachbarten Städte Leticia in Kolumbien und Tabatinga in Brasilien sowie Santa Rosa de Yavarí in Peru. Mit ihrer Kontrollfunktion für das Kokaingeschäft und dem Reichtum an ausbeutbaren Ressourcen weist diese Region heute möglicherweise die höchste Dichte von Gruppen der Organisierten Kriminalität auf, vermutet das UNODC. Menschenrechtsorganisationen beziffern die Mord- und Totschlagsrate in Tabatinga mit 106,6, in Leticia mit 60 und in Manaus mit 45 (pro 100.000 Einwohnern; in Deutschland liegt sie bei 0,8, in Österreich bei 0,9). Nördlich davon fließt der Río Putumayo, der weiter östlich in den Amazonas mündet und im Oberlauf über hunderte von Kilometern die Grenze zwischen Kolumbien und Peru beziehungsweise Ecuador bildet. Der Vektor des Kokaingeschäfts verläuft hier stromaufwärts nach Ecuador, das Anfang 2024 in einer Welle der Gewalt versank, weil sich dort die Statthalter mexikanischer Organisationen blutige Revierkämpfe lieferten. Ein Vierteljahrhundert militarisierter Drogenkrieg und Milliarden von US-Hilfen im Rahmen des Plan Colombia haben nichts daran geändert, dass laut dem World Drug Report des UNODC 230.028 Hektar Koka (von insgesamt rund 300.000) in Kolumbien angebaut werden und nach wie vor auch etwa zwei Drittel der Kokainlabore in Kolumbien entdeckt und zerstört werden – fast die Hälfte davon in den südlichen Departments Putumayo und Nariño im Grenzgebiet zu Ecuador. Die Verlagerung des Kokaanbaus in den Süden wird ebenso als Konsequenz des Plan Colombia angesehen wie der Friedensprozess mit der ältesten Guerilla, den 1964 gegründeten Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), vor einem Jahrzehnt. Präsident Juan Manuel Santos bekam dafür im Oktober 2016 den Friedensnobelpreis. Der Friedensplan wurde jedoch nur halbherzig vollzogen. Nachfolger Iván Duque lehnte ihn ab. Hunderte früherer Guerillakämpfer, die ihre Waffen abgelegt hatten, wurden später ermordet. Verschiedene ihrer frentes (Fronten i.S. von Abteilungen) , die große Autonomie genossen , hatten sich schon vorher mit dem Drogengeschäft finanziert und machten einfach weiter. Letztlich gelang es dem kolumbianischen Staat nicht, in den früheren Guerillagebieten rechtsstaatliche Präsenz zu schaffen. Durch den Einsatz verbesserter Sorten und Anbaumethoden soll die Ernte nach Berechnungen des UNODC um durchschnittlich 24 Prozent angestiegen sein und durch Optimierung der Weiterverarbeitung auch der Kokainertrag. Solche neuen Hochproduktivitätszonen befinden sich unter Kontrolle rechter Narcoparamilitares , FARC-Dissidenten beziehungsweise des noch aktiven Ejercito de la Liberación Nacional ( ELN ) , einer weiteren Guerilla. Alle zusammen werden sie Grupos Armados Ilegales ( GAI ) genannt. 35 Prozent der Kokaanbaufläche Kolumbiens befinden sich in Zonen, in denen GAI präsent sind. Diese arbeiten fallweise zusammen oder bekriegen sich. Aber alle sind um strikte Kontrolle des Produktionsprozesses bemüht. Im Department Putumayo lassen sich sechs Gruppen identifizieren, die nahezu umfassende Kontrolle ausüben. Die größten sind ehemalige f rentes der FARC , das Comando Frontera und die Frente Carolina Ramírez – und sie bekämpfen sich. Amazon Underworld Im Rahmen des 20. Treffens der Mitgliedsstaaten der UN Konvention gegen das Organisierte Verbrechen treffe ich im Herbst 2024 den NGO-Vertreter Raphael Hoetmer und zwei Indígena-Vertreter aus dem peruanischen Amazonien, die ihre Namen besser nicht veröffentlicht wissen wollen. In ihre Heimatdörfer trauen sie sich nicht zurück. Das Hauptproblem dort sei der Kokainhandel, erzählen sie. Die drei sind in die Wiener UNO-City gekommen, um das Projekt Amazon Underworld vorzustellen, an dem mehrere NGOs und Investigativjournalisten teilgenommen haben. Amazon Underworld machte unter anderem mit Interviews von Behördenvertretern, Sicherheitskräften, Indígenas und verschiedenen illegalen Akteuren vor Ort dort weiter, wo der UN-Bericht aufhört, um zu einem kompletteren Bild der Dynamik des Geschehens zu kommen. In ihrem Bericht erscheint Amazonien als Karte, in der die Grenzgebiete von Brasilien, Französisch Guayana, Surinam, Venezuela, über Kolumbien, Ecuador, Peru bis Bolivien und Paraguay von einem dicken Halbmond verschiedener illegaler Aktivitäten und Akteure umgeben sind. Aus der Nähe besehen handelt es sich dabei um einen bunten Flickenteppich krimineller Akteure; selten besteht Hegemonie, häufig gibt es Konflikte. In 70 Prozent der untersuchten Gemeinden waren irreguläre bewaffnete Gruppen präsent: kolumbianische Guerillas, brasilianische kriminelle Organisationen, venezolanische und peruanische Banden, nicht selten auch unter Duldung oder in Komplizenschaft mit den lokalen Behörden. Dabei komme es auch zu Fällen moderner Sklaverei und Menschenhandel. Die dort lebenden indigenen Gemeinschaften und ihre Territorien spielen eine fundamentale Rolle beim Schutz der Regenwälder und sind gleichzeitig den Attacken der Organisierten Kriminalität ausgesetzt. Im letzten Jahrzehnt, so der Bericht in der Einleitung, sei Amazonien zu einer der gefährlichsten Regionen Lateinamerikas geworden und die marginalisierten Gemeinschaften litten am meisten unter der Gewalt. In Brasilien seien indigene Gemeinden systematisch zum Opfer gewalttätiger Invasionen von Goldsuchern geworden, während man in den neun amazonischen Departments Kolumbiens seit 2020 43 Massaker dokumentiert habe und bewaffnete Gruppen die ländlichen Gemeinden terrorisierten. In Peru rekrutieren Drogenhändler indigene Kinder, um in den Kokapflanzungen zu arbeiten. Guerillagruppen schicken ganze Familien in die illegalen Goldminen. Laut der Menschenrechtsorganisation Global Witness sei einer von fünf Morden, die im Jahr 2022 weltweit gegen Umweltschützer oder Verteidiger ihres Territoriums verübt wurden, in Amazonien geschehen, nämlich 39. Rember Yahuarcani aus dem Volk der Huitoto im peruanischen Amazonien wies auf der Biennale 2024 in Venedig in einem seiner farbenfrohen Großgemälde (Titelbild) darauf hin, dass dort zwischen 2013 und 2023 insgesamt 32 indigene Führer und Führerinnen von Eindringlingen, Drogenhändlern und der Holzmafia ermordet wurden. Ihre amazonische Heimat sei für Indigene einer der gefährlichsten Orte. Eine entscheidende Rolle spielen Straßen. Wie erwähnt, findet die meiste Entwaldung im Umkreis von fünf Kilometern zu einer Straße statt – und in Amazonien entfallen auf einen legalen Straßenkilometer drei illegale. Aber auch andere Infrastruktur erleichtert das Vordringen: illegale Landepisten, desgleichen Flüsse, bevorzugt zur Regenzeit. In Gegenden, wo indigene Territorien fragmentiert, von Straßen durchschnitten oder wirtschaftlich und sozial sehr von städtischen Märkten abhängig sind, wachsen illegale Märkte rasch und machen die indigenen Völker sehr verwundbar, mit der Gefahr einer Desintegration ihrer Gemeinden. In den peruanischen Departments Ucayali und Madre de Dios beispielsweise, wo alle sozialen und politischen Aktivitäten sich mit der illegalen Ökonomie überlappen und sich gegenseitig unterstützen, werden die indigenen Gemeinden dieser Dynamik unterworfen, und wenn sie in der Lage sind Widerstand zu leisten, werden sie bis zu dem Punkt isoliert, dass der Zugang zu ihrem Territorium gefährdet ist. Der Preis, den indigene Organisationen und ihre Führer bezahlen, ist sehr hoch. Sie sind mit Drohungen gegen sich und ihre Familien konfrontiert. Fälle von Gewalt gegen sie werden häufig nicht gut untersucht und bleiben straflos, warnt Amazonia Underworld. Panorama der kriminellen Akteure Das Jahr 2016 brachte in mehrfacher Hinsicht neue kriminelle Dynamiken. Das Friedensabkommen mit der ältesten Guerilla des Halbkontinents, den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), führte dazu, dass Tausende ihre Waffen niederlegten. Die Guerilla hinterließ vielerorts ein Machtvakuum, das nicht mit rechtsstaatlicher Präsenz gefüllt wurde, sondern von rechtsextremen Paramilitärs, kriminellen Banden und FARC-Dissidenten. In Venezuela wurde 2016 ein Gesetz zur Erschließung des Grenzgebiets zu Kolumbien, Brasilien und Guyana verabschiedet, des sogenannten Arco Minero Orinoco . Doch die Regierung Maduro ließ keine Initiativen zur Erschließung durch legalen Bergbau folgen. Das Vakuum füllten venezolanische kriminelle Gruppen, häufig in Kooperation mit lokalen Behörden und Sicherheitskräften, aber auch FARC-Dissidenten und ELN-Guerilleros, die schon länger beim Drogentransit in Venezuela tätig waren. Ebenfalls 2016 wurde auch ein Pakt zwischen drei großen brasilianischen Gruppen der Organisierten Kriminalität aufgekündigt: dem Primero Comando da Capital , dem Comando Vermelho und der Familia do Norte , was zu Revierkämpfen führte. Mit Kleinkriminellen überfüllte Gefängnisse bildeten eine ideale Rekrutierungsquelle. Die kolumbianische ELN hat eine strategische Präsenz zu beiden Seiten der venezolanischen Grenze. Sie kontrolliert die illegale Goldförderung in den venezolanischen Bundesstaaten Amazonas, Bolívar und Delta Amacuro, wie auch die Routen des Drogenhandels nach Guyana und Brasilien entlang des Cayuní-Flusses und des Río Negro. Die FARC hatten historisch eine starke Präsenz im kolumbianischen Amazonien, wo sie die Entwaldung begrenzten, weil sie den Schutz des Blätterdaches suchten. FARC-Dissidenten tun dies wieder. Die Entwaldung ist 2022/23 in den Departments Meta, Caquetá und Guaviare drastisch zurückgegangen. Dort operieren La Segunda Marquetalía (unter Luciano Marín Arango alias Iván Marquez) und Estado Mayor Central – FARC (unter Néstor Gregorio Vera Fernandez alias Iván Mordisco). In Venezuela arbeitet die Frente Acacio Medina im Drogentransfer. Das Primero Comando da Capital (PCC) wurde 1993 im Gefängnis in São Paulo gegründet und ist inzwischen das wichtigste Drogenunternehmen Brasiliens. Traditionell wurden Drogen aus Bolivien und Peru über Paraguay importiert. Mittlerweile ist das PCC auch ins Grenzgebiet zu Venezuela expandiert, wo es über 2.000 Mann verfügen soll und Drogengewinne in die Goldförderung steckt. Verschiedene Quellen berichteten Amazon Underworld, dass das Engagement des PCC dort Supervision, Steuererhebung sowie Dienstleistungen einschließlich Bordellen umfasst. Das Comando Vermelho (CV) ist das älteste Drogenunternehmen Brasiliens. Es wurde 1979 in Rio gegründet und ist in Paraguay und Kolumbien aktiv sowie neuerdings auch in Bolivien und Peru. Die Familia do Norte (FDN) als Drogenorganisation mit Sitz in Manaus wurde in der zweiten Hälfte der Nullerjahre im Zuge von Auseinandersetzungen weitgehend zerrieben und ist teilweise im CV aufgegangen. In Ecuador bekriegen sich Los Lobos und die Choneros , die im Drogenexport tätig sind und jeweils mit unterschiedlichen mexikanischen Organisationen Beziehungen unterhalten. Schlussfolgerungen Amazonien wird im Zusammenhang mit der Klimakrise und einem möglichen ökologischen Kipppunkt diskutiert. Doch bis zu welchem Punkt muss Amazonien vom Organisierten Verbrechen durchdrungen sein um zu sagen, dass die illegalen Ökonomien die Oberhand haben? In manchen Regionen übersteigen die Gewinne aus illegalen Geschäften bereits die behördlichen Budgets. Mit schwacher Präsenz und geringen Mitteln ist der Kampf dagegen ein Ding der Unmöglichkeit, resümiert der Bericht von Amazon Underworld. Seine Empfehlungen beziehen sich auf Kooperation und Informationsaustausch, Stärkung der Grenzsicherheit. Whistleblower und Zeugen müssten geschützt und Korruption bekämpft werden. Die Drogenfahndung einschließlich der zu ihrer Herstellung benötigten Chemikalien sollte intensiviert werden. Umweltprobleme und Gewaltakte sollten in einer grenzüberschreitend zugänglichen Datenbank unter besonderer Berücksichtigung der Erfassung Organisierter Kriminalität dokumentiert werden. Generell sei ganzheitliches Denken erforderlich. Umweltprobleme und Sicherheitsfragen müssten zusammen gedacht werden, Umweltschutzkonferenzen und Sicherheitskonferenzen zusammengeführt. Besonders wichtig sind der Schutz und die Stärkung indigener Gemeinschaften. Der Bericht empfiehlt ferner die Ausweisung grenzüberschreitender Schutzgebiete. Immerhin ein Lichtblick: Mit Gustavo Petro (Kolumbien) und Lula da Silva (Brasilien) haben sich die Präsidenten der wichtigsten Staaten Amazoniens – was Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft betrifft – zu mehr Schutz und Zusammenarbeit bekannt. Www.amazonunderworld.org www.infoamazonia.org www.amazonwatch.org * Koka kann überall dort gedeihen, wo auch Kaffee wächst; so war holländisch Indonesien einstmals ein wichtiger Produzent.
von Robert Lessmann Dr 13. November 2024
Was passiert mit den einstigen Hoffnungsmodellen Lateinamerikas? Kuba und Venezuela läuft die Bevölkerung davon. In Nicaragua herrscht Ortega wie ein abschreckender Diktator. Und in Bolivien arbeitet der erfolgreichste Präsident, den das Land je hatte, heute mit Nachdruck an der Zerstörung seines Erbes und seines Ansehens. Die Berichterstattung unserer Medien – sofern sie von diesen Ländern überhaupt berichten – goutiert Wirtschaftskrisen und die Glaubwürdigkeit von Wahlen. Selten geht es darum, wie es den Menschen geht. Die Solidaritätsbewegung, Freunde und Sympathisanten sehen konsterniert zu – und schweigen. Tobias Lambert blickt aus linker Perspektive hinter die Kulissen Venezuelas, das mit seinem „bolivarianischen“ Ansatz im neuen Jahrtausend ganz Lateinamerika mitreißen wollte. Er bereist das Land seit mehr als 20 Jahren und berichtet darüber. Kenntnis- und detailreich rekapituliert er die Vorgeschichte und den politischen Prozess unter Hugo Chávez (im Bild auf der Klimakonferenz von Cochabamba, 2010) und danach, bespricht Wahlergebnisse und politische Trends auf der Linken wie auf der Rechten. An vielen Stellen vermisst man im Text regelmäßige Jahreszahlen, die helfen würden, in der Komplexität den roten Faden nicht zu verlieren. Eine Zeittafel wäre eine hilfreiche Ergänzung bei allen weiteren Auflagen. Drei Linien treten in Lamberts Analyse als Erklärung hervor: erstens der fragile Extraktivismus. Man könnte auch sagen, ein auf die Einkommen aus dem Export nicht erneuerbarer Rohstoffe (Erdöl im konkreten Fall) gestützter politischer und gesellschaftlicher Voluntarismus. Man hat zwar immer gewusst: „hay que sembrar el petroleo“ (man muss die Öleinnahmen säen, die Wirtschaft diversifizieren), es aber nicht getan. Die Korruption im Land wurde durch den Exportboom noch gefördert. Mit sinkenden Weltmarktpreisen bracht die Krise aus. Zweitens: Die zentrale Rolle einer charismatischen Führungsperson, auf die sich das Projekt stützt und ins Wanken gerät, wenn diese wegbricht. Je stärker das Modell wirtschaftlich und politisch unter Druck geriet, desto mehr reagierte es mit antidemokratischen und repressiven Praktiken, intransparenten Privatisierungen, Teilliberalisierungen unter Beibehaltung staatlicher Kontrollen, steuerfreien Importen von denen eine neue, sogenannte „Bolibourgeoisie“ profitierte. Vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist nur gelegentlich noch die Rede. Und drittens die unverbrüchliche Feindschaft der alten Eliten, der nationalen wie der internationalen. In diesem Zusammenhang wird in Lamberts Buch deutlich, wie desolat und zerstritten die venezolanische Opposition zumeist war (und ist), und wie sie trotzdem von Washington und seinen Verbündeten unterstützt wird, egal wie chaotisch sie daherkommt. Man denke nur an die Anerkennung der „Präsidentschaft“ von Juan Guaidó. Nebenbei wirft das auch ein Schlaglicht auf viel kritisierte Allianzen mit Schurkenstaaten wie dem Iran oder Weißrussland. Mit wem, so könnte man sich in europäischen Hauptstädten fragen, sollte ein Präsident denn Beziehungen anknüpfen, auf den Washington ein millionenschweres Kopfgeld aussetzt? Das Buch behandelt zuletzt sogar noch das umstrittene Wahlergebnis von 2024. Regierung und Opposition reklamieren den Wahlsieg für sich. Washington und seine Verbündeten glauben der Opposition. Beide Seiten behaupten, dass sie ihn dokumentieren können. Wer es definitiv und lückenlos könnte, wäre die Regierung Maduro, woran Lambert keinen Zweifel lässt. Dass sie es nicht tut, schmälert einmal mehr ihre Glaubwürdigkeit, nun auch für die befreundeten Regierungen in Kolumbien und Brasilien, die von der venezolanischen Krise ja mit betroffen sind. Das katastrophale Patt (Antonio Gramsci) zwischen einer repressiv sich an der Macht haltenden Regierung und einer Opposition, von der leider auch nichts zu erwarten ist, können nur die Venezolanerinnen und Venezolaner selbst aufheben. Und darauf besteht vorerst leider wenig Hoffnung. Wie auch immer: Wer zu Venezuela mitreden will, sollte Lamberts Buch lesen. Tobias Lambert: „Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez“, Mandelbaum Verlag, Wien, 2024, 238 S., € 23.-
von Robert Lessmann Dr 15. August 2024
Vorweg: Außenpolitik spielt im US-Wahlkampf eine Nebenrolle und Lateinamerika so gut wie gar keine, sieht man von Migration, Drogen und Rohstoffen (Öl, Lithium) ab. Das ist nicht neu: Coletta Youngers, bis vor Kurzem jahrzehntelange Mitarbeiterin des renommierten Washington Office on Latin America nennt auch die Lateinamerikapolitik der Regierung Biden-Harris „awful“ (heillos – um hier die schwächstmögliche Übersetzung zu gebrauchen). Ausgerechnet General Laura Richardson, Chefin des für Südamerika zuständigen US Southern Command der Streitkräfte, beklagte im letzten Jahr mehrfach öffentlichkeitswirksam, dass die Vereinigten Staaten im Ringen um Rohstoffe ins Hintertreffen geraten seien, insbesondere im Lithiumdreieck: Argentinien, Bolivien, Chile. Ziel müsse es sein (wörtlich) „to box out our adversaries, box out our competitors“ (Widersacher und Konkurrenten wegzuboxen). Diplomatie stellt man sich in den betroffenen Ländern anders vor. Vizepräsidentin Harris führte eine Initiative zur Eindämmung des Migrantenstroms an und konnte in diesem Zusammenhang mehr US-Hilfen für zentralamerikanische Länder durchsetzen sowie Direktinivestitionen von US-Unternehmen einfädeln. Auch wenn für viele NGOs, die in den USA zu diesem Thema arbeiten, die ganze Strategie fragwürdig ist: Der Ansatz, in Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren Fluchtursachen zu bekämpfen, unterscheidet sich deutlich von der menschenverachtenden Mauerbaurhetorik der Vorgängerregierung unter Trump. Harris gilt als besonnene, abwägende Politikerin, die langfristig denkt und nachhaltige Lösungen anstrebt statt publicityträchtige Schnellschüsse. Den frischgebackenen guatemaltekischen Präsident Bernardo Arévalo hatte sie im Weißen Haus empfangen. Harris war allem Anschein nach direkt in die Verhandlungen zum Häftlings-/Geiselaustausch mit Moskau eingebunden, was ein Plus auf der Habenseite für sie und Präsident Biden darstellt. Und sie ist deutlich kritischer gegenüber der israelischen Kampagne in Gaza und lauter in ihrer Forderung nach humanitärer Hilfe für die Menschen dort. Doch sicherlich kann sie nicht allzu kritisch gegenüber ihrer eigenen Regierung sein. Und was in näherer Zukunft mit dem Pulverfass Nahost geschehen wird, weiß niemand. Kamala Harris prägte den Begriff „smart on crime“ (klug oder clever bei der Kriminalitätsbekämpfung), galt als Staatsanwältin aber eher als Hardlinerin. Zum Thema Drogen hat sie sich nicht explizit geäußert. Man darf annehmen, dass sie hier für Kontinuität der Biden-Administration steht und eine Fortsetzung der Angebotsbekämpfung. Und obwohl hier heutzutage Fentanyl und andere künstliche Opioide mit jährlich mehr als 100.000 Toten durch Überdosen klar das Hauptproblem darstellen – sie sind die häufigste Todesursache für Männer zwischen 18 und 50 Jahren in den USA und Opioide werden überwiegend aus Mexiko importiert – gilt das auch für die klassischen, pflanzengestützten Substanzen wie Kokain, wobei hier die Hoffnung besteht, dass eine über Jahrzehnte ergebnislose Politik mit hohen Nebenkosten für die betroffenen Länder stillschweigend einschläft. Seit Beginn der Opioid-Krise im Jahr 2020 starben laut World Drug Report der UN rund eine halbe Million Menschen an Überdosen – und auch wenn hier aktuell die Zahlen leicht rückläufig sind, bleibt die Situation sehr ernst und die Verfügbarkeit noch potenterer illegaler Drogen, sogenannter Nitazene, gibt zu neuer Besorgnis Anlass (UNODC, World Drug Report 2024). Außenminister Antony Blinken sprach bei seiner Intervention auf der UN Commission on Narcotic Drugs im vergangenen Frühjahr in Wien ausschließlich über die Opioidkrise in seinem Land. Unterdessen ist im aktuellen Wildlife Crime Report desselben UNODC (ebenfalls 2024) zu lesen, dass mexikanische Drogenorganisationen auch im illegalen Fischfang involviert sind, wo sie einen Teil ihrer Gewinne investiert haben. Würde man die Dinge in der Zusammenschau betrachten, könnte man sehen: Ob Kokain oder Fentanyl, längst sind wichtige Akteure zu multidivisionalen kriminellen Unternehmen geworden, denen mit den herkömmlichen, eindimensionalen Ansätzen nicht beizukommen ist. Wann besinnt man sich auf Giovanni Falcone, der im Fall der italienischen Mafia forderte: „ Follow the money!“ ? Und zwar konsequent. Damm gegen Rechts Als sich Anfang Juli die Präsidenten der MERCOSUR-Mitgliedsländer in Asunción/ Paraguay trafen, um die Aufnahme Boliviens als Vollmitglied der Wirtschaftsgemeinschaft zu feiern, fehlte Argentiniens Javier Milei. Der selbsternannte Anarchokapitalist nahm lieber neben Jair Bolsonaro, dessen Sohn Eduardo (der als Bindeglied zu rechtsextremen Parteien Europas fungiert) und dem gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Antonio Kast aus Chile an einem zeitgleich stattfindenden Treffen der Confederación de Acción Política Conservadora (CPAC) im brasilianischen Santa Catalina teil. Die internationale Rechte ist vernetzt. Ebendort verkündete der notorische Speiseöl-Tykoon Branco Marinkovic seine Absicht, bei den im nächsten Jahr in Bolivien angesetzten Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Marinkovic ist eine langjährige Schlüsselfigur der extremen Rechten in Bolivien. Er war dort wesentlich am Zivilputsch von Santa Cruz 2008 beteiligt und nach der Machtergreifung der Rechten (2019) im Jahr 2020 kurzzeitig auch Wirtschaftsminister in der sogenannten „Interimsregierung“ von Jeanine Añez. Bedauert wurde in Santa Catalina die Abwesenheit des wahlkämpfenden Expräsidenten Donald Trump, doch dessen ehemaliger Chefstratege Steve Bannon, der seit 1. Juli eine Haftstrafe wegen Missachtung des Kongresses absitzt, gilt als Koordinator rechter Netzwerke weltweit. Der Horror vor einer erneuten Präsidentschaft von Donald Trump ist womöglich die größte Stütze der demokratischen Kandidatin, gerade bei frustrierten, aber politisch wachen jungen Wählerinnen und Wählern, um deren Reaktivierung an den Wahlurnen sie sich besonders bemüht. Auch wenn die progressiven Kräfte eines Tages womöglich von einer Harris-Adminstration enttäuscht sein werden – so, wie sie es auch von Clinton und Obama waren –, ist es doch das Gebot der Stunde, einen weiteren Vormarsch der gesellschaftspolitisch reaktionären, neonationalistischen und xenophoben Kräfte von Putin über Orban und Erdogan bis hin zu Bolsonaro und eben Trump zu verhindern. Da steht einiges auf dem Spiel – wie wir wissen auch in europäischen Ländern wie Frankreich oder Österreich. Unterschätzte Vizepräsidentschaft In den Vereinigten Staaten kursiert ein Witz: Fragt ein Mann den anderen: „Was ist eigentlich aus Ihren Kindern geworden? Man hat lange nichts von ihnen gehört!“ Antwort: „Der eine ist Matrose, der andere Vizepräsident.“ Eine Vizepräsidentschaft gilt als undankbarer Job, der wenig Aufmerksamkeit verspricht. Dem oder der Vize werden gerne unlösbare Aufgaben übertragen. Insofern mag Kamala Harris als Präsidentin im Amt womöglich für viel mehr stehen als für eine ehemalige Staatsanwältin, die nun die erneute Präsidentschaft eines verurteilten Straftäters verhindert. Eine Vizepräsidentschaft ist jedenfalls alles andere als das Tor in die politische Versenkung. Immerhin 15 von 49 US-Vizepräsidenten wurden später Präsident. Manche durch Tod, wie Lyndon B. Johnson für den ermordeten John F. Kennedy, oder wegen eines Rücktritts, wie Gerald Ford für Richard Nixon. Der wiederum hatte es als ehemaliger Vize im zweiten Anlauf geschafft, zum Präsidenten gewählt zu werden. George Bush (sen.) schaffte es nach zwei Amtszeiten von Ronald Reagan direkt, Joe Biden nach einer Amtszeit von Donald Trump. Unter den bisher 49 Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten ist Kamala Harris die erste und einzige Frau. Sie hat gute Chancen, die sechzehnte ehemalige Vizepräsidentin unter dann 47 Präsidenten zu werden und damit die historische erste Frau in diesem Amt. Ihren Vizepräsidentschaftskandidaten dürfte sie nach wahlstrategischen Überlegungen ausgewählt haben. Jedenfalls wird das gegenwärtig so diskutiert. Doch Tim Walz mag darüber hinaus eine Rolle spielen, wenn es darum geht, in einer Harris-Walz-Administration stärker auf Diplomatie zu setzen statt auf militärischen Interventionismus. Seinen Wahlkampf zum Kongressabgeordneten führte er 2006 in Opposition zum Irakkrieg. Später führte er im Kongress eine Gruppe von Demokraten an, die Präsident Barack Obama vor einem Eintritt in einen Krieg in Syrien warnte, und er trat für eine Resolution zur Beendigung der Unterstützung Saudi Arabiens bei dessen Krieg im Jemen ein. Daneben unterstrich er anlässlich der Öffnungspolitik unter Präsident Obama 2016/17 die wechselseitigen Chancen eines möglichen Handels mit Kuba. Dazu kam es dann freilich nicht. Kamala Harris’ National Security Advisor Philip H. Gordon schließlich beschreibt in seinem letzten Buch „Losing the Game: The False Promise of Regime Change in the Middle East“ von 2020, wie alle US-Versuche, im Mittleren Osten Regimewechsel herbeizuführen, scheiterten. In der Einführung zu diesem Buch nimmt er Bezug darauf, dass auch alle diesbezüglichen Versuche im 20. Jahrhundert in Lateinamerika im Fiasko endeten. Dollardemokratie Dass der Zustand der Demokratie in den Vereinigten Staaten besorgniserregend ist, weiß man nicht erst seit der Kandidatenwahl bei den Republikanern, die von sich selbst gern als von der „Grand Old Party (GOP)“ sprechen, und dem Sturm auf das Kapitol nach der von Trump verlorenen Wahl. Während man sich weltweit als Wächter der Demokratie geriert, spielt hier der Dollar eine entscheidende Rolle. In der Demokratischen Partei hielt man trotz aller Zweifel an einer Kandidatur Joe Bidens fest, bis die Wahlkampfspenden wegbrachen. Und Kamala Harris setzte zum Höhenflug an und wurde im Eilverfahren nominiert, als diese auf Rekordniveau kletterten. Da ist es einmal mehr alarmierend, wenn der steinreiche Gegenkandidat mit Elon Musk den reichsten Mann der Welt als glühenden Verehrer und Wahlkämpfer an seiner Seite hat, der für seine Extravaganzen bekannt ist und sich gleich auch noch selbst als möglichen Minister vorschlägt. Daher: The Kamalamania must go on. Nicht nur, weil die Alternative eine Katastrophe wäre. Es gibt auch Anlass zu vorsichtigem Optimismus.
von © Robert Lessmann Dr 12. Juli 2024
Es hat ein „bisserl“ gedauert bis die deutsche Übersetzung erschienen ist. Schon bei Leonardo Paduras Wienbesuch im letzten Jahr war viel von „Personas decentes“ die Rede. Von zwei Kriminalfällen würde der Roman handeln und von zwei Hoffnungsmomenten. Havanna sei letztlich die Hauptperson. In der Tat ist es wohl der kriminalistischste von Paduras Kriminalromanen, dessen Bücher darüber hinaus als die besten soziologischen Studien über seine Heimat Kuba gelten, wo es unabhängige soziologische Studien ja nicht gibt. Von der ersten Seite an wird man unentrinnbar in den Strudel der beiden Geschichten hineingezogen. Der Detektiv Mario Conde hilft seinen früheren Polizeikollegen bei der Aufklärung von zwei grausamen Morden, weil diese gerade alle Hände voll mit dem Besuch des US-Präsidenten Barack Obama und der Rolling Stones zu tun haben. Wir schreiben das Jahr 2016. Parallel dazu erzählt der Polizist Teniente Arturo Saborit von Prostituiertenmorden in Havanna von 1909/10, das nach der Unabhängigkeit von 1902 boomt und wo nichts unmöglich scheint. Interessant sind dabei die Parallelen der Hintergrundkulissen, die Padura mit großem historischen und soziologischen Wissen aufbaut. Hier atemberaubende Gegensätze zwischen Arm und Reich und ein Sumpf von Korruption und Intrigen, wo Zuhälterclans nach belieben schalten und walten, bis sie um die Vorherrschaft kämpfen. Im Rampenlicht der Erzählung steht hier der schillernde Zuhälter Alberto Yarini, eine reale Person. Dort zwei Mordopfer, die vor einem halben Jahrhundert, im sogenannten quinquenio gris (dem grauen Jahrfünft) für die schlimmste Willkür, für Spitzeltum und Repression gegen unangepasste Künstler verantwortlich waren – und die nebenbei in Kunstraub und Hehlerei verstrickt sind. Der „Erzpessimist“ Mario Conde lässt sich von der Öffnungseuphorie nicht anstecken. Schon ganz zu Anfang des Buches erinnert er sich, wie in seiner Jugend heißbegehrte Raubkopien illegaler, „subversiver“ Musik in Umlauf waren: „ A hard days night “ – 1964 war das. Wieso sollte er heute, als „alter Knacker“ beim Besuch der Stones euphorisch werden? Der Autor dieser Rezension forschte vor dreißig Jahren zu den Wirtschaftsreformen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks („Empresas mixtas en Cuba“, 1994) und warnte auch angesichts der Halbherzigkeit ihrer Umsetzung vor Rechtsunsicherheit und der „Gefahr einer Generalisierung des Illegalen“, später vor einem entstehenden „Untergrundkapitalismus“. Heute ist dieser der Wachstumssektor in einer Wirtschaft, die ansonsten von Stillstand geprägt ist und von Depression in den Köpfen der Menschen. Seit 2021 sollen eine halbe Million Menschen die Insel verlassen haben. Überwiegend junge, gebildete. Ein gewaltiger Verlust in einer Elfmillionen-Gesellschaft mit sehr niedriger Geburtenrate. Inzwischen soll die Bevölkerungszahl auf unter 10 Millionen gesunken sein. (PS: Eine Studie vom Juli 2024 spricht gar von nur 8,6 Millionen.) In der Bar, in der Mario Conde während des Booms von 2016 als Aufpasser arbeitet, spendiert er einem Polizeikollegen ein Bier, das soviel kostet wie der in zwei Tagen nicht verdient. Der Laden floriert nicht zuletzt, weil regelmäßig ein „großer Unbekannter“ mit seiner Entourage dort verkehrt, der ihn protegiert. Anspielung oder Fiktion? Noch zur Zeit Fidel Castros kursierten Gerüchte, wonach ein bestimmter Paladar (privat geführtes Restaurant) regelmäßig von einem prominenten Politiker besucht würde. Dort wurden auch Meeresfrüchte serviert, die eigentlich für Paladares damals strikt tabu waren. Jener prominente Politiker wurde später Präsident. Etwa zur selben Zeit sprach der Rezensent mit einer jungen Frau, der man die Lizenz für ihren Paladar entzogen hatte, weil sie zu Tagen der Hochkonjunktur (Exportmesse Expokuba) eine Nachbarin gebeten hatte, beim Putzen zu helfen. Die Mutter von zwei Kindern verdiente ihr Geld nunmehr als Gelegenheitsprostituierte. Die Parallelen zwischen Condes „großem Unbekannten“ und meinem prominenten Politiker mögen fiktiv sein. Verzweiflung und Depression der Menschen sind angesichts der wirtschaftlichen Dauerkrise sehr real. Leonardo Padura lässt sie spürbar werden ohne dass seine Protagonisten die Liebe zu ihrer Heimat verlieren. Conde „drehte sich um. Ein grandioser Impala Cabriolet, Baujahr 1958, rollte langsam über die Avenida. Auf der Rückbank und den Türen saßen drei Frauen und zwei Männer, ausgestattet mit Strohhüten und Bierdosen, und brachten in voller Lautstärke ihre Begeisterung über die Spazierfahrt zum Ausdruck, die der Chauffeur ihnen ermöglichte. An der durch die Tropensonne bereits geröteten hellen Haut wie auch an ihrer Kleidung und dem betrunkenen Gegröle waren sie mühelos zu erkennen: es handelte sich um US-amerikanische Touristen, schließlich kehrten die Gringos jetzt auf die Insel zurück, um sich mit eigenen Augen einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Bewohner dieses realsozialistischen Themenparks ihren Alltag organisierten. Es war derselbe Ort, wo die Großeltern dieser Touristen einst dem Spaß an Rum, Musik und Sex gefrönt hatten, in den zahllosen Kabaretts, Kasinos, Bars und Bordellen dieser offenen, dem Laster verfallenen Stadt. (…) Jetzt waren sie also wieder da, und ihre Dollars waren mehr wert denn je.“ (S. 89)
von © Robert Lessmann Dr 4. Juli 2024
„Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Ereignisse und Personen sich sozusagen zweimal ereignen: das eine Mal als große Tragödie, das andere Mal als Farce“, schrieb Karl Marx in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ in Anspielung auf einen Staatsstreich, der die Französische Revolution gewissermaßen konterkarierte. Am 26. Juni 2024 um 14.30 fuhr ein halbes Dutzend gepanzerter Fahrzeuge auf der Plaza Murillo von La Paz auf, wo Parlament und Präsidentenpalast Boliviens liegen. Eines der Fahrzeuge rammte die Eingangstür zum alten Präsidentenpalast ( Palacio Quemado, der verbrannte oder brenzlige Palast, wie er wegen seiner bewegten Vergangenheit heißt). Dort kam es zu einer verbalen Konfrontation zwischen Armeechef Juan José Zúñiga und Staatspräsident Luis Arce, der ihn aufforderte, nach Hause zu gehen, was der General mit „no“ beantwortete, dann aber doch auf die Plaza zurückkehrte, wo er vor der Presse Statements abgab und in seinem verdunkelten Panzerfahrzeug lange per Handy telefonierte: Das Land sei in der Krise. Es könne so nicht weiter gehen. Man wolle das Kabinett austauschen, Neuwahlen ausrufen und die politischen Gefangenen freilassen. Um 17:30 war der Spuk zu Ende. Die Militärs zogen Richtung ihrer Kaserne im Stadtteil Miraflores ab, wo Zúñiga sowie die ihn begleitenden Chefs von Marine, Juan Arnez, und Luftwaffe, Marcelo Zegarra, gegen 19:00 Uhr verhaftet wurden. Präsident Arce hatte zwischenzeitlich neue Oberkommandierende eingesetzt, die den Rückzug anordneten. Die gute Nachricht: Es soll nur neun Verletzte gegeben haben. Die sozialen Organisationen und die Zivilgesellschaft standen unverzüglich zur Verteidigung der Demokratie parat. Massen von Zivilisten strömten zur Unterstützung der Regierung auf die Plaza Murillo. Der Gewerkschaftsbund COB und die Landarbeitergewerkschaft CSUTCB riefen zum Generalstreik auf. Eva Copa, die Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt, El Alto, wo sich wichtige Militäreinheiten befinden, rief mit der Verfassung in der Hand die Bevölkerung dazu auf, die Straßen zu blockieren. Alle politischen Kräfte, einschließlich der inhaftierten Drahtzieher der rechten Machtergreifung von 2019, deren Freilassung Zúñiga gefordert hatte, verurteilten zunächst den Putschversuch. Die Ereignisse zeigen freilich auch, wie fragil die vormals so stabilen Verhältnisse inzwischen wieder sind. Kaum war der bemerkenswert dilettantische Putschversuch gescheitert, versuchten die politischen Akteure Kleingeld daraus zu ziehen und sprachen von ‚ autogolpe ‘, einem selbstinszenierten Coup, der das Image des Präsidenten habe stärken sollen. In der Tat galt General Zúñiga als Vertrauter Arces, war von diesem vor anderen Kandidaten erst im November 2022 zum Armeechef befördert worden. Beide waren wohl noch am Wochenende zuvor bei einem Basketballmatch zusammen gesehen worden. Zusätzlichen Auftrieb hatte diese Version durch Zúñiga selbst bekommen. Nachdem klar wurde, dass sein Unternehmen scheitern würde, hatte er vor der Presse behauptet, Arce selbst habe ihn um diese Inszenierung gebeten. Glaubwürdig? Tatsache ist, dass General Zúñiga zwei Tage zuvor bei einem Fernsehinterview, das er im Stile eines Staatschefs gab, seine Kompetenzen krass überschritten hatte. Unter anderem hatte er damit gedroht, den Arce-Widersacher, Expräsident Morales, zu verhaften, sollte dieser bei den im nächsten Jahr anstehenden Wahlen wieder kandidieren. Das Militär sei der bewaffnete Arm des Volkes. Am nächsten Tag wurde ihm vom Verteidigungsminister seine Entlassung mitgeteilt, diese aber noch nicht offiziell kommuniziert. Am nächsten Morgen wurden ab 9:30 irreguläre Truppenbewegungen gemeldet. Zúñiga und die anderen Beteiligten waren für ihre politischen Vorgesetzten nicht mehr erreichbar. Zúñiga selbst beklagte sich auf der Plaza Murillo gegenüber der Presse darüber, dass gegenüber der Armee Treue mit Untreue vergolten würde. Die Kurzschlusstat eines beleidigten Egomanen? Tragödie oder Farce? Wie bei der Machtergreifung der Rechten 2019 wurde deutlich, dass die politische Führung das Militär nicht im Griff hat. Auch Armeechef Williams Kalimán, der Morales damals zum Rücktritt aufforderte, hatte sich ja stets als dessen Parteigänger und als ‚ soldado del proceso de cambio‘ bezeichnet. Hatte Zúñiga darauf gesetzt, dass Arce angesichts der Panzerfahrzeuge die Flucht ergreifen würde? Bei Morales hatte ja schon eine mündliche Aufforderung genügt. Diente sein Telefonieren dazu, Verstärkung herbeizurufen, die nicht eintraf? Möglicherweise werden die Gerichtsverfahren Klarheit bringen. Jedenfalls scheinen die bisherigen Ermittlungen darauf hinzudeuten, dass wohl mehr dahinter steckte, als es zunächst den Anschein hatte. Insgesamt wurden mehr als zwanzig hohe Militärs inhaftiert, darunter auch der Chef einer Eliteeinheit aus der Stadt Cochabamba, die fünf Scharfschützen zur Plaza Murillo entsandt hatte. Einschlägige Planungen seien seit Mai gelaufen und ein Soziologe, der im Verteidigungsministerium gearbeitet hatte, wurde unter dem Verdacht, der ideologische Kopf zu sein, ebenfalls verhaftet. Nicht zuletzt sprachen manche Äußerungen und Forderungen Zúñigas vielen Bolivianerinnen und Bolivianern aus der Seele. Die Regierungspartei MAS ist zwischen Anhängern des amtierenden Präsidenten Arce und des Expräsidenten Morales gespalten. Beide Lager halten getrennte Parteitage ab. Erst Anfang Mai hatte das Arce - Lager mit Grover García einen eigenen Parteichef gewählt, ein Amt, das auch Evo Morales für sich in Anspruch nimmt. Die mächtigen sozialen Bewegungen, die die Regierungspartei MAS tragen, sind ebenfalls gespalten. Parteitage und ihre Ergebnisse werden jeweils von der Gegenseite vor dem Wahlgerichtshof angefochten. Im Parlament fliegen zwischen Angehörigen beider Lager mitunter auch die Fäuste. Die reguläre Opposition scheint nach dem Fiasko der von ihren Parteien getragenen „Interimsregierung“ von 2019/2020 nicht vorhanden. Aktuell tobt der Streit um eine Parlamentssitzung, die der Senatspräsident Andrónico Rodríguez ( evista ) einberufen hatte, was – so die arcistas – nur dem Parlamentspräsident David Choquehuanca ( arcista ) vorbehalten sei. Der Oberste Gerichtshof, der darüber urteilen kann, wird nicht anerkannt, weil seine Angehörigen ihr Mandat selbst verlängert haben. Schon seit einem halben Jahr hätten Nachfolger gewählt werden müssen, was wiederum wegen der Paralysierung des Parlaments nicht möglich war. Das Morales - Lager hatte für den 27. Juni zu Straßenblockaden aufgerufen. Die Transportunternehmer blockieren wegen der Treibstoffknappheit ohnehin. Daneben leidet das Land wegen sinkender Gaspreise und Fördermengen unter Devisenknappheit . Man hatte es versäumt, rechtzeitig neue Quellen zu erschließen und die Regierung beklagt nun, dass die Opposition zusammen mit den evistas Kredite blockiere, die für Neuerschließungen nötig wären. Die Nutzung der reichlichen Lithiumvorkommen wiederum kommt seit anderthalb Jahrzehnten nur schleppend voran. Erst unlängst wurde der staatliche YLB (Yacimientos de Litio Bolivianos) von einem Korruptionsskandal geschüttelt. Angesichts dieser Probleme haben viele Bolivianerinnen und Bolivianer den Eindruck, dass sich maßgebliche Politiker nur um ihre Karriere – sprich: ihre Kandidatur bei den 2025 bevorstehenden Wahlen - kümmern, allen voran der 2019 gestürzte, einstige Hoffnungsträger Evo Morales. Dessen Vizepräsident und Berater aus besseren Tagen, Álvaro García Linera, sieht eine große Gefahr für die Institutionalität und die Demokratie in Bolivien.* Das Spiel mit dem Feuer – sprich: dem Militär – sei gefährlich . Besonders in einem Land mit der Putschtradition Boliviens. In der Tat mag fortgesetzte politische Verantwortungslosigkeit dazu führen, dass die Menschen eines Tages mit dem Militär die Hoffnung verbinden, das Chaos zu beseitigen. * Álvaro García Linera: „Lo malo es que, en esta pelea intestina, muy egoista, muy mezquina, están jugando con monstruos. De un lado y del otro, están jugando con los militares y eso es muy peligroso. No se puede banalizar la presencia militar en la política. No se puede banalizar el mal, decía Hannah Arendt. Es algo muy peligroso. Más aún en Bolivia, que tiene un historial récord en el mundo de golpes de Estado. (…) la diferencia entre ambos nace de una mirada muy obtusa de sus luchas personales, sin entender que están jugando con fuego.“
von © Robert Lessmann Dr 14. Mai 2024
Oft betraf und betrifft Außenseitersein oder Ausgrenzung auch Künstler, die dann Sezessionen gründeten oder gar der Spionage beschuldigt wurden, wie beispielsweise Caspar David Friedrich. Dem brasilianischen Kurator Adriano Pedrosa (künstlerischer Leiter des Museu de Arte von São Paulo) ist es – nicht nur, aber auch – zu verdanken, dass der globale Süden auf dieser ältesten internationalen Kunstbiennale (seit 1895) so stark vertreten ist wie nie zuvor. Fremd sein im eigenen Land wird da thematisiert, Kolonialismus und Dekolonisierung. Ein kongolesisches Künstlerkollektiv (Cercle d’Art des Travailleurs de Plantation Congolaise, CATPC) möchte mit seinen Skulpturen „im heiligen Wald“ einen Übergang von einer schmerzhaften Vergangenheit in ein ökologisch nachhaltiges Morgen aufzeigen, fragt aber im Video der Theaterdarbietung einer hitzigen Diskussion („Blasphemie oder Heiligkeit“) gleichzeitig, ob es angemessen und akzeptabel sei, wenn die ehemaligen Kolonisatoren Wiedergutmachung leisten mit dem Geld, das sie womöglich anderenorts auch zusammengeraubt haben? Letztere besteht in einem großen, weißen Würfel (ein Fetisch oder ein Museum für zurückgegebene Raubkunst?), der im „heiligen Wald“ gebaut und von den Betroffenen heiß diskutiert wird. Die eindrucksvolle Präsentation findet im holländischen Pavillon statt, gleich einem der ersten, die man nach dem Betreten der Giardini erreicht. Er wird in Zusammenarbeit des Kurators Hicham Khalidi mit dem Künstler Renzo Martens und mit Unterstützung der holländischen Mondrian Stiftung bespielt. Das Konzept der Länderpavillons löst sich auf. Der russische Pavillon, qua Sanktionen geschlossen, ist an Bolivien ausgeliehen. Moskau pflegt auf diese preiswerte Weise die Beziehung zu Ländern, die vom Westen eher Missachtung oder Zurückweisung erfahren. Der israelische Pavillon bleibt auf Wunsch der Künstlerin Ruth Patir geschlossen, bis ein Waffenstillstand im Gaza-Krieg erreicht und die Geiseln freigelassen sind. Der polnische Pavillon wurde an ein ukrainisches Künstlerkollektiv ausgeliehen. Fremd sein, das heißt oft auch heute noch „fremd sein im eigenen Land“. Indigene Völker spielen – passiv wie aktiv – eine große Rolle auf der Biennale, häufig auch im Zusammenhang mit Ressourcenabbau und Naturzerstörung. „Heute Lithium, morgen Hunger“, konstatiert eine Aufschrift im spanischen Pavillon. Und der dänische Pavillon ist einer Fotoausstellung über die Inuit gewidmet. Indigene Künstler der Yanomami (Brasilien), der Cherokee (Nordamerika) und der Aborigines (Australien) kommen zu Wort. Rember Yahuarcani aus dem Volk der Huitoto im peruanischen Amazonien weist in einem seiner farbenfrohen Großgemälde darauf hin, dass dort zwischen 2013 und 2023 insgesamt 32 indigene Führer und Führerinnen von Eindringlingen, Drogenhändlern und der Holzmafia ermordet wurden. Ihre amazonische Heimat sei für Indigene einer der gefährlichsten Orte. Im Haupthaus der Giardini wird ein Saal von Künstlern mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen bespielt, darunter der Österreicher Leopold Strobl. „Arpilleristas“ aus Chile stellen in den Arsenale Textilkunst aus, mit der sie während der Pinochet-Diktatur ihr Leben im Exil finanzierten. Louis Fratino überrascht in den Giardini unter der Rubrik „Anonymous Homosexual“ mit expliziten Bildern männlicher Homosexualität. Die bolivianischen „Mujeres Creando“ und Claudia (La Chola) Poblete aus Argentinien thematisieren das Schicksal von Sexarbeiterinnen und Transgender-Personen. In einem Raum im Haupthaus der Giardini widmet sich ein „Museum der alten Kolonie“ dem imperialen Verhältnis USA/ Puerto Rico. Das Foto eines guten Soldaten, der sich helfend zu einem nackten Jungen hinabbeugt, stellt in diesem Kontext die Frage, inwieweit man überhaupt „gut“ sein kann als Teil einer mörderischen Maschinerie. Flucht ist kein Verbrechen Im Zentrum stehen indessen Flucht und Migration. Am Eingang zu den Arsenale – einst Waffenschmiede des mediterranen Großreiches Venedig – kreuzt ein schwerbepackter Lastenträger von Yinka Shonibare („Refuge Astronaut“) mit seinem Hab und Gut den Weg der Besucherinnen und Besucher. Im Inneren erzählen Flüchtlinge aus allen Winkeln dieses Planeten in einer Serie von Videos von ihren Schicksalen. Und ein Raum ist angefüllt von großen Landkarten, zu und auf denen sie grafisch von ihren Odysseen berichten. Erst zusammengenommen werden sie von der Dokumentation zum Kunstwerk. Die Biennale ist noch bis zum 24. November geöffnet und immer eine Reise wert. Das Tagesticket für Giardini und Arsenale (zusammen an einem Tag kaum zu bewältigen) kostet 20€, ein Dreitagesticket 40€. Dazu kommt für Tagesbesucher der Lagunenstadt neuerdings und vorerst eine Besuchsgebühr von 5€. Beides ist auch im Internet erhältlich und dann als QR-Code mitzuführen. Dass die Tagesgebühr nach jahrelangen Diskussionen und Vorbereitungen ausgerechnet am Nationalfeiertag und dem ersten langen Wochenende der Biennale testweise eingeführt wurde, ist für die Verwaltung kein Ruhmesblatt und führte zu chaotischen Zuständen an den Ankunftsmolen der Tagestouristen. Und dass ausgerechnet dort im Block und quasi flächendeckend die angekündigten „Stichproben“ vorgenommen wurden, verdankt sich wohl entweder Gedankenlosigkeit oder einem beabsichtigten Abschreckungseffekt. Kenner wählten eine etwas längere Alternativroute und umgingen die mutwillig provozierten Menschenknäuel am Kai elegant durch die engen Gassen, wo sie vielleicht in einem der lokalen Cafes noch einen Espresso und ein kleines Gebäck genossen – auch das findet man noch. Persönliches Highlight des Autors war eine aufwendige Videoprojektion des Schweizer Pavillons im Halbrund eines Himmelsgewölbes, eine Art ungemein selbstironischer Werbefilm einer „Super Superior Civilisation“. Gleichauf und von den meisten anderen Kommentatoren favorisiert ist der Österreichische Pavillon, bespielt von Anna Jermolaewa, die 1970 in Leningrad (UdSSR) geboren wurde und 1989 aus politischen Gründen aus der Sowjetunion fliehen musste. Ein Video von Proben zum Schwanensee-Ballett von Tschaikowski kann als Code für einen erwünschten Machtwechsel gelesen werden. Zu Sowjetzeiten wurde Schwanensee im Fernsehen oft in Phasen politischer Unruhe oder nach dem Tod eines Staatsoberhaupts gespielt – manchmal in Dauerschleife. Ein Raum mit verschiedenen Blumenarrangements ist alles andere als unschuldig: Sie stehen jeweils für eine Revolution. Nelken stehen für die portugiesische Revolution von 1974 und so weiter. Aufsehen erregen sechs Telefonzellen nicht nur bei jungen Besuchern, die gar nicht mehr wissen, was eine Telefonzelle überhaupt ist. Schon ihr Transport per Vaporetto auf den Kanälen Venedigs zu den Giardini war ein Spektakel. Sie stammen aus Traiskirchen. Für viele Flüchtlingen waren sie das Kommunikationsmittel in die alte Heimat. Auch für Anna Jermolaewa. In einem Video von einer Sitzbank im Westbahnhof erzählt sie von der Suche nach der bequemsten Schlafstellung. Die Nächte ihrer ersten Woche in Wien hatte sie dort zugebracht.
Show More
von Robert Lessmann Dr 6. Juni 2025
Antonio Guterres muss sparen. Bei einem derzeitigen Haushalt von 3,26 Milliarden (Mrd.) € (3,7 Mrd. USD) will der UNO-Generalsekretär 15-20 Prozent einsparen. Allein im Sekretariat könnten 20 Prozent der Stellen wegfallen. Einzelne Unterorganisationen und Programme verfügen über gesonderte, oft erheblich höhere Budgets, doch auch sie sind von Kürzungen betroffen. Insgesamt könnten 7.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen sein. Besondere Gefahr besteht für Einzelorganisationen wie das Flüchtlings- und das Palästinenserhilfswerk (UNHCR und UNRWA), die in Washington besonders ungeliebt sind. Aus der Weltgesundheitsorganisation WHO sind die Vereinigten Staaten gerade wieder ausgetreten; aus der UNESCO (Erziehung, Wissenschaft und Kultur) und dem UNHCHR (Menschenrechte) sind sie unter Trump aus- und unter Biden wieder beigetreten. Dabei sind die Vereinten Nationen wegen notorisch überfälliger Beitragszahlungen ohnehin unter Druck. So waren die USA als wichtigster Geber zum 1.1.2025 mit 1,5 Mrd. USD in Verzug. Der inzwischen zweitwichtigste Geber, China, zahlt auch immer erst zum Jahresende. Angesichts der drängenden Probleme (Kriege, Konflikte, Klima) sind eine regelbasierte Weltordnung und multilaterales Handeln wichtiger denn je. Aber gerade sie sind ein Hindernis für Großmachtambitionen – und Reaktionären in ihrem Kulturkampf seit eh und je ein Dorn im Auge. Der Schweizer Unternehmer Christoph Blocher (Schweizerische Volkspartei) nannte die UNO in Ablehnung eines Beitritts (der dann 2002 doch erfolgte) bereits in den 1980er Jahren einen Hort des Kommunismus. Die USA, China und Russland haben den Internationalen Gerichtshof in Den Haag nie anerkannt und missachten seine Urteile, was nicht verwundert, verfolgen diese drei ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats in ihrer Außenpolitik doch expansionistische Ziele. Ganzheitliche Analysen und Nachhaltigkeit Mit den 2015 verabschiedeten nachhaltigen Entwicklungszielen (auch Agenda 2030) legen die Vereinten Nationen schon seit zehn Jahren mehr Wert auf ressortübergreifende Ansätze und Nachhaltigkeit. Soeben (20.5.2025) ist beim in Wien ansässigen Büro für Drogen und Verbrechensbekämpfung (UNODC) ein Bericht erschienen: „ Minerals Crime: Illegal Gold Mining “, als Teil einer in Arbeit befindlichen Globalanalyse von Verbrechen, die die Umwelt schädigen. Bereits der World Drug Report 2023 hatte ein ganzes Kapitel 4 der Verschränkung krimineller Aktivitäten und der Umweltzerstörung in Amazonien gewidmet. (Wir berichteten an dieser Stelle: „Amazoniens Unterwelt“, 26. November 2024, robert-lessmann.com/amazoniens-unterwelt/) Gleich fünf UNO-Unterorganisationen erarbeiteten einen Bericht über Ernährungsunsicherheit in Lateinamerika und der Karibik, der bereits 2024 erschienen ist.* Demnach ist die Region nach Asien am meisten von der Klimakrise betroffen. Unmittelbare Folgen sind Extremwetterereignisse und sinkende landwirtschaftliche Produktivität. Soziale Ungleichheit komme als verschärfender Faktor hinzu. Im Jahr 2023 waren 41 Millionen Menschen in der Region von Hunger betroffen; eine besonders starke Zunahme sei in der Karibik festzustellen. 187,6 Millionen Personen leiden unter Ernährungsunsicherheit, eines von zehn Kindern unter fünf Jahren leidet an Mangelernährung. Paradoxerweise gehen Unterernährung und Übergewicht miteinander einher, sagt Karin Hulshof, die Regionaldirektorin von UNICEF für Lateinamerika und die Karibik. Das Recht von Frauen und Kindern auf Nahrung müsse bei allen Entscheidungen zur Klimapolitik Priorität haben, fordert sie. Im Jahr 2022 waren weltweit 5,6 Prozent der Kinder unter fünf Jahren von Übergewicht betroffen. In Lateinamerika waren es 8,6 Prozent. Die Hälfte der Bevölkerung in der Karibik könne sich keine gesunde und ausgewogene Ernährung leisten, in Mittelamerika seien es 26,3 Prozent und in Lateinamerika 26 Prozent. Laut FAO müsse die Landwirtschaft klimaresilienter werden, damit sie zunehmende Herausforderungen durch den Klimawandel und Extremwetterereignisse besser überstehen kann. Ein Bericht des UN-Weltentwicklungsprogramms (UNDP) vom Jänner 2025 analysiert ebenfalls Probleme durch den Klimawandel, geringe Produktivität, schwaches Wirtschaftswachstum, strukturelle Ungleichheit sowie Vertrauensverlust in Politik und Institutionen. Schon bald müsse man in vielen Ländern Lateinamerikas und der Karibik mit Wasserknappheit rechnen und bis zum Jahr 2080 mit einer schweren Wasserkrise. Das UNDP empfiehlt unter anderem Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Technologie. Politische Entscheidungen – zum Beispiel in Argentinien – gehen in eine andere Richtung. Von Seepferdchen und dem Kokain der Meere: Wildlife Crime Report 2024 Auch ein halbes Jahrhundert nach Inkrafttreten des Washingtoner Artenschutzabkommens (CITES, verabschiedet 1973; heute 184 Unterzeichnerstaaten) sind viele Tier- und Pflanzenarten gefährdet oder vom Aussterben betroffen. Nur wenige Bereiche, wie Elfenbein und Nashorn, genießen globale Aufmerksamkeit. Andere Arten, wie akut vom Aussterben bedrohte Orchideen, werden kaum beachtet. In Südamerika liegen die gravierendsten Probleme im Bereich von Tropenhölzern, wie Großbeschlagnahmungen zeigen. Auch hier weist der Bericht auf gefährliche Verschränkungen verschiedener krimineller Sektoren hin, im konkreten Fall mit dem Drogenhandel und dem illegalen Goldabbau. Auch eine soziale Sensibilität greift Platz, die man sich in anderen Bereichen, wie zum Beispiel dem Kokaanbau, auch längst gewünscht hätte. So sind Seepferdchen ein nicht zu unterschätzender illegaler Exportartikel Perus für Aquarien oder getrocknet (nach Asien, etwa Thailand oder die Philippinen). Peru ist übrigens die drittgrößte Fischereination nach China und Indonesien. Die Seepferdchen kommen meist tot oder sterbend als Beifang. Die Illegalität beginnt mit der Anlandung. Fischer sehen den Seepferdchen-Beifang als eine Art Bonus und wissen meist gar nicht, dass ihr Tun illegal ist. Sie wieder in die See zu werfen erscheint so sinnlos wie eine Bestrafung für das unabsichtliche Werk der kleinen Fischer. Illegal ist in Peru aber das Fischen mit Schleppnetzen innerhalb der Fünfmeilenzone, wo die meisten Seepferdchen hängen bleiben dürften. Gute Geschäfte machen Aufkäufer und Händler. Davon zeugen einzelne Beschlagnahmungen im Bereich von mehreren hundert Kilogramm. Im Jahr 2017 wurden 900 kg in Vietnam in einem Container aus Peru beschlagnahmt. Im September 2019 waren es 1.043 kg getrocknete Seepferdchen in einem Schiff vor der peruanischen Küste. Besonders kurios ist die Symbiose von Drogenexport und der illegalen Fischerei durch Mitglieder mexikanischer Drogenorganisationen. Ursprünglich ein willkommenes Zubrot beim Drogentransit, entdeckte man mit der Schwimmblase eines vom Aussterben bedrohten Fisches (Totoaba) das „Kokain der Meere.** Die Fischer erhalten dafür pro Kilo zwischen 500 und 3.000 USD. In China, wo sie in Suppen, in der traditionellen Medizin oder sogar als Wertanlage verwendet wird, kann man 80.000 USD erzielen. Washington isoliert Von einem Wendepunkt in der Geschichte der internationalen Drogenpolitik spricht Ann Fordham, Direktorin der NGO International Drug Policy Consortium (IDPC): Mit 30 Stimmen, 18 Enthaltungen und drei Gegenstimmen (Argentinien, Russland und die USA) nahmen die Delegierten der 68. Commission on Narcotic Drugs (CND) des Wirtschafts- und Sozialrates der UN, die im März diesen Jahres in der Wiener UNO-City stattfand, eine unter Federführung Kolumbiens eingebrachte Resolution an, die die Einrichtung einer 19-köpfigen Expertengruppe vorsieht, um das Regelwerk der internationalen Drogenkontrolle zu überdenken und „to prepare a clear, specific, and actionable set of recommendations aimed at enhancing the implementation of the three drug conventions, as well as the obligation of all relevant international instruments, and the achievement of all international drug policy commitments.“ Zehn Mitglieder bestimmt die CND, fünf der Generalsekretär und drei das International Narcotics Control Board (INCB, der UN Suchtstoffkontrollrat zur Überwachung der Einhaltung der drei UN-Drogenkonventionen) und eines die Weltgesundheitsorganisation WHO. Dieser Beschluss reiht sich ein in eine Tendenz der allmählichen Öffnung der internationalen Drogenkontrolle, die ursprünglich fast vollständig von den USA dominiert war. So räumte die UN Sondergeneralversammlung zum Thema Drogen von 2016, bei deren Vorbereitung erstmals andere UN Unterorganisationen, wie die WHO oder das Hochkommissariat für Menschenrechte und zivilgesellschaftliche Organisationen mitwirkten, größere „Interpretationsspielräume“ bei der Auslegung der drei UN Drogenkonventionen ein, um Desertionen vorzubeugen. NGO-Vertreterinnen machen nicht zuletzt ein „atemberaubend arrogantes Eingangsstatement“ und völlig unflexible Positionen ohne Verhandlungsbereitschaft der US-Delegation für das klare Votum der Delegierten verantwortlich. So wurden China, Kanada und Mexiko entgegen aller Gepflogenheiten direkt angegriffen und für die vielen Überdosis-Toten der US-Opioidkrise verantwortlich gemacht. Die kolumbianische Botschafterin Laura Gil in ihren Statement: „Alle Kolumbianerinnen und Kolumbianer verstehen und spüren, dass das globale Drogenproblem einen Schatten auf uns alle wirft, und dieses Forum ist eine Einladung, um unter dem Schirm der Konventionen das Prinzip der gemeinsamen und geteilten Verantwortung [für das Drogenproblem R.L.] jetzt und heute zu überdenken. Mein Land hat mehr Menschenleben geopfert als jedes andere in diesem Drogenkrieg, der uns aufgezwungen wurde. (…) Unsere besten Männer und Frauen und ein Löwenanteil unseres Budgets gingen in die Bekämpfung des illegalen Drogenhandels. Wir brauchen neue und effektivere Mittel um ein globales System zu verwirklichen. Weiter zu machen wie bisher wird zu nichts führen.“ Ob diese Resolution tatsächlich einen Wendepunkt darstellen wird, muss ihre Umsetzung zeigen. Diese könnte, wie andere vielversprechende Ansätze, finanziellen Strangulierungen zum Opfer fallen. Laura Gil, die treibende Kraft dahinter, wurde am 5. Mai zur Stellvertretenden Generalsekretärin der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) gewählt und wird Wien verlassen. In der UNO-City kursieren Gerüchte und Spekulationen darüber, wie es mit den verschiedenen Unterorganisationen, wie etwa dem UNODC, weiter gehen könnte. Bei aller berechtigten Kritik an den Schwächen der Vereinten Nationen: Sie sind nur so stark wie ihre Mitgliedsländer es zulassen. Das Geschäft jener zu betreiben, die sie ohnehin schwächen oder abschaffen wollen, wäre abenteuerlich. * Food and Agriculture Organization (FAO), Fondo Internacional de Desarrollo Agrícola (FIDA) Organisación Panamericana de Salud (OPS), Programa Mundial de Alimentos (WFP) und UNICEF: „El Panorama Regional de la Seguridad Alimentaria y la Nutrición 2024“ ** Neben dem erwähnten UNODC-Bericht auch: Israel Alvarado Martínez and Aitor Ibáñez Alonso: „Mexican Organized Crime and the Illegal Trade in Totoaba Maw“ in: Organized Crime 24, No. 4, 1st Dec. 2021 (https://doi.org/10.1007/s12117-021-09436-9)
von Robert Lessmann Dr 14. Mai 2025
Das hatte sich der wohl erfolgreichste Präsident, den Bolivien je hatte, anders vorgestellt. Das kleine Land im Herzen des Halbkontinents war nach seinem Erdrutschsieg Ende 2005 vielbeachteter Hoffnungsträger. Könnte die Entwicklung dort ein Vorbild sein? Nichts weniger als die „Neugründung Boliviens“ hatte man sich vorgenommen. Eine Regierung der sozialen Bewegungen wollte man sein. Bereits sechs Wochen nach Amtsantritt wurde ein Einberufungsgesetz zu einer verfassunggebenden Versammlung verabschiedet. Die neue Verfassung wurde dann 2009 – erstmals durch eine Volksabstimmung – angenommen. Bolivien wurde durch sie zum „plurinationalen Staat“. Soziale Rechte, Indígena-Rechte und die Rechte der Pachamama wurden darin festgeschrieben. Indigene Sprachen wurden auch Amtssprachen und die bunte Wiphala-Fahne gleichwertig neben die rot-gelb-grüne Nationalflagge gestellt. Die Nationalisierung der Kohlenwasserstoffressourcen vom 1. Mai 2006 spülte bei günstiger Konjunktur Devisen in die Staatskasse, die für eine Umverteilungs- und Sozialpolitik verwendet wurden. Die Armutsquote sank deutlich, die durchschnittliche Lebenserwartung stieg um Jahre. Ein bedeutender Teil der Unterschicht stieg in die untere Mittelschicht auf. Deren Binnennachfrage stabilisierte die Wirtschaft, auch als die Exporteinnahmen nach 2015 einbrachen. Grundlage war der Extraktivismus, insbesondere die Exporte von Erdgas. Grundlegende Strukturreformen unterblieben. Die Präsidentschaft von Morales war von einer Serie von Wahlen und Abstimmungen begleitet, was manche Beobachter als referenditis bezeichneten. Er hat sie alle mit absoluter Mehrheit gewonnen: eine bis dato in Bolivien unbekannte politische Stabilität. Nur nicht die beiden letzten... Heute sitzt Morales im Trópico de Cochabamba ohne Kandidatenstatus, ohne Partei, von einem harten Kern seiner Getreuen beschützt. Gegen ihn läuft ein Verfahren wegen Sex mit Minderjährigen und Menschenhandel. Wie kam es dazu? Morales’ Fall Schon in seiner Zeit als Gewerkschaftsführer hat Morales Widersacher und Gegenkandidaten erfolgreich ausgeschaltet. Als Präsident wechselte er seine Minister in rascher Reihenfolge, servierte unter anderem seinen Mentor und Lehrmeister ab, den großen alten Gewerkschafter Filemón Escobar, und war sehr erfolgreich darin, die wichtigsten der vielen sozialen Bewegungen zu bedienen, die seine Regierung unterstützten. Die neue Verfassung vom Januar 2009 sieht in Art. 168 nur zwei aufeinanderfolgende Amtsperioden vor. Ein Referendum zur Änderung dieses Artikels ging im Februar 2016 knapp verloren. Mitentscheidend waren damals Berichte eines „Enthüllungsjournalisten“ über ein gemeinsames außereheliches Kind des Präsidenten mit einer stets grell geschminkten Blondine, was dieser abstritt. Bilder von gemeinsamen Auftritten – etwa beim Karneval von Oruro – belegten demgegenüber zumindest eine gewisse Verbindung zwischen beiden und später wurde die Dame zu einer Haftstrafe verurteilt. Sie hatte in dieser Zeit millionenschwere Regierungsaufträge für die chinesische Firma an Land gezogen, für die sie arbeitete. Der Ruf war angekratzt, doch wurden keine Spuren eines angeblichen Kindes gefunden. Politisch schlimmer wog, dass Morales das Ergebnis dieses Votums ignorierte und bei den Wahlen vom Oktober 2019 erneut kandidierte, was seinen Ruf als Demokrat nachhaltig beschädigte. Seine Popularität sank. Für die Opposition war klar: Es würde Wahlbetrug geben, das Regierungslager sah einen Putsch voraus. Die Wahlen brachten dann herbe Verluste von wahrscheinlich 14 Prozent, doch Morales gewann sie noch immer mit etwa 47 Prozent. Fraglich blieb, ob er 10 Prozentpunkte vor dem stärksten Oppositionskandidaten lag, wodurch eine Stichwahl vermieden würde. Als in der Wahlnacht die Schnellauszählung (nicht die amtliche!) angehalten wurde, nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Sechs von neun Departments-Wahlzentralen gingen in Flammen auf. Straßenproteste wurden wenige Tage später durch eine Polizeimeuterei befeuert. Schließlich legte der Armeechef Morales den Rücktritt nahe. Präsident und Vizepräsident gingen erst ins mexikanische Exil, dann nach Buenos Aires. Dorthin – so die heutige Anklage – sollen Morales immer wieder junge Mädchen zugeführt worden sein. Mit einer seinerzeit Fünfzehnjährigen soll er eine Tochter haben. Es war Hybris der Macht, mit der sich Morales selbst ins Abseits manövrierte. In Bolivien übernahm eine De-facto-Regierung, die von der politischen Rechten getragen wurde, von Korruption gekennzeichnet war und ohne Umschweife versuchte, den Prozess des Wandels, der seit 2006 stattgefunden hatte, rückgängig zu machen. Sie scheiterte an den Herausforderungen der Corona-Pandemie und politischen Ambitionen der Beteiligten. So wurde der Zweitplatzierte bei der Wahl von 2019, Carlos D. Mesa, praktisch ausgeschaltet. Vor allem aber erzwangen die machtvollen sozialen Bewegungen, die die MAS-Regierung stets getragen hatten, durch Straßenblockaden Neuwahlen, die dann im November 2021 die MAS mit 55,1 Prozent eindrucksvoll zurück an die Macht brachten. Vom argentinischen Exil aus hatte Morales seinen langjährigen Superminister für Wirtschaft und Finanzen, Luis Arce, als Spitzenkandidaten nominiert und seinen Intimfeind David Choquehuanca als Kandidat für die Vizepräsidentschaft. Der langjährige Außenminister hatte sich nach dem verlorenen Referendum vom Februar 2016 als Kandidat ins Spiel gebracht und war von Morales daraufhin auf einen Diplomatenposten ins „Exil“ befördert worden. Die Parteibasis hatte zuvor für Choquehuanca und Andrónico Rodríguez als Vize votiert, einen jungen politischen Ziehsohn Morales’. Nach dem Amtsantritt der Regierung Arce/ Choquehuanca kehrte Morales, vom argentinischen Präsidenten Alberto Fernández bis an die Grenze begleitet, im Triumphzug nach Bolivien zurück und versuchte sogleich, als Parteichef und Übervater weiterhin die Regierung zu lenken. Das konnte nicht gutgehen. Schon die Regionalwahlen von Anfang 2021 wurden – obzwar deutlich gewonnen – zum relativen Misserfolg. Es reüssierten oftmals Kandidaten und Kandidatinnen, die von Morales ausgebremst worden waren. Der jungen Eva Copa, die als Senatspräsidentin das Fähnlein der MAS gegen die De-facto-Regierung hochgehalten hatte während die Parteispitze im sicheren Exil saß, wurde vorgeworfen, mit der Regierung kooperiert zu haben. Eine Nominierung wurde ihr verwehrt. Sie wurde dann auf einer indigenistischen Liste mit 70 Prozent zur Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt, El Alto, gewählt. Stichwahlen gingen verloren und wurden teilweise durch MAS-Dissidenten gewonnen. Die MAS-internen Spannungen nahmen zu und regelmäßig wurden Präsident und Vizepräsident oder einzelne Minister von den sozialen Bewegungen zum Rapport einbestellt, die damals noch hinter Morales standen. Währenddessen versuchte die Opposition von ihrer Hochburg Santa Cruz aus fortlaufend, die Regierung durch „Bürgerstreiks“ zu destabilisieren, was das Land in Summe Milliarden kostete. Unter anderem war man gegen so triviale Dinge wie eine Volkszählung. Ein Fanal war die Aufforderung von Morales an „seine Regierung“ endlich in Sachen Volkszählung zu handeln – und zwar mit den Argumenten der Opposition. In dem Maße, wie die Kritik am Expräsidenten wuchs, der aus dem sicheren Exil heraus jene kritisiert hatte, die daheim für ihn den Kopf hingehalten hatten, wurde Morales’ Kritik an „seiner“ Regierung immer direkter und schriller. Morales warf ihr einen Rechtsruck und Paktieren mit der Opposition vor, nachdem man sich auf ein Verfahren zur Volkszählung geeinigt hatte. Zwölf Abgeordnete wurden aus der Partei ausgeschlossen, jegliche Kritik als „Verrat“ diffamiert. Als sich der junge Innenminister Eduardo del Castillo im Jänner 2022 „erdreistete“, Maximiliano Dávila zu verhaften, der unter Morales Chef der Spezialkräfte für den Kampf gegen den Drogenhandel gewesen war, nun aber von der DEA gesucht wurde und sich auf der Flucht nach Argentinien befand, wurde er neben Vizepräsident Choquehuanca und zusammen mit dem Justizminister zum Lieblingsfeind. Morales sprach von einem sinistren Plan gegen ihn und verlangte immer wieder deren Rücktritt. Man beschuldigte sich gegenseitig, mit dem Drogengeschäft unter einer Decke zu stecken. Als die MAS-Parlamentsfraktion zusammen mit der Opposition ein Amtsenthebungsverfahren gegen del Castillo durchsetzte, wurde er von Präsident Arce umgehend wieder berufen. Schließlich hatte er sich nicht nur aktiv gegen die Machtergreifung der Rechten 2019 gewehrt. Er hatte zusammen mit dem Justizminister auch dafür gesorgt, dass die maßgeblich Verantwortlichen vor Gericht gestellt wurden, darunter eine ganze Reihe hoher Militärs. Selbstdemontage der MAS Im Oktober 2023 war das Band zerrissen. Es gab bereits zwei MAS-Parlamentsfraktionen und auch die sozialen Bewegungen waren in „evistas“ und „arcistas“ gespalten. Morales berief einen Parteitag in seiner Hochburg im Kokaanbaugebiet des Tropico de Cochabamba ein, wo sich der lider indiscutible zwei Jahre vor den Wahlen zum Parteichef wiederwählen und vorzeitig zum Spitzenkandidat küren ließ. Dass Arce und Choquehuanca nicht kamen wurde als „Selbstausschluss“ gewertet. Freilich wurde der Parteitag als solcher wegen Verfahrensfehlern bei der Einberufung vom Wahlgerichtshof nicht anerkannt. Der Oberste Gerichtshof untersagte Morales schließlich mit einer abenteuerlichen Auslegung der Verfassung überhaupt die Kandidatur, weil er schon zweimal Präsident war. Diese spricht freilich für diesen Fall wie gesagt von aufeinanderfolgenden Amtsperioden. Die „evistas“ erkennen das Urteil nicht an, weil die Amtszeit der Richter bereits abgelaufen war. Eine Neuwahl der Verfassungsrichter war wegen der Pattsituation im Parlament nicht möglich gewesen. Im Mai 2024 wählten die „arcistas“ auf „ihrem“ Parteitag in El Alto mit Unterstützung des ihnen nahe stehenden „Einheitspakts“ der sozialen Organisationen den Bauerngewerkschafter (CSUTCB) Grover García zum Parteichef der MAS. Die „evistas“ protestierten dagegen mit Märschen und Straßenblockaden, die teilweise gewalttätig verliefen und sukzessive an Zulauf verloren. Auch sie dürften Milliardenschäden für die Volkswirtschaft verursacht haben. Präsident Arce hielt sich derweil vornehm zurück: Es sei die Zeit zu arbeiten. Für eine Kandidatenwahl sei es zu früh, gab er den fleißigen Administrator. Ein Volkstribun ist er ohnehin nicht. Dafür verfügt er als Präsident über die Mittel, seine Gefolgschaft bei der Stange zu halten. Woher Morales sie nimmt, ist nicht bekannt. Dabei steckt Bolivien in einer ernsten Wirtschaftskrise. Dollars sind knapp. Zeitweise muss händeringend Diesel importiert werden und die Lähmung des Transportsektors befeuert die Inflation. Ersatzinvestitionen wurden lange vernachlässigt. Die Regierung gibt die Schuld der Blockade der „evistas“, die im Parlament zusammen mit der Opposition Gesetze und Kreditbewilligungen blockierten. Die Devisenreserven fallen schon seit 2015 und liegen mit 1,9 Mrd. US-Dollars (USD; entspricht 4 Prozent des PIB) auf dem niedrigsten Stand seit 2005. Ein Bericht der UN Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) listet Bolivien unter den Ländern mit dem niedrigsten Wachstum und der höchsten Inflation auf. Präsident Arce wurde in der öffentlichen Wahrnehmung vom Architekten des bolivianischen Wirtschaftswunders zum Versager. In Umfragen liegt er bei 5 Prozent, während Morales immerhin noch rund 20 Prozent zugeschrieben werden. Ein bolivianischer Elon Musk? Was diese Umfragen wert sind, ist die Frage. Am meisten Aufmerksamkeit genossen jene, die von Marcelo Claure in Auftrag gegeben wurden, einem Selfmade-Unternehmer und Besitzer von Fußballclubs in Bolivien und den Vereinigten Staaten. Er strebe selbst kein Regierungsamt an, sagt er, wolle aber gerne helfen, Bolivien aus der Krise zu führen. Hauptsache, die Herrschaft der MAS ende. Aber Andrónico wäre noch immer besser als ein Pädophiler (Morales) oder ein Unfähiger (Arce): „Andrónico es mil veces mejor que un pedófilo o un incapaz y tengo mucha fé que todos trabajaremos juntos para sacar a Bolivia de este hueco“. Seine politische Präferenz liegt rechts der Mitte. Dort tritt eine Reihe von Altpolitikern an. Manfred Reyes Villa, 2021 mit 59 Prozent erneut zum Bürgermeister von Cochabamba gewählt, kommt ursprünglich aus dem Umfeld der ADN von Exdiktator Hugo Banzer. Er gilt als ebenso effizienter wie korrupter Administrator. Nach der Machtübernahme der MAS 2006 musste er mit einem halben Dutzend Korruptionsverfahren im Gepäck außer Landes fliehen. Daneben scheint eine Rechtsallianz, die hauptsächlich aus Drahtziehern der 2019 eingesetzten „Interimsregierung“ bestand, mit dem Ausscheiden von „Tuto“ Quiroga zerbrochen. Ihr wurden rund 20 Prozent prognostiziert. Quiroga war nach dem Krebstod von Hugo Banzer als dessen Vize von August 2001 bis August 2002 schon einmal zum Präsident aufgerückt. Er gilt als Schlüsselfigur jener illustren Runde, die nach der Flucht von Morales 2019 in der Universidad la Católica die Strippen für die Einsetzung der „Interimsregierung“ zog. Frontmann ist nunmehr der Zementunternehmer Samuel Doria Medina, der bereits 1992 unter dem sozialdemokratischen Präsidenten Jaime Paz Zamora einmal Planungsminister war. Er gilt als liberal-gemäßigt. Ebenso wie Carlos D. Mesa der Zweitplatzierte bei den Wahlen vom Oktober 2019, vormals ein honoriger Journalist und Historiker, der jedoch wegen seiner Rolle bei den Novemberereignissen von 2019 als „verbrannt“ gilt. Mit von der Partie ist aus dem Gefängnis Chonchocoro heraus auch Fernando Camacho, Organisator der Blockadeaktionen von Santa Cruz gegen die Regierung Arce, der sich damit brüstet, dass sein Vater 2019 die Polizei geschmiert und zur Rebellion angestiftet hat. Er wurde deshalb am 28. Dezember 2022 verhaftet. Im Umfeld der Überreste der seinerzeit von Hugo Banzer gegründeten ADN geistert ferner der notorische Speiseöltycoon Branco Marincovic herum, der bereits beim Zivilputsch von Santa Cruz 2008 die Fäden zog. Bolivien hat eine sehr junge Bevölkerung. Viele Wählerinnen und Wähler sind unter 30 Jahre alt und dürften sich kaum noch an die erfolgreichen ersten Jahre der Morales - Regierung erinnern, geschweige denn an das voraus gegangene Chaos und die damit verbundenen politischen Dinosaurier. Eine wichtige Rolle dürfte die Präsenz in den sozialen Medien spielen. Der Faktor Andrónico Politologen sprechen von einem dysfunktionalen Parteiensystem. Die einzige Partei mit nationaler Reichweite und Verankerung ist die MAS – und selbst die hatte vor den Regionalwahlen 2021 Schwierigkeiten, geeignete Kandidaten zu finden. Die Finanzierung ist ein großes Problem. Man ist in einer Partei, weil man im Falle ihres Wahlsiegs auf einträgliche Posten hofft. Umgekehrt suchen sich Persönlichkeiten eingetragene Wahlkürzel, die sich mitunter sogar in Familienbesitz befinden und vermietet werden. Morales etwa ist aktuell verzweifelt auf der Suche nach so einer "Taxipartei". Ferner will er mit einem Marsch auf La Paz seine Kandidatur erzwingen. Ebenfalls auf der Suche nach einer „politischen Heimat“ ist Andrónico Rodríguez. Der 36-jährige Senatspräsident stammt aus Morales’ Kernland im Trópico und wurde von ihm als potenzieller Nachfolger aufgebaut. Lange führte er im Parlament die Fraktion der „evistas“ an, war dabei aber eher moderat und besonnen. Nach langem Zögern ist er nun vielfachen Rufen nach einer politischen Frischzellenkur nachgekommen und hat erklärt, dass er kandidieren wolle. Die „evistas“ sprachen umgehend von Verrat. Er steht für eine Fortführung des proceso de cambio und der bäuerlich-plebejischen Orientierung, kommt mit seiner Dialogbereitschaft aber auch bei den städtischen Intellektuellen an. Nun sucht der erklärte Kandidat nach einer Partei. Noch ist nicht abzusehen, wohin die Reise geht. In Frage kommen das Movimiento Tercer Sistema von Felix Patzi, der einmal Bildungsminister unter Morales war und gefeuert wurde oder das Movimiento de la Renovación Nacional der Bürgermeisterin Eva Copa, denen er erst Statur geben könnte. Oder ist Andrónico die letzte Chance für die MAS? Die hatte nach der Kandidatur von Andrónico Rodríguez einen Parteitag, auf dem Luis Arce zum Präsidentschaftskandidaten gekürt werden sollte, auf unbestimmte Zeit verschoben und Präsident Arce erklärte daraufhin, er würde nicht kandidieren und forderte Morales auf, es ihm gleich zutun. Beides vergeblich: Rodríguez wollte nicht für die "arcistas" kandidieren. Nachtrag (26.5.) nach Registrierungsschluss Der Nationale Wahlgerichtshof gab nunmehr folgende Kandidatenlisten bekannt: Nueva Generación Patriótica (NGP): Präsidentschaftskandidat Jaime Dunn mit Vizepräsidentschaftskandidat Édgar Uriona Partido Demócrata Cristiano (PDC): Rodrígo Paz mit Edman Lara Frente Izquierda Revolucionaria (FIR) y Demócratas: Jorge Quiroga mit Juan Pablo Velazco Unidad Nacional (UN) y Creemos : Samuel Doria Medina mit José Luis Lupo APB – Sumate : Manfred Reyes Villa mit Juan Carlos Medrano Libertad y Progreso/ ADN : Paulo Folster mit Antonio Saravia Fuerza del Pueblo : Jhonny Fernandez mit Felípe Quispe Aus der (noch) Regierungspartei MAS gingen letztlich drei Listen hervor: Movimiento al Socialismo (MAS): Eduardo del Castillo und Milán Berna (aus der Bauerngewerkschaft CSUTCB) Movimiento de Renovación Nacional (MORENA): Eva Copa mit Jorge Richter (vormals Regierungssprecher von Präsident Arce) Alianza Popular/ MTS : Andrónico Rodríguez mit Mariana Prado (von 2017-2019 Planungsministerin unter Morales; gegenwärtig läuft noch ein Verfahren, ob das Movimiento Tercer Sistema von Felix Patzi die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt) Evo Morales hat seine ehemalige Ministerin für Kultur und Tourismus (2017-2019), Wilma Alanoca, als Vizepräsidentschaftskandidatin vorgesehen und kämpft mit einem für heute (26.5.) angekündigten Marsch auf La Paz weiterhin um nachträgliche Zulassung.
von © Robert Lessmann Dr 27. Januar 2025
Beim Thema Migration haben die Trump-Dekrete bereits Verzweiflung ausgelöst. Als „scary“ (erschreckend oder beängstigend) beschreibt unsere Kollegin Coletta Youngers, die bis vor Kurzem jahrzehntelang für das Washington Office on Latin America (WOLA) gearbeitet hat, die Atmosphäre seit der Amtseinführung des 47. Präsidenten. In ihrem Stadtviertel wohnen viele Migranten, die sich fragen, was mit den angekündigten Razzien auf sie zukommt. Beängstigend ist auch die umgehende Begnadigung der Teilnehmer des Sturmes auf das Kapitol, knapp 1.600 Angeklagte beziehungsweise Verurteilte, darunter Führer und Mitglieder der paramilitärischen und rechtsradikalen „Proud Boys“ und „Oath Keepers“, die wegen schwerer bis schwerster Delikte vor Gericht kamen, zum Beispiel Enrique Tarrio, Vorsitzender der „Proud Boys“, der wegen Verschwörung zu 22 Jahren Haft verurteilt worden war. Die nachträgliche Legitimierung eines Putschversuchs durch den Anstifter? Seinerseits scheinbar legitimiert durch das aktuelle Wahlergebnis, was die Sache eher schlimmer macht als besser. Beängstigend auch der sofortige Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaabkommen und der Weltgesundheitsorganisation WHO. Ein klares Bekenntnis gegen den Multilateralismus in einer Zeit multipler Krisen. „America First“, bedeutet das für Lateinamerika die Rückkehr zur Monroe-Doktrin, wonach der Halbkontinent exklusives Einflussgebiet oder Hinterhof der Vereinigten Staaten sind? Jedenfalls wird Lateinamerika an Aufmerksamkeit gewinnen. Zuletzt spielte der Halbkontinent im Süden eine eher geringe Rolle in der US-Außenpolitik, die dort auf Krisen wie Migration und Drogen bezogen war und sich sonst um andere Regionen kümmerte. Während in der ersten Amtszeit Trumps wichtige Posten, wie der des zuständigen Undersecretary for Western Hemispheric Affairs im State Department, monatelang unbesetzt blieb, legen das schon die Personalentscheidungen nahe. Außenminister wird mit Marco Rubio ein exilkubanischer Hardliner, sein Stellvertreter wird Christopher Landau, der Botschafter in Mexiko war. Schon im Vorfeld wurden Mitarbeiter des State Departments ausgetauscht und durch Getreue ersetzt. Nicht zuletzt wurden eine Reihe von Botschaftsposten in lateinamerikanischen Staaten umbesetzt. Mit Mauricio Claver-Carone wurde ein weiterer Exilkubaner, Hardliner und Sanktionsbefürworter Sonderbeauftragter für Lateinamerika. Schon während seiner ersten Amtszeit war Trump dafür bekannt, unterschiedliche Positionen gegeneinander auszuspielen. Sondergesandter – unter anderem für Venezuela – wurde mit Richard Grenell ein weiterer bekannter Hardliner, vormals Botschafter in Berlin, doch er ist mehr „Freihändler“ als Sanktionsbefürworter. Zentrale Themen dürften neben Migration und Drogen nun auch der Kampf um Rohstoffe und gegen die chinesische Dominanz sein. Hier kommt der omnipräsente Elon Musk ins Spiel, der als Autobauer direkte Interessen am Lithium-Dreieck (Argentinien, Bolivien, Chile) hat. Im WOLA erwartet man insgesamt deutliche Rückschritte bei demokratischen Normen, Räumen für die Zivilgesellschaft, dem Schutz der Minderheitenrechte, der Unabhängigkeit der Justiz, bei Initiativen für Inklusion und Vielfalt, Minderheitenrechten und beim Klimaschutz. Die Nähe zu autoritären Führern, wie Javier Milei (Argentinien), Nayib Bukele (El Salvador) oder der Bolsonaro-Familie könnte anti-demokratische Elemente in der Region beflügeln und demokratische Institutionen, bürgerliche Freiheiten und Sicherheiten sowie den Schutz der Menschenrechte in Frage stellen. Ein Sohn Bolsonaros gilt als Schlüsselfigur für die Vernetzung der lateinamerikanischen mit der internationalen Rechten und Jair Bolsonaro rief seine Anhänger zu Massendemonstrationen gegen die Einschränkungen für Musks Plattform X auf. Zur Amtseinführung konnte er nicht kommen. Wegen laufender Verfahren ist er mit einem Ausreiseverbot aus Brasilien belegt. Thema Migration Die Bekämpfung der Migration war und ist ein Trump’sches Kernthema. Er sieht sie gerne als gezielten Versuch (von wem eigentlich?) die Vereinigten Staaten zu schwächen. Migranten bezeichnet er als Terroristen, Vergewaltiger, Gesindel, Verbrecher und drohte mit der größten Abschiebungswelle, die die Welt gesehen hat. Dadurch werden vor allem Mexiko und die mittelamerikanischen Länder unter massiven Druck geraten und die Beziehungen belastet. Unter Androhung von Strafzöllen durchgesetzte Zwangsabschiebungen in Rambo-Manier gaben einen Vorgeschmack. Auch unter Biden war die Migrationspolitik restriktiv, aber durch bestimmte Schutzmechanismen – Temporary Protection Status etwa für Kinder oder Menschen aus Kuba, Haiti, Nicaragua und Venezuela – abgemildert. Nun sollen flächendeckende Razzien, auch in Spitälern und Kirchen, sowie Massendeportationen durchgeführt werden. Grenzkontrollen sollen weiter militarisiert und Grenzbefestigungen ausgebaut werden. Die mexikanische Präsidentin Claudia Sheinbaum hat angekündigt, ihre Landsleute schützen zu wollen, etwa durch Rechtsbeistand über die Konsulate. Von den angedrohten Abschiebevorhaben sind potenziell vier Millionen Menschen aus Mexiko betroffen, zwei Millionen aus Mittelamerika, mehr als 800.000 aus Südamerika und 400.000 aus der Karibik. Rhetorischer Theaterdonner und Symbolpolitik also? Jenseits des dafür bewusst in Kauf genommenen menschlichen Leids und persönlicher Katastrophen: Weder für die abschiebenden Behörden noch für die Länder, die sie aufnehmen sollen dürfte das überhaupt auch nur annähernd zu leisten sein. Mehr noch: Nicht nur für Kuba, für eine ganze Reihe krisengeplagter Volkswirtschaften sind Familienüberweisungen der wichtigste oder zumindest ein wichtiger Devisenbringer. In Guatemala, Honduras und El Salvador entsprechen sie jeweils etwa einem Viertel des Bruttoinlandsprodukts. Thema Drogen In der puritanistischen Einwanderergesellschaft waren „Drogen“ stets als besonders gravierendes und meist als von Außen in den „gesunden Gesellschaftskörper“ hereingetragenes Problem wahrgenommen worden. Die USA waren es auch, die mit der Haager Konvention von 1912 das erste internationale Drogenabkommen überhaupt forciert hatten. Seitdem Präsident Richard Nixon den Drogen im Jahr 1972 „den Krieg“ erklärte, war es über Parteigrenzen hinweg ein politisches Tabu soft on drugs zu erscheinen. Während der Präsidentschaft von Ronald Reagan kamen in den 1980er Jahren die südamerikanischen Produzentenländer von Kokain in den Focus, das als Hauptproblem angesehen wurde. Going to the source hieß die Devise. Während innenpolitisch in den letzten Jahren stärker differenziert und mehr Gewicht auf gesundheitspolitische Ansätze gelegt wurde, hat sich bei der Externalisierung der Drogenpolitik wenig geändert. Nur Weltpolizist Uncle Sam verfügt seit 1978 über ein Büro für internationale Drogen- und Gesetzesvollzugsangelegenheiten im Außenministerium, dessen Budget stets erheblich über dem des entsprechenden Pendants bei den Vereinten Nationen (UNDCP) liegt; hinzu kommen einschlägige Budgets, etwa im Pentagon.* Doch der jahrzehntelange, teilweise militarisierte Drogenkrieg ist bei hohen sozialen und ökologischen Kosten gescheitert. Die Produktion von Kokain (Bolivien, Kolumbien, Peru) ist auf Rekordniveau. Begleiterscheinung der militarisierten Drogenbekämpfung waren ausufernde Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Doch heute steht nicht mehr das pflanzenbasierte Kokain im Vordergrund, sondern das synthetisch hergestellte Fentanyl, das aus Mexiko kommt. Seit 2008 sind mehr als eine Million Menschen in den USA an Überdosen des starken Opioids Fentanyl gestorben. Nach Jahren stetigen Anstiegs geht ihre Zahl aktuell zurück. Während Trumps erster Amtszeit hatte sie sich vervierfacht. Die Biden-Administration hatte darauf mit einem Bündel von Maßnahmen der harm reduction (Schadensminderung) reagiert, während die Republikaner traditionell eher auf das Strafgesetzbuch setzen. Trump hat angekündigt, mexikanische Drogenorganisationen als Terrorgruppen einzustufen und bedroht die mexikanische Regierung mit Strafzöllen, um sie „zum Handeln zu zwingen“. In republikanischen Kreisen wurden darüber hinaus Militäreinsätze in Mexiko, einschließlich der US Special Forces angedacht. Die mexikanische Regierung dürfte über diesen Unilateralismus alles andere als begeistert sein, selbst wenn es im Endeffekt nicht so weit kommen sollte. Es drohen Gegenzölle und ein Handelskrieg zu beiderseitigem Nachteil. Gefragt wäre vielmehr Kooperation bei der Stärkung des Justizsystems und bei der Korruptionsbekämpfung. Der Fall Venezuela Hier darf man eine Rückkehr zur Politik der ersten Amtsperiode Trumps erwarten. Am Tag vor der Amtseinführung des selbsterklärten Wahlsiegers Nicolás Maduro benannte Donald Trump in einem Post dessen Gegenspieler Edmundo Gonzáles Urrutia als Präsident und lobte die Unterstützung für ihn durch die venezolanische Community in den USA. Marco Rubio sagte in seiner Anhörung als designierter Außenminister vor dem Kongress, das Land sei von kriminellen Organisationen und Drogenhändlern kontrolliert und kritisierte die Biden-Regierung für die Lockerung von Sanktionen. Trumps designierter Sicherheitsberater Michael Waltz traf Gonzáles Urrutia (noch in seiner Eigenschaft als Kongressabgeordneter für Florida) bei dessen Besuch in Washington. Dieser wirbt mit dem Argument, dass nach einem Systemwechsel Millionen Flüchtlinge freiwillig nach Venezuela zurückkehren würden. Maduro wiederum dürfte an einer Verlängerung der Öl-Lizenzen interessiert sein und könnte im Gegenzug bei publikumswirksamen Abschiebeflügen kooperieren. Venezuela ist der drittgrößte Öllieferant für die USA (2024) und Trump braucht Öl zur Reduzierung der Energiekosten („ drill baby drill“ ). Hier kommt der „Freihändler“ Richard Grenell ins Spiel, der bereits in der Vergangenheit mit Maduro verhandelt hat. Der Fall Kolumbien Kolumbien ist traditionell der wichtigste Verbündete der USA in der Region, die wichtigste Auffang- und Durchgangsstation für Migranten aus Venezuela und priorisiert den Handel mit den USA vor dem mit China – auch unter der Linksregierung von Präsident Gustavo Petro. Die USA haben dort im Rahmen des Drogenkriegs sieben Militärbasen. Zwar ist seit dem Friedensabkommen mit den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia ( FARC) von 2016 die Gewalt im Land deutlich reduziert. Wichtig wäre heute Unterstützung beim Ausbau rechtsstaatlicher Präsenz in den von den FARC verlassenen Gebieten und die Bekämpfung der Konfliktursachen. Doch weiterhin bekämpfen sich die noch aktive Guerilla ELN ( Ejército de la Liberación Nacional ), FARC-Dissidenten (zuletzt in der Region Catatumbo, wo es um Transitrouten für Kokain geht), rechtsextreme Paramilitärs untereinander – und mit dem Militär. Alle zusammen werden sie GAI ( Grupos Armados Ilegales ) genannt und diese Gruppen kontrollieren einen Großteil der Kokainproduktion, die in Hochproduktivitätszonen vor allem im Süden Kolumbiens konzentriert ist und auf historischem Rekordniveau liegt. Hier bieten sich Kooperationsmöglichkeiten. Größer scheint jedoch die Gefahr, dass die Trump-Regierung auf die alten martialischen Strategien setzt und es darüber zu Auffassungsunterschieden mit der Regierung von Gustavo Petro kommt, die man bereits mit der Erpressung von Zwangsabschiebungen brüskiert hat. Schließlich hatte man bis vor zehn Jahren unter US-Regie in großem Stil Kokafelder mit Pflanzengift aus der Luft besprüht. Der Fall Zentralamerika Zentralamerika ist neben Mexiko die wichtigste Heimat von Migranten, die in die USA kommen. Die betroffenen Länder dürften mit der angedrohten Abschiebungspraxis unter erheblichen Druck geraten. Hierzu hat man in Washington noch keinerlei spezifische Maßnahmen definiert, doch dürfte eine Abkehr von der langfristig angelegten, proaktiven Politik der Ursachenbekämpfung erfolgen, für die Vizepräsidentin Kamala Harris zuständig war. Gewalt ist die wichtigste Fluchtursache dort. Durch Massenabschiebungen dürften Gewalt und Chaos zunehmen. So werden keine Probleme gelöst, sondern neue geschaffen. Politisch könnte Präsidentin Xiomara Castro in Honduras wegen ihrer Beziehungen zu Venezuela, Kuba, Nicaragua und China unter Druck geraten. Das Trump-Lager hatte ferner enge Beziehungen zu Leuten unterhalten, die in Guatemala wegen Korruption sanktioniert wurden. Sie könnten Frühlingsluft wittern. Der Fall Kuba Unter dem Druck des nunmehrigen Außenministers Marco Rubio hatte Trump in seiner ersten Amtszeit die Tauwetter-Politik unter Präsident Obama aufgehoben, neue Sanktionen verhängt, gemeinsame Arbeitsgruppen – etwa zu Migration, Menschenrechten und Umwelt – aufgelöst und Kuba wieder auf die Liste der Staaten gesetzt, die Terror unterstützen. Einige dieser Maßnahmen wurden von der Biden-Regierung aufgehoben. Die Streichung Kubas von der „Terrorliste“ erfolgte erst nach der Freilassung von 553 Inhaftierten kurz vor Ende seiner Amtszeit und wurde nun von Trump umgehend wieder rückgängig gemacht. Mit dem Exilkubaner Marco Rubio und anderen Hardlinern in Schlüsselpositionen dürfte sich die sowieso schon sehr begrenzte Entspannung der Beziehungen erledigen. Möglicherweise liegt in der Migration ein Anknüpfungspunkt für politischen Pragmatismus, die mit der Zuspitzung der Wirtschaftskrise auf der Insel seit 2022 auf Rekordhöhe liegt. Thema WHO Die Weltgesundheitsorganisation WHO mit Sitz in Genf bedauert in einem Statement den Austritt der USA. Mit 8.000 Beschäftigten ist sie die größte UNO-Unterorganisation. Sie wurde am 7. April 1948 zu dem Zweck gegründet, sich für „bestmögliche Gesundheit für alle“ einzusetzen. Zu ihren Erfolgen gehört der Kampf gegen Infektionskrankheiten wie Polio und Pocken. Für viele Länder, gerade im globalen Süden, sind ihre Frühwarnungen, Koordination und Notfallfonds im Ernstfall lebenswichtig. Mit 18 Prozent sind die USA der größte Beitragszahler zum WHO-Budget. Der Austritt muss gegenüber dem UNO-Generalsekretär Guterres noch schriftlich erklärt werden, dann dauert es ein Jahr bis er wirksam wird. Thema Klima Die Klimakrise führt immer schneller zu immer mehr Katastrophen. Das zeigen zuletzt auch die verheerenden Brände in Kalifornien, für die Trump nur mangelhaften Katastrophenschutz verantwortlich macht. Allein im bolivianischen Amazonien sind im letzten Jahr 10 Millionen Hektar – eine Fläche größer als Österreich – abgebrannt (2023 waren es „nur“ 6,3 Millionen Hektar), während das Land nun, zur Regenzeit, unter Überschwemmungen leidet. Für Donald Trump ist die Klimakrise aber eine „Erfindung“ und er hat folgerichtig den Austritt aus dem Pariser Klimaschutzabkommen angekündigt, das mit seinem ohnehin inzwischen außer Reichweite geratendem 1,5 Prozent-Ziel am 12. Dezember 2015 beschlossen wurde. Ganz im Sinne der kurz vorher beschlossenen Agenda 2030, den Nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen. Eine weitere Abkehr vom Multilateralismus. Was sonst? Außenminister Marco Rubio hat alle Hilfsprogramme eingefroren. Es wird geprüft, ob sie in Trumps Konzept passen. Einschlägige Kooperationsprogramme zum Minderheitenschutz, Gender, Anti-Rassismus stehen ebenso zur Disposition wie die Unterstützung der in dieser Richtung aktiven NGOs. So erwartet etwa das WOLA die Rückkehr zur sogenannten Mexiko-City-Politik, die US-Hilfen an Organisationen untersagt, die Abtreibung befürworten, um nur ein Beispiel zu nennen. Der US-kolumbianische Anti-Rassismus-Aktionsplan könnten dem zum Opfer fallen. Für die nächsten zwei Jahre wird Trump eine republikanische Kongressmehrheit zur Durchsetzung seiner Politik hinter sich haben. Lateinamerika muss steifen Nordwind im Sinne der Unterstützung autoritärer Strömungen, Menschenrechtsprobleme sowie wirtschaftliche und geostrategische Herausforderungen befürchten. Geopolitik des Zugangs Nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine ist die Geopolitik zurück auf der Agenda. Dabei hat Trump – neben den Drohungen an China – zuletzt Kopfschütteln ausgelöst, indem er ankündigte, Kanada als 51. Bundesstaat integrieren und Grönland kaufen sowie den Panama-Kanal notfalls militärisch besetzen zu wollen: „Make America Great Again“. Der in den USA geborene und emeritierte Politologe der Uni Wien, Mitchell Ash, unterscheidet im Trump-Team Erzkonservative, Milliardäre und Verrückte – und vielfach wurden die geopolitischen Begehrlichkeiten als verrückt abgetan. Ganz so einfach ist es nicht. Trump liebt es Drohkulissen und Druck aufzubauen. Ein weiteres Abschmelzen der Arktis würde neue Routen für die Schifffahrt eröffnen und den Seeweg von Westeuropa nach Asien um zwei Wochen verkürzen. Kontrollieren lassen sie sich von Grönland aus, das zum EU-Mitglied und NATO-Partner Dänemark gehört. Das Trump’sche Getöse mag in einem ersten Schritt Abspaltungstendenzen beflügeln. Über den Panama-Kanal laufen 5 Prozent des Welthandels. Besonders wichtig ist er für die Verbindung der US-Westküste nach Asien. Die USA sind auch stärkster Nutzer mit 40 Prozent der transportierten Container, vor China (21) und Japan mit 14 Prozent. Überhaupt ist der Kanal als solcher ein Produkt des US-Imperialismus. Nach einer militärischen Intervention wurde Panama im Jahr 1903 von Kolumbien abgespalten und noch im gleichen Jahr wurde der Vertrag zum Bau des Kanals unterzeichnet, der dann 1914 fertig gestellt wurde. Panama war mit der Howards Air Force Base bis 1999 das Hauptquartier des für Südamerika zuständigen Southern Command der US-Streitkräfte. Im gleichen Jahr wurde der Kanal aufgrund der Carter-Torrijos-Verträge von 1977 an Panama übergeben. Heute werden an beiden Enden des Kanals die Häfen von einer Tochter der CK Hutchinson Holding mit Sitz in Hong Kong bewirtschaftet, was nicht nur Trump beunruhigen dürfte, zumal es im vergangenen Jahr 2024 wegen Wassermangel zu ernsten Behinderungen und Gerangel um die Passagen kam. Gleichzeitig wurde durch den Beschuss der Huthi-Rebellen auch der Verkehr durch den Suez Kanal behindert. Damit nicht genug wurde im November 2024 durch die peruanische Präsidentin Dina Boluarte, deren linker Vorgänger im Dezember 2022 durch einen kalten Putsch ins Gefängnis befördert worden war, der Hafen Chancay bei Lima eröffnet. Die Eröffnung erfolgte im Beisein des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping. Die staatliche chinesische Schifffahrtsgesellschaft COSCO hatte 3,4 Milliarden USD investiert. Der Sonderbeauftragte Claver-Carone trat mit dem Vorschlag hervor, Waren, die den Hafen von Chancay durchlaufen, mit 60 Prozent Zoll zu belegen. Zusammen mit Argentinien bauen die USA ihrerseits in aller Stille an einer gemeinsamen Marinebasis in Ushuaia, dem Tor zur Antarktis, wie bei einem gemeinsamen Besuch der Southcom Chefin Generalin Laura Richardson, dem US Botschafter und Präsident Javier Milei im April 2024 deutlich wurde. Nach Verlegung des Southcom aus Panama war die Basis auf dem ecuadorianischen Flughafen Manta (1999-2009) das Zentrum der militärischen US-Aktivitäten in Südamerika. Die Verträge wurden jedoch vom damaligen Präsidenten Rafael Correa nicht verlängert. Der aktuelle ecuadorianische Präsident Daniel Noboa würde sie gerne erneuern, was inzwischen aber gegen die Verfassung verstieße. Ferner braucht er die Unterstützung Washingtons bei seiner Politik der harten Hand im Kampf gegen den Drogenhandel, womit er im Weißen Haus offene Türen einrennen dürfte. Generalin Laura Richardson war es auch, die sich in der Vergangenheit mehrfach öffentlich um den Verlust der Kontrolle in Sachen Rohstoffe zu Gunsten Chinas sorgte. Hier geht es insbesondere um Kupfer und Lithium. Beides braucht man für Elektroautos und Tesla-Chef Musk dürfte ein massives Interesse am Lithium-Dreieck Argentinien, Bolivien, Chile haben. Chile ist vor Peru auch der weltgrößte Kupferproduzent. Die weltweit größten Lithium-Reserven liegen in Bolivien. Am 12. Dezember 2018 war in Berlin im Beisein des bolivianischen Außenministers und des deutschen Wirtschaftsministers Peter Altmaier ein Joint Venture zur Lithiumgewinnung gegründet worden. Bis zum November 2019 saß der beteiligte baden-württembergische Mittelständler auf unterschriftsreifen Verträgen, die dann auf Eis gelegt wurden, was zu Spekulationen über eine Beteiligung von Mitkonkurrenten am seinerzeitigen Sturz der Regierung Morales Anlass gab, zumal Elon Musk, darauf angesprochen, in seiner bekannt flapsigen Art später sagte: „Wir stürzen wen wir wollen.“ Zweifellos hätte er die finanziellen Mittel dazu. Sicher ist, dass es auch innerhalb Boliviens Widerstände gegen die Verträge gab. Nachdem eine demokratisch gewählte Regierung Ende 2020 die Regierungsgeschäfte in La Paz übernahm wurden auch Verhandlungen wiederaufgenommen, an denen aber kein europäisches Land mehr beteiligt war, was möglicherweise der zweifelhaften Rolle des damaligen EU-Botschafters León de la Torre bei der Machtergreifung der politischen Rechten geschuldet ist. Investiert haben inzwischen chinesische und ein russisches Unternehmen im bolivianischen Salar de Uyuni. Nicht nur im Lithium-Dreieck hat China die USA überholt. Chinas Handelsvolumen mit Lateinamerika ist zwischen 2000 und 2022 von 12 auf 485 Milliarden USD gestiegen. Stark gewachsen ist auch die Bedeutung chinesischer Kredite. Für Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Paraguay, Peru, Uruguay und Venezuela ist China der wichtigste Handelspartner. Drängen die USA unter Trump nun in ihren alten Hinterhof – gemäß der Monroe-Doktrin von 1823 – zurück? Diese war mit ihrem „hands off Latin America“ gegen den europäischen Imperialismus gerichtet. Heute könnte es darum gehen, Terrain zurück zu gewinnen. Allzu großes Gepolter dürfte dabei nicht hilfreich sein, zumal die progressiven Länder heute besser untereinander vernetzt sind und mit China eine mächtige Alternative haben. So erfolgten beispielsweise auf die aktuellen Drohungen gegen Mexiko und Panama umgehend Solidaritätsbekundungen aus dem Süden. Während die Lateinamerikaner auf Diversifizierung ihrer Beziehungen setzen, hat Europa ihre Avancen stets eher verpuffen lassen und ist im außenpolitischen „Beiwagerl“ Washingtons sitzen geblieben, wo Präsident Trump nun wieder mit der Abkoppelung droht. Wie auch immer: Vieles von dem, was Trump mit Pauken und Trompeten ankündigt, wird sich so gar nicht umsetzen lassen und könnte letztlich auch für die Vereinigten Staaten und seine Oligarchen selbst kontraproduktiv sein. Ungeachtet dessen dürften damit große Probleme für Lateinamerika verbunden sein. Wie ein Blick auf Lateinamerika zeigt: Das Liebäugeln mit dessen Politikstil sowie unilaterale und autoritäre Ansätze führen in die Sackgasse und schaffen mehr Probleme als sie lösen. In einer Zeit multipler und sich verschärfender Krisen ist damit zusätzlich die Gefahr zunehmender Konflikte und eines Abgleitens in den Faschismus verbunden. * Näheres siehe Lessmann, Der Drogenkrieg in den Anden, Wiesbaden, 2016; Bureau for International Narcotics Matters and Law Enforcement Affairs ; UNODC United Nations Office on Drugs and Crime.
Show More

Blog

von Robert Lessmann Dr 6. Juni 2025
Antonio Guterres muss sparen. Bei einem derzeitigen Haushalt von 3,26 Milliarden (Mrd.) € (3,7 Mrd. USD) will der UNO-Generalsekretär 15-20 Prozent einsparen. Allein im Sekretariat könnten 20 Prozent der Stellen wegfallen. Einzelne Unterorganisationen und Programme verfügen über gesonderte, oft erheblich höhere Budgets, doch auch sie sind von Kürzungen betroffen. Insgesamt könnten 7.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen sein. Besondere Gefahr besteht für Einzelorganisationen wie das Flüchtlings- und das Palästinenserhilfswerk (UNHCR und UNRWA), die in Washington besonders ungeliebt sind. Aus der Weltgesundheitsorganisation WHO sind die Vereinigten Staaten gerade wieder ausgetreten; aus der UNESCO (Erziehung, Wissenschaft und Kultur) und dem UNHCHR (Menschenrechte) sind sie unter Trump aus- und unter Biden wieder beigetreten. Dabei sind die Vereinten Nationen wegen notorisch überfälliger Beitragszahlungen ohnehin unter Druck. So waren die USA als wichtigster Geber zum 1.1.2025 mit 1,5 Mrd. USD in Verzug. Der inzwischen zweitwichtigste Geber, China, zahlt auch immer erst zum Jahresende. Angesichts der drängenden Probleme (Kriege, Konflikte, Klima) sind eine regelbasierte Weltordnung und multilaterales Handeln wichtiger denn je. Aber gerade sie sind ein Hindernis für Großmachtambitionen – und Reaktionären in ihrem Kulturkampf seit eh und je ein Dorn im Auge. Der Schweizer Unternehmer Christoph Blocher (Schweizerische Volkspartei) nannte die UNO in Ablehnung eines Beitritts (der dann 2002 doch erfolgte) bereits in den 1980er Jahren einen Hort des Kommunismus. Die USA, China und Russland haben den Internationalen Gerichtshof in Den Haag nie anerkannt und missachten seine Urteile, was nicht verwundert, verfolgen diese drei ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats in ihrer Außenpolitik doch expansionistische Ziele. Ganzheitliche Analysen und Nachhaltigkeit Mit den 2015 verabschiedeten nachhaltigen Entwicklungszielen (auch Agenda 2030) legen die Vereinten Nationen schon seit zehn Jahren mehr Wert auf ressortübergreifende Ansätze und Nachhaltigkeit. Soeben (20.5.2025) ist beim in Wien ansässigen Büro für Drogen und Verbrechensbekämpfung (UNODC) ein Bericht erschienen: „ Minerals Crime: Illegal Gold Mining “, als Teil einer in Arbeit befindlichen Globalanalyse von Verbrechen, die die Umwelt schädigen. Bereits der World Drug Report 2023 hatte ein ganzes Kapitel 4 der Verschränkung krimineller Aktivitäten und der Umweltzerstörung in Amazonien gewidmet. (Wir berichteten an dieser Stelle: „Amazoniens Unterwelt“, 26. November 2024, robert-lessmann.com/amazoniens-unterwelt/) Gleich fünf UNO-Unterorganisationen erarbeiteten einen Bericht über Ernährungsunsicherheit in Lateinamerika und der Karibik, der bereits 2024 erschienen ist.* Demnach ist die Region nach Asien am meisten von der Klimakrise betroffen. Unmittelbare Folgen sind Extremwetterereignisse und sinkende landwirtschaftliche Produktivität. Soziale Ungleichheit komme als verschärfender Faktor hinzu. Im Jahr 2023 waren 41 Millionen Menschen in der Region von Hunger betroffen; eine besonders starke Zunahme sei in der Karibik festzustellen. 187,6 Millionen Personen leiden unter Ernährungsunsicherheit, eines von zehn Kindern unter fünf Jahren leidet an Mangelernährung. Paradoxerweise gehen Unterernährung und Übergewicht miteinander einher, sagt Karin Hulshof, die Regionaldirektorin von UNICEF für Lateinamerika und die Karibik. Das Recht von Frauen und Kindern auf Nahrung müsse bei allen Entscheidungen zur Klimapolitik Priorität haben, fordert sie. Im Jahr 2022 waren weltweit 5,6 Prozent der Kinder unter fünf Jahren von Übergewicht betroffen. In Lateinamerika waren es 8,6 Prozent. Die Hälfte der Bevölkerung in der Karibik könne sich keine gesunde und ausgewogene Ernährung leisten, in Mittelamerika seien es 26,3 Prozent und in Lateinamerika 26 Prozent. Laut FAO müsse die Landwirtschaft klimaresilienter werden, damit sie zunehmende Herausforderungen durch den Klimawandel und Extremwetterereignisse besser überstehen kann. Ein Bericht des UN-Weltentwicklungsprogramms (UNDP) vom Jänner 2025 analysiert ebenfalls Probleme durch den Klimawandel, geringe Produktivität, schwaches Wirtschaftswachstum, strukturelle Ungleichheit sowie Vertrauensverlust in Politik und Institutionen. Schon bald müsse man in vielen Ländern Lateinamerikas und der Karibik mit Wasserknappheit rechnen und bis zum Jahr 2080 mit einer schweren Wasserkrise. Das UNDP empfiehlt unter anderem Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Technologie. Politische Entscheidungen – zum Beispiel in Argentinien – gehen in eine andere Richtung. Von Seepferdchen und dem Kokain der Meere: Wildlife Crime Report 2024 Auch ein halbes Jahrhundert nach Inkrafttreten des Washingtoner Artenschutzabkommens (CITES, verabschiedet 1973; heute 184 Unterzeichnerstaaten) sind viele Tier- und Pflanzenarten gefährdet oder vom Aussterben betroffen. Nur wenige Bereiche, wie Elfenbein und Nashorn, genießen globale Aufmerksamkeit. Andere Arten, wie akut vom Aussterben bedrohte Orchideen, werden kaum beachtet. In Südamerika liegen die gravierendsten Probleme im Bereich von Tropenhölzern, wie Großbeschlagnahmungen zeigen. Auch hier weist der Bericht auf gefährliche Verschränkungen verschiedener krimineller Sektoren hin, im konkreten Fall mit dem Drogenhandel und dem illegalen Goldabbau. Auch eine soziale Sensibilität greift Platz, die man sich in anderen Bereichen, wie zum Beispiel dem Kokaanbau, auch längst gewünscht hätte. So sind Seepferdchen ein nicht zu unterschätzender illegaler Exportartikel Perus für Aquarien oder getrocknet (nach Asien, etwa Thailand oder die Philippinen). Peru ist übrigens die drittgrößte Fischereination nach China und Indonesien. Die Seepferdchen kommen meist tot oder sterbend als Beifang. Die Illegalität beginnt mit der Anlandung. Fischer sehen den Seepferdchen-Beifang als eine Art Bonus und wissen meist gar nicht, dass ihr Tun illegal ist. Sie wieder in die See zu werfen erscheint so sinnlos wie eine Bestrafung für das unabsichtliche Werk der kleinen Fischer. Illegal ist in Peru aber das Fischen mit Schleppnetzen innerhalb der Fünfmeilenzone, wo die meisten Seepferdchen hängen bleiben dürften. Gute Geschäfte machen Aufkäufer und Händler. Davon zeugen einzelne Beschlagnahmungen im Bereich von mehreren hundert Kilogramm. Im Jahr 2017 wurden 900 kg in Vietnam in einem Container aus Peru beschlagnahmt. Im September 2019 waren es 1.043 kg getrocknete Seepferdchen in einem Schiff vor der peruanischen Küste. Besonders kurios ist die Symbiose von Drogenexport und der illegalen Fischerei durch Mitglieder mexikanischer Drogenorganisationen. Ursprünglich ein willkommenes Zubrot beim Drogentransit, entdeckte man mit der Schwimmblase eines vom Aussterben bedrohten Fisches (Totoaba) das „Kokain der Meere.** Die Fischer erhalten dafür pro Kilo zwischen 500 und 3.000 USD. In China, wo sie in Suppen, in der traditionellen Medizin oder sogar als Wertanlage verwendet wird, kann man 80.000 USD erzielen. Washington isoliert Von einem Wendepunkt in der Geschichte der internationalen Drogenpolitik spricht Ann Fordham, Direktorin der NGO International Drug Policy Consortium (IDPC): Mit 30 Stimmen, 18 Enthaltungen und drei Gegenstimmen (Argentinien, Russland und die USA) nahmen die Delegierten der 68. Commission on Narcotic Drugs (CND) des Wirtschafts- und Sozialrates der UN, die im März diesen Jahres in der Wiener UNO-City stattfand, eine unter Federführung Kolumbiens eingebrachte Resolution an, die die Einrichtung einer 19-köpfigen Expertengruppe vorsieht, um das Regelwerk der internationalen Drogenkontrolle zu überdenken und „to prepare a clear, specific, and actionable set of recommendations aimed at enhancing the implementation of the three drug conventions, as well as the obligation of all relevant international instruments, and the achievement of all international drug policy commitments.“ Zehn Mitglieder bestimmt die CND, fünf der Generalsekretär und drei das International Narcotics Control Board (INCB, der UN Suchtstoffkontrollrat zur Überwachung der Einhaltung der drei UN-Drogenkonventionen) und eines die Weltgesundheitsorganisation WHO. Dieser Beschluss reiht sich ein in eine Tendenz der allmählichen Öffnung der internationalen Drogenkontrolle, die ursprünglich fast vollständig von den USA dominiert war. So räumte die UN Sondergeneralversammlung zum Thema Drogen von 2016, bei deren Vorbereitung erstmals andere UN Unterorganisationen, wie die WHO oder das Hochkommissariat für Menschenrechte und zivilgesellschaftliche Organisationen mitwirkten, größere „Interpretationsspielräume“ bei der Auslegung der drei UN Drogenkonventionen ein, um Desertionen vorzubeugen. NGO-Vertreterinnen machen nicht zuletzt ein „atemberaubend arrogantes Eingangsstatement“ und völlig unflexible Positionen ohne Verhandlungsbereitschaft der US-Delegation für das klare Votum der Delegierten verantwortlich. So wurden China, Kanada und Mexiko entgegen aller Gepflogenheiten direkt angegriffen und für die vielen Überdosis-Toten der US-Opioidkrise verantwortlich gemacht. Die kolumbianische Botschafterin Laura Gil in ihren Statement: „Alle Kolumbianerinnen und Kolumbianer verstehen und spüren, dass das globale Drogenproblem einen Schatten auf uns alle wirft, und dieses Forum ist eine Einladung, um unter dem Schirm der Konventionen das Prinzip der gemeinsamen und geteilten Verantwortung [für das Drogenproblem R.L.] jetzt und heute zu überdenken. Mein Land hat mehr Menschenleben geopfert als jedes andere in diesem Drogenkrieg, der uns aufgezwungen wurde. (…) Unsere besten Männer und Frauen und ein Löwenanteil unseres Budgets gingen in die Bekämpfung des illegalen Drogenhandels. Wir brauchen neue und effektivere Mittel um ein globales System zu verwirklichen. Weiter zu machen wie bisher wird zu nichts führen.“ Ob diese Resolution tatsächlich einen Wendepunkt darstellen wird, muss ihre Umsetzung zeigen. Diese könnte, wie andere vielversprechende Ansätze, finanziellen Strangulierungen zum Opfer fallen. Laura Gil, die treibende Kraft dahinter, wurde am 5. Mai zur Stellvertretenden Generalsekretärin der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) gewählt und wird Wien verlassen. In der UNO-City kursieren Gerüchte und Spekulationen darüber, wie es mit den verschiedenen Unterorganisationen, wie etwa dem UNODC, weiter gehen könnte. Bei aller berechtigten Kritik an den Schwächen der Vereinten Nationen: Sie sind nur so stark wie ihre Mitgliedsländer es zulassen. Das Geschäft jener zu betreiben, die sie ohnehin schwächen oder abschaffen wollen, wäre abenteuerlich. * Food and Agriculture Organization (FAO), Fondo Internacional de Desarrollo Agrícola (FIDA) Organisación Panamericana de Salud (OPS), Programa Mundial de Alimentos (WFP) und UNICEF: „El Panorama Regional de la Seguridad Alimentaria y la Nutrición 2024“ ** Neben dem erwähnten UNODC-Bericht auch: Israel Alvarado Martínez and Aitor Ibáñez Alonso: „Mexican Organized Crime and the Illegal Trade in Totoaba Maw“ in: Organized Crime 24, No. 4, 1st Dec. 2021 (https://doi.org/10.1007/s12117-021-09436-9)
von Robert Lessmann Dr 14. Mai 2025
Das hatte sich der wohl erfolgreichste Präsident, den Bolivien je hatte, anders vorgestellt. Das kleine Land im Herzen des Halbkontinents war nach seinem Erdrutschsieg Ende 2005 vielbeachteter Hoffnungsträger. Könnte die Entwicklung dort ein Vorbild sein? Nichts weniger als die „Neugründung Boliviens“ hatte man sich vorgenommen. Eine Regierung der sozialen Bewegungen wollte man sein. Bereits sechs Wochen nach Amtsantritt wurde ein Einberufungsgesetz zu einer verfassunggebenden Versammlung verabschiedet. Die neue Verfassung wurde dann 2009 – erstmals durch eine Volksabstimmung – angenommen. Bolivien wurde durch sie zum „plurinationalen Staat“. Soziale Rechte, Indígena-Rechte und die Rechte der Pachamama wurden darin festgeschrieben. Indigene Sprachen wurden auch Amtssprachen und die bunte Wiphala-Fahne gleichwertig neben die rot-gelb-grüne Nationalflagge gestellt. Die Nationalisierung der Kohlenwasserstoffressourcen vom 1. Mai 2006 spülte bei günstiger Konjunktur Devisen in die Staatskasse, die für eine Umverteilungs- und Sozialpolitik verwendet wurden. Die Armutsquote sank deutlich, die durchschnittliche Lebenserwartung stieg um Jahre. Ein bedeutender Teil der Unterschicht stieg in die untere Mittelschicht auf. Deren Binnennachfrage stabilisierte die Wirtschaft, auch als die Exporteinnahmen nach 2015 einbrachen. Grundlage war der Extraktivismus, insbesondere die Exporte von Erdgas. Grundlegende Strukturreformen unterblieben. Die Präsidentschaft von Morales war von einer Serie von Wahlen und Abstimmungen begleitet, was manche Beobachter als referenditis bezeichneten. Er hat sie alle mit absoluter Mehrheit gewonnen: eine bis dato in Bolivien unbekannte politische Stabilität. Nur nicht die beiden letzten... Heute sitzt Morales im Trópico de Cochabamba ohne Kandidatenstatus, ohne Partei, von einem harten Kern seiner Getreuen beschützt. Gegen ihn läuft ein Verfahren wegen Sex mit Minderjährigen und Menschenhandel. Wie kam es dazu? Morales’ Fall Schon in seiner Zeit als Gewerkschaftsführer hat Morales Widersacher und Gegenkandidaten erfolgreich ausgeschaltet. Als Präsident wechselte er seine Minister in rascher Reihenfolge, servierte unter anderem seinen Mentor und Lehrmeister ab, den großen alten Gewerkschafter Filemón Escobar, und war sehr erfolgreich darin, die wichtigsten der vielen sozialen Bewegungen zu bedienen, die seine Regierung unterstützten. Die neue Verfassung vom Januar 2009 sieht in Art. 168 nur zwei aufeinanderfolgende Amtsperioden vor. Ein Referendum zur Änderung dieses Artikels ging im Februar 2016 knapp verloren. Mitentscheidend waren damals Berichte eines „Enthüllungsjournalisten“ über ein gemeinsames außereheliches Kind des Präsidenten mit einer stets grell geschminkten Blondine, was dieser abstritt. Bilder von gemeinsamen Auftritten – etwa beim Karneval von Oruro – belegten demgegenüber zumindest eine gewisse Verbindung zwischen beiden und später wurde die Dame zu einer Haftstrafe verurteilt. Sie hatte in dieser Zeit millionenschwere Regierungsaufträge für die chinesische Firma an Land gezogen, für die sie arbeitete. Der Ruf war angekratzt, doch wurden keine Spuren eines angeblichen Kindes gefunden. Politisch schlimmer wog, dass Morales das Ergebnis dieses Votums ignorierte und bei den Wahlen vom Oktober 2019 erneut kandidierte, was seinen Ruf als Demokrat nachhaltig beschädigte. Seine Popularität sank. Für die Opposition war klar: Es würde Wahlbetrug geben, das Regierungslager sah einen Putsch voraus. Die Wahlen brachten dann herbe Verluste von wahrscheinlich 14 Prozent, doch Morales gewann sie noch immer mit etwa 47 Prozent. Fraglich blieb, ob er 10 Prozentpunkte vor dem stärksten Oppositionskandidaten lag, wodurch eine Stichwahl vermieden würde. Als in der Wahlnacht die Schnellauszählung (nicht die amtliche!) angehalten wurde, nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Sechs von neun Departments-Wahlzentralen gingen in Flammen auf. Straßenproteste wurden wenige Tage später durch eine Polizeimeuterei befeuert. Schließlich legte der Armeechef Morales den Rücktritt nahe. Präsident und Vizepräsident gingen erst ins mexikanische Exil, dann nach Buenos Aires. Dorthin – so die heutige Anklage – sollen Morales immer wieder junge Mädchen zugeführt worden sein. Mit einer seinerzeit Fünfzehnjährigen soll er eine Tochter haben. Es war Hybris der Macht, mit der sich Morales selbst ins Abseits manövrierte. In Bolivien übernahm eine De-facto-Regierung, die von der politischen Rechten getragen wurde, von Korruption gekennzeichnet war und ohne Umschweife versuchte, den Prozess des Wandels, der seit 2006 stattgefunden hatte, rückgängig zu machen. Sie scheiterte an den Herausforderungen der Corona-Pandemie und politischen Ambitionen der Beteiligten. So wurde der Zweitplatzierte bei der Wahl von 2019, Carlos D. Mesa, praktisch ausgeschaltet. Vor allem aber erzwangen die machtvollen sozialen Bewegungen, die die MAS-Regierung stets getragen hatten, durch Straßenblockaden Neuwahlen, die dann im November 2021 die MAS mit 55,1 Prozent eindrucksvoll zurück an die Macht brachten. Vom argentinischen Exil aus hatte Morales seinen langjährigen Superminister für Wirtschaft und Finanzen, Luis Arce, als Spitzenkandidaten nominiert und seinen Intimfeind David Choquehuanca als Kandidat für die Vizepräsidentschaft. Der langjährige Außenminister hatte sich nach dem verlorenen Referendum vom Februar 2016 als Kandidat ins Spiel gebracht und war von Morales daraufhin auf einen Diplomatenposten ins „Exil“ befördert worden. Die Parteibasis hatte zuvor für Choquehuanca und Andrónico Rodríguez als Vize votiert, einen jungen politischen Ziehsohn Morales’. Nach dem Amtsantritt der Regierung Arce/ Choquehuanca kehrte Morales, vom argentinischen Präsidenten Alberto Fernández bis an die Grenze begleitet, im Triumphzug nach Bolivien zurück und versuchte sogleich, als Parteichef und Übervater weiterhin die Regierung zu lenken. Das konnte nicht gutgehen. Schon die Regionalwahlen von Anfang 2021 wurden – obzwar deutlich gewonnen – zum relativen Misserfolg. Es reüssierten oftmals Kandidaten und Kandidatinnen, die von Morales ausgebremst worden waren. Der jungen Eva Copa, die als Senatspräsidentin das Fähnlein der MAS gegen die De-facto-Regierung hochgehalten hatte während die Parteispitze im sicheren Exil saß, wurde vorgeworfen, mit der Regierung kooperiert zu haben. Eine Nominierung wurde ihr verwehrt. Sie wurde dann auf einer indigenistischen Liste mit 70 Prozent zur Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt, El Alto, gewählt. Stichwahlen gingen verloren und wurden teilweise durch MAS-Dissidenten gewonnen. Die MAS-internen Spannungen nahmen zu und regelmäßig wurden Präsident und Vizepräsident oder einzelne Minister von den sozialen Bewegungen zum Rapport einbestellt, die damals noch hinter Morales standen. Währenddessen versuchte die Opposition von ihrer Hochburg Santa Cruz aus fortlaufend, die Regierung durch „Bürgerstreiks“ zu destabilisieren, was das Land in Summe Milliarden kostete. Unter anderem war man gegen so triviale Dinge wie eine Volkszählung. Ein Fanal war die Aufforderung von Morales an „seine Regierung“ endlich in Sachen Volkszählung zu handeln – und zwar mit den Argumenten der Opposition. In dem Maße, wie die Kritik am Expräsidenten wuchs, der aus dem sicheren Exil heraus jene kritisiert hatte, die daheim für ihn den Kopf hingehalten hatten, wurde Morales’ Kritik an „seiner“ Regierung immer direkter und schriller. Morales warf ihr einen Rechtsruck und Paktieren mit der Opposition vor, nachdem man sich auf ein Verfahren zur Volkszählung geeinigt hatte. Zwölf Abgeordnete wurden aus der Partei ausgeschlossen, jegliche Kritik als „Verrat“ diffamiert. Als sich der junge Innenminister Eduardo del Castillo im Jänner 2022 „erdreistete“, Maximiliano Dávila zu verhaften, der unter Morales Chef der Spezialkräfte für den Kampf gegen den Drogenhandel gewesen war, nun aber von der DEA gesucht wurde und sich auf der Flucht nach Argentinien befand, wurde er neben Vizepräsident Choquehuanca und zusammen mit dem Justizminister zum Lieblingsfeind. Morales sprach von einem sinistren Plan gegen ihn und verlangte immer wieder deren Rücktritt. Man beschuldigte sich gegenseitig, mit dem Drogengeschäft unter einer Decke zu stecken. Als die MAS-Parlamentsfraktion zusammen mit der Opposition ein Amtsenthebungsverfahren gegen del Castillo durchsetzte, wurde er von Präsident Arce umgehend wieder berufen. Schließlich hatte er sich nicht nur aktiv gegen die Machtergreifung der Rechten 2019 gewehrt. Er hatte zusammen mit dem Justizminister auch dafür gesorgt, dass die maßgeblich Verantwortlichen vor Gericht gestellt wurden, darunter eine ganze Reihe hoher Militärs. Selbstdemontage der MAS Im Oktober 2023 war das Band zerrissen. Es gab bereits zwei MAS-Parlamentsfraktionen und auch die sozialen Bewegungen waren in „evistas“ und „arcistas“ gespalten. Morales berief einen Parteitag in seiner Hochburg im Kokaanbaugebiet des Tropico de Cochabamba ein, wo sich der lider indiscutible zwei Jahre vor den Wahlen zum Parteichef wiederwählen und vorzeitig zum Spitzenkandidat küren ließ. Dass Arce und Choquehuanca nicht kamen wurde als „Selbstausschluss“ gewertet. Freilich wurde der Parteitag als solcher wegen Verfahrensfehlern bei der Einberufung vom Wahlgerichtshof nicht anerkannt. Der Oberste Gerichtshof untersagte Morales schließlich mit einer abenteuerlichen Auslegung der Verfassung überhaupt die Kandidatur, weil er schon zweimal Präsident war. Diese spricht freilich für diesen Fall wie gesagt von aufeinanderfolgenden Amtsperioden. Die „evistas“ erkennen das Urteil nicht an, weil die Amtszeit der Richter bereits abgelaufen war. Eine Neuwahl der Verfassungsrichter war wegen der Pattsituation im Parlament nicht möglich gewesen. Im Mai 2024 wählten die „arcistas“ auf „ihrem“ Parteitag in El Alto mit Unterstützung des ihnen nahe stehenden „Einheitspakts“ der sozialen Organisationen den Bauerngewerkschafter (CSUTCB) Grover García zum Parteichef der MAS. Die „evistas“ protestierten dagegen mit Märschen und Straßenblockaden, die teilweise gewalttätig verliefen und sukzessive an Zulauf verloren. Auch sie dürften Milliardenschäden für die Volkswirtschaft verursacht haben. Präsident Arce hielt sich derweil vornehm zurück: Es sei die Zeit zu arbeiten. Für eine Kandidatenwahl sei es zu früh, gab er den fleißigen Administrator. Ein Volkstribun ist er ohnehin nicht. Dafür verfügt er als Präsident über die Mittel, seine Gefolgschaft bei der Stange zu halten. Woher Morales sie nimmt, ist nicht bekannt. Dabei steckt Bolivien in einer ernsten Wirtschaftskrise. Dollars sind knapp. Zeitweise muss händeringend Diesel importiert werden und die Lähmung des Transportsektors befeuert die Inflation. Ersatzinvestitionen wurden lange vernachlässigt. Die Regierung gibt die Schuld der Blockade der „evistas“, die im Parlament zusammen mit der Opposition Gesetze und Kreditbewilligungen blockierten. Die Devisenreserven fallen schon seit 2015 und liegen mit 1,9 Mrd. US-Dollars (USD; entspricht 4 Prozent des PIB) auf dem niedrigsten Stand seit 2005. Ein Bericht der UN Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) listet Bolivien unter den Ländern mit dem niedrigsten Wachstum und der höchsten Inflation auf. Präsident Arce wurde in der öffentlichen Wahrnehmung vom Architekten des bolivianischen Wirtschaftswunders zum Versager. In Umfragen liegt er bei 5 Prozent, während Morales immerhin noch rund 20 Prozent zugeschrieben werden. Ein bolivianischer Elon Musk? Was diese Umfragen wert sind, ist die Frage. Am meisten Aufmerksamkeit genossen jene, die von Marcelo Claure in Auftrag gegeben wurden, einem Selfmade-Unternehmer und Besitzer von Fußballclubs in Bolivien und den Vereinigten Staaten. Er strebe selbst kein Regierungsamt an, sagt er, wolle aber gerne helfen, Bolivien aus der Krise zu führen. Hauptsache, die Herrschaft der MAS ende. Aber Andrónico wäre noch immer besser als ein Pädophiler (Morales) oder ein Unfähiger (Arce): „Andrónico es mil veces mejor que un pedófilo o un incapaz y tengo mucha fé que todos trabajaremos juntos para sacar a Bolivia de este hueco“. Seine politische Präferenz liegt rechts der Mitte. Dort tritt eine Reihe von Altpolitikern an. Manfred Reyes Villa, 2021 mit 59 Prozent erneut zum Bürgermeister von Cochabamba gewählt, kommt ursprünglich aus dem Umfeld der ADN von Exdiktator Hugo Banzer. Er gilt als ebenso effizienter wie korrupter Administrator. Nach der Machtübernahme der MAS 2006 musste er mit einem halben Dutzend Korruptionsverfahren im Gepäck außer Landes fliehen. Daneben scheint eine Rechtsallianz, die hauptsächlich aus Drahtziehern der 2019 eingesetzten „Interimsregierung“ bestand, mit dem Ausscheiden von „Tuto“ Quiroga zerbrochen. Ihr wurden rund 20 Prozent prognostiziert. Quiroga war nach dem Krebstod von Hugo Banzer als dessen Vize von August 2001 bis August 2002 schon einmal zum Präsident aufgerückt. Er gilt als Schlüsselfigur jener illustren Runde, die nach der Flucht von Morales 2019 in der Universidad la Católica die Strippen für die Einsetzung der „Interimsregierung“ zog. Frontmann ist nunmehr der Zementunternehmer Samuel Doria Medina, der bereits 1992 unter dem sozialdemokratischen Präsidenten Jaime Paz Zamora einmal Planungsminister war. Er gilt als liberal-gemäßigt. Ebenso wie Carlos D. Mesa der Zweitplatzierte bei den Wahlen vom Oktober 2019, vormals ein honoriger Journalist und Historiker, der jedoch wegen seiner Rolle bei den Novemberereignissen von 2019 als „verbrannt“ gilt. Mit von der Partie ist aus dem Gefängnis Chonchocoro heraus auch Fernando Camacho, Organisator der Blockadeaktionen von Santa Cruz gegen die Regierung Arce, der sich damit brüstet, dass sein Vater 2019 die Polizei geschmiert und zur Rebellion angestiftet hat. Er wurde deshalb am 28. Dezember 2022 verhaftet. Im Umfeld der Überreste der seinerzeit von Hugo Banzer gegründeten ADN geistert ferner der notorische Speiseöltycoon Branco Marincovic herum, der bereits beim Zivilputsch von Santa Cruz 2008 die Fäden zog. Bolivien hat eine sehr junge Bevölkerung. Viele Wählerinnen und Wähler sind unter 30 Jahre alt und dürften sich kaum noch an die erfolgreichen ersten Jahre der Morales - Regierung erinnern, geschweige denn an das voraus gegangene Chaos und die damit verbundenen politischen Dinosaurier. Eine wichtige Rolle dürfte die Präsenz in den sozialen Medien spielen. Der Faktor Andrónico Politologen sprechen von einem dysfunktionalen Parteiensystem. Die einzige Partei mit nationaler Reichweite und Verankerung ist die MAS – und selbst die hatte vor den Regionalwahlen 2021 Schwierigkeiten, geeignete Kandidaten zu finden. Die Finanzierung ist ein großes Problem. Man ist in einer Partei, weil man im Falle ihres Wahlsiegs auf einträgliche Posten hofft. Umgekehrt suchen sich Persönlichkeiten eingetragene Wahlkürzel, die sich mitunter sogar in Familienbesitz befinden und vermietet werden. Morales etwa ist aktuell verzweifelt auf der Suche nach so einer "Taxipartei". Ferner will er mit einem Marsch auf La Paz seine Kandidatur erzwingen. Ebenfalls auf der Suche nach einer „politischen Heimat“ ist Andrónico Rodríguez. Der 36-jährige Senatspräsident stammt aus Morales’ Kernland im Trópico und wurde von ihm als potenzieller Nachfolger aufgebaut. Lange führte er im Parlament die Fraktion der „evistas“ an, war dabei aber eher moderat und besonnen. Nach langem Zögern ist er nun vielfachen Rufen nach einer politischen Frischzellenkur nachgekommen und hat erklärt, dass er kandidieren wolle. Die „evistas“ sprachen umgehend von Verrat. Er steht für eine Fortführung des proceso de cambio und der bäuerlich-plebejischen Orientierung, kommt mit seiner Dialogbereitschaft aber auch bei den städtischen Intellektuellen an. Nun sucht der erklärte Kandidat nach einer Partei. Noch ist nicht abzusehen, wohin die Reise geht. In Frage kommen das Movimiento Tercer Sistema von Felix Patzi, der einmal Bildungsminister unter Morales war und gefeuert wurde oder das Movimiento de la Renovación Nacional der Bürgermeisterin Eva Copa, denen er erst Statur geben könnte. Oder ist Andrónico die letzte Chance für die MAS? Die hatte nach der Kandidatur von Andrónico Rodríguez einen Parteitag, auf dem Luis Arce zum Präsidentschaftskandidaten gekürt werden sollte, auf unbestimmte Zeit verschoben und Präsident Arce erklärte daraufhin, er würde nicht kandidieren und forderte Morales auf, es ihm gleich zutun. Beides vergeblich: Rodríguez wollte nicht für die "arcistas" kandidieren. Nachtrag (26.5.) nach Registrierungsschluss Der Nationale Wahlgerichtshof gab nunmehr folgende Kandidatenlisten bekannt: Nueva Generación Patriótica (NGP): Präsidentschaftskandidat Jaime Dunn mit Vizepräsidentschaftskandidat Édgar Uriona Partido Demócrata Cristiano (PDC): Rodrígo Paz mit Edman Lara Frente Izquierda Revolucionaria (FIR) y Demócratas: Jorge Quiroga mit Juan Pablo Velazco Unidad Nacional (UN) y Creemos : Samuel Doria Medina mit José Luis Lupo APB – Sumate : Manfred Reyes Villa mit Juan Carlos Medrano Libertad y Progreso/ ADN : Paulo Folster mit Antonio Saravia Fuerza del Pueblo : Jhonny Fernandez mit Felípe Quispe Aus der (noch) Regierungspartei MAS gingen letztlich drei Listen hervor: Movimiento al Socialismo (MAS): Eduardo del Castillo und Milán Berna (aus der Bauerngewerkschaft CSUTCB) Movimiento de Renovación Nacional (MORENA): Eva Copa mit Jorge Richter (vormals Regierungssprecher von Präsident Arce) Alianza Popular/ MTS : Andrónico Rodríguez mit Mariana Prado (von 2017-2019 Planungsministerin unter Morales; gegenwärtig läuft noch ein Verfahren, ob das Movimiento Tercer Sistema von Felix Patzi die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt) Evo Morales hat seine ehemalige Ministerin für Kultur und Tourismus (2017-2019), Wilma Alanoca, als Vizepräsidentschaftskandidatin vorgesehen und kämpft mit einem für heute (26.5.) angekündigten Marsch auf La Paz weiterhin um nachträgliche Zulassung.
von © Robert Lessmann Dr 27. Januar 2025
Beim Thema Migration haben die Trump-Dekrete bereits Verzweiflung ausgelöst. Als „scary“ (erschreckend oder beängstigend) beschreibt unsere Kollegin Coletta Youngers, die bis vor Kurzem jahrzehntelang für das Washington Office on Latin America (WOLA) gearbeitet hat, die Atmosphäre seit der Amtseinführung des 47. Präsidenten. In ihrem Stadtviertel wohnen viele Migranten, die sich fragen, was mit den angekündigten Razzien auf sie zukommt. Beängstigend ist auch die umgehende Begnadigung der Teilnehmer des Sturmes auf das Kapitol, knapp 1.600 Angeklagte beziehungsweise Verurteilte, darunter Führer und Mitglieder der paramilitärischen und rechtsradikalen „Proud Boys“ und „Oath Keepers“, die wegen schwerer bis schwerster Delikte vor Gericht kamen, zum Beispiel Enrique Tarrio, Vorsitzender der „Proud Boys“, der wegen Verschwörung zu 22 Jahren Haft verurteilt worden war. Die nachträgliche Legitimierung eines Putschversuchs durch den Anstifter? Seinerseits scheinbar legitimiert durch das aktuelle Wahlergebnis, was die Sache eher schlimmer macht als besser. Beängstigend auch der sofortige Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaabkommen und der Weltgesundheitsorganisation WHO. Ein klares Bekenntnis gegen den Multilateralismus in einer Zeit multipler Krisen. „America First“, bedeutet das für Lateinamerika die Rückkehr zur Monroe-Doktrin, wonach der Halbkontinent exklusives Einflussgebiet oder Hinterhof der Vereinigten Staaten sind? Jedenfalls wird Lateinamerika an Aufmerksamkeit gewinnen. Zuletzt spielte der Halbkontinent im Süden eine eher geringe Rolle in der US-Außenpolitik, die dort auf Krisen wie Migration und Drogen bezogen war und sich sonst um andere Regionen kümmerte. Während in der ersten Amtszeit Trumps wichtige Posten, wie der des zuständigen Undersecretary for Western Hemispheric Affairs im State Department, monatelang unbesetzt blieb, legen das schon die Personalentscheidungen nahe. Außenminister wird mit Marco Rubio ein exilkubanischer Hardliner, sein Stellvertreter wird Christopher Landau, der Botschafter in Mexiko war. Schon im Vorfeld wurden Mitarbeiter des State Departments ausgetauscht und durch Getreue ersetzt. Nicht zuletzt wurden eine Reihe von Botschaftsposten in lateinamerikanischen Staaten umbesetzt. Mit Mauricio Claver-Carone wurde ein weiterer Exilkubaner, Hardliner und Sanktionsbefürworter Sonderbeauftragter für Lateinamerika. Schon während seiner ersten Amtszeit war Trump dafür bekannt, unterschiedliche Positionen gegeneinander auszuspielen. Sondergesandter – unter anderem für Venezuela – wurde mit Richard Grenell ein weiterer bekannter Hardliner, vormals Botschafter in Berlin, doch er ist mehr „Freihändler“ als Sanktionsbefürworter. Zentrale Themen dürften neben Migration und Drogen nun auch der Kampf um Rohstoffe und gegen die chinesische Dominanz sein. Hier kommt der omnipräsente Elon Musk ins Spiel, der als Autobauer direkte Interessen am Lithium-Dreieck (Argentinien, Bolivien, Chile) hat. Im WOLA erwartet man insgesamt deutliche Rückschritte bei demokratischen Normen, Räumen für die Zivilgesellschaft, dem Schutz der Minderheitenrechte, der Unabhängigkeit der Justiz, bei Initiativen für Inklusion und Vielfalt, Minderheitenrechten und beim Klimaschutz. Die Nähe zu autoritären Führern, wie Javier Milei (Argentinien), Nayib Bukele (El Salvador) oder der Bolsonaro-Familie könnte anti-demokratische Elemente in der Region beflügeln und demokratische Institutionen, bürgerliche Freiheiten und Sicherheiten sowie den Schutz der Menschenrechte in Frage stellen. Ein Sohn Bolsonaros gilt als Schlüsselfigur für die Vernetzung der lateinamerikanischen mit der internationalen Rechten und Jair Bolsonaro rief seine Anhänger zu Massendemonstrationen gegen die Einschränkungen für Musks Plattform X auf. Zur Amtseinführung konnte er nicht kommen. Wegen laufender Verfahren ist er mit einem Ausreiseverbot aus Brasilien belegt. Thema Migration Die Bekämpfung der Migration war und ist ein Trump’sches Kernthema. Er sieht sie gerne als gezielten Versuch (von wem eigentlich?) die Vereinigten Staaten zu schwächen. Migranten bezeichnet er als Terroristen, Vergewaltiger, Gesindel, Verbrecher und drohte mit der größten Abschiebungswelle, die die Welt gesehen hat. Dadurch werden vor allem Mexiko und die mittelamerikanischen Länder unter massiven Druck geraten und die Beziehungen belastet. Unter Androhung von Strafzöllen durchgesetzte Zwangsabschiebungen in Rambo-Manier gaben einen Vorgeschmack. Auch unter Biden war die Migrationspolitik restriktiv, aber durch bestimmte Schutzmechanismen – Temporary Protection Status etwa für Kinder oder Menschen aus Kuba, Haiti, Nicaragua und Venezuela – abgemildert. Nun sollen flächendeckende Razzien, auch in Spitälern und Kirchen, sowie Massendeportationen durchgeführt werden. Grenzkontrollen sollen weiter militarisiert und Grenzbefestigungen ausgebaut werden. Die mexikanische Präsidentin Claudia Sheinbaum hat angekündigt, ihre Landsleute schützen zu wollen, etwa durch Rechtsbeistand über die Konsulate. Von den angedrohten Abschiebevorhaben sind potenziell vier Millionen Menschen aus Mexiko betroffen, zwei Millionen aus Mittelamerika, mehr als 800.000 aus Südamerika und 400.000 aus der Karibik. Rhetorischer Theaterdonner und Symbolpolitik also? Jenseits des dafür bewusst in Kauf genommenen menschlichen Leids und persönlicher Katastrophen: Weder für die abschiebenden Behörden noch für die Länder, die sie aufnehmen sollen dürfte das überhaupt auch nur annähernd zu leisten sein. Mehr noch: Nicht nur für Kuba, für eine ganze Reihe krisengeplagter Volkswirtschaften sind Familienüberweisungen der wichtigste oder zumindest ein wichtiger Devisenbringer. In Guatemala, Honduras und El Salvador entsprechen sie jeweils etwa einem Viertel des Bruttoinlandsprodukts. Thema Drogen In der puritanistischen Einwanderergesellschaft waren „Drogen“ stets als besonders gravierendes und meist als von Außen in den „gesunden Gesellschaftskörper“ hereingetragenes Problem wahrgenommen worden. Die USA waren es auch, die mit der Haager Konvention von 1912 das erste internationale Drogenabkommen überhaupt forciert hatten. Seitdem Präsident Richard Nixon den Drogen im Jahr 1972 „den Krieg“ erklärte, war es über Parteigrenzen hinweg ein politisches Tabu soft on drugs zu erscheinen. Während der Präsidentschaft von Ronald Reagan kamen in den 1980er Jahren die südamerikanischen Produzentenländer von Kokain in den Focus, das als Hauptproblem angesehen wurde. Going to the source hieß die Devise. Während innenpolitisch in den letzten Jahren stärker differenziert und mehr Gewicht auf gesundheitspolitische Ansätze gelegt wurde, hat sich bei der Externalisierung der Drogenpolitik wenig geändert. Nur Weltpolizist Uncle Sam verfügt seit 1978 über ein Büro für internationale Drogen- und Gesetzesvollzugsangelegenheiten im Außenministerium, dessen Budget stets erheblich über dem des entsprechenden Pendants bei den Vereinten Nationen (UNDCP) liegt; hinzu kommen einschlägige Budgets, etwa im Pentagon.* Doch der jahrzehntelange, teilweise militarisierte Drogenkrieg ist bei hohen sozialen und ökologischen Kosten gescheitert. Die Produktion von Kokain (Bolivien, Kolumbien, Peru) ist auf Rekordniveau. Begleiterscheinung der militarisierten Drogenbekämpfung waren ausufernde Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Doch heute steht nicht mehr das pflanzenbasierte Kokain im Vordergrund, sondern das synthetisch hergestellte Fentanyl, das aus Mexiko kommt. Seit 2008 sind mehr als eine Million Menschen in den USA an Überdosen des starken Opioids Fentanyl gestorben. Nach Jahren stetigen Anstiegs geht ihre Zahl aktuell zurück. Während Trumps erster Amtszeit hatte sie sich vervierfacht. Die Biden-Administration hatte darauf mit einem Bündel von Maßnahmen der harm reduction (Schadensminderung) reagiert, während die Republikaner traditionell eher auf das Strafgesetzbuch setzen. Trump hat angekündigt, mexikanische Drogenorganisationen als Terrorgruppen einzustufen und bedroht die mexikanische Regierung mit Strafzöllen, um sie „zum Handeln zu zwingen“. In republikanischen Kreisen wurden darüber hinaus Militäreinsätze in Mexiko, einschließlich der US Special Forces angedacht. Die mexikanische Regierung dürfte über diesen Unilateralismus alles andere als begeistert sein, selbst wenn es im Endeffekt nicht so weit kommen sollte. Es drohen Gegenzölle und ein Handelskrieg zu beiderseitigem Nachteil. Gefragt wäre vielmehr Kooperation bei der Stärkung des Justizsystems und bei der Korruptionsbekämpfung. Der Fall Venezuela Hier darf man eine Rückkehr zur Politik der ersten Amtsperiode Trumps erwarten. Am Tag vor der Amtseinführung des selbsterklärten Wahlsiegers Nicolás Maduro benannte Donald Trump in einem Post dessen Gegenspieler Edmundo Gonzáles Urrutia als Präsident und lobte die Unterstützung für ihn durch die venezolanische Community in den USA. Marco Rubio sagte in seiner Anhörung als designierter Außenminister vor dem Kongress, das Land sei von kriminellen Organisationen und Drogenhändlern kontrolliert und kritisierte die Biden-Regierung für die Lockerung von Sanktionen. Trumps designierter Sicherheitsberater Michael Waltz traf Gonzáles Urrutia (noch in seiner Eigenschaft als Kongressabgeordneter für Florida) bei dessen Besuch in Washington. Dieser wirbt mit dem Argument, dass nach einem Systemwechsel Millionen Flüchtlinge freiwillig nach Venezuela zurückkehren würden. Maduro wiederum dürfte an einer Verlängerung der Öl-Lizenzen interessiert sein und könnte im Gegenzug bei publikumswirksamen Abschiebeflügen kooperieren. Venezuela ist der drittgrößte Öllieferant für die USA (2024) und Trump braucht Öl zur Reduzierung der Energiekosten („ drill baby drill“ ). Hier kommt der „Freihändler“ Richard Grenell ins Spiel, der bereits in der Vergangenheit mit Maduro verhandelt hat. Der Fall Kolumbien Kolumbien ist traditionell der wichtigste Verbündete der USA in der Region, die wichtigste Auffang- und Durchgangsstation für Migranten aus Venezuela und priorisiert den Handel mit den USA vor dem mit China – auch unter der Linksregierung von Präsident Gustavo Petro. Die USA haben dort im Rahmen des Drogenkriegs sieben Militärbasen. Zwar ist seit dem Friedensabkommen mit den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia ( FARC) von 2016 die Gewalt im Land deutlich reduziert. Wichtig wäre heute Unterstützung beim Ausbau rechtsstaatlicher Präsenz in den von den FARC verlassenen Gebieten und die Bekämpfung der Konfliktursachen. Doch weiterhin bekämpfen sich die noch aktive Guerilla ELN ( Ejército de la Liberación Nacional ), FARC-Dissidenten (zuletzt in der Region Catatumbo, wo es um Transitrouten für Kokain geht), rechtsextreme Paramilitärs untereinander – und mit dem Militär. Alle zusammen werden sie GAI ( Grupos Armados Ilegales ) genannt und diese Gruppen kontrollieren einen Großteil der Kokainproduktion, die in Hochproduktivitätszonen vor allem im Süden Kolumbiens konzentriert ist und auf historischem Rekordniveau liegt. Hier bieten sich Kooperationsmöglichkeiten. Größer scheint jedoch die Gefahr, dass die Trump-Regierung auf die alten martialischen Strategien setzt und es darüber zu Auffassungsunterschieden mit der Regierung von Gustavo Petro kommt, die man bereits mit der Erpressung von Zwangsabschiebungen brüskiert hat. Schließlich hatte man bis vor zehn Jahren unter US-Regie in großem Stil Kokafelder mit Pflanzengift aus der Luft besprüht. Der Fall Zentralamerika Zentralamerika ist neben Mexiko die wichtigste Heimat von Migranten, die in die USA kommen. Die betroffenen Länder dürften mit der angedrohten Abschiebungspraxis unter erheblichen Druck geraten. Hierzu hat man in Washington noch keinerlei spezifische Maßnahmen definiert, doch dürfte eine Abkehr von der langfristig angelegten, proaktiven Politik der Ursachenbekämpfung erfolgen, für die Vizepräsidentin Kamala Harris zuständig war. Gewalt ist die wichtigste Fluchtursache dort. Durch Massenabschiebungen dürften Gewalt und Chaos zunehmen. So werden keine Probleme gelöst, sondern neue geschaffen. Politisch könnte Präsidentin Xiomara Castro in Honduras wegen ihrer Beziehungen zu Venezuela, Kuba, Nicaragua und China unter Druck geraten. Das Trump-Lager hatte ferner enge Beziehungen zu Leuten unterhalten, die in Guatemala wegen Korruption sanktioniert wurden. Sie könnten Frühlingsluft wittern. Der Fall Kuba Unter dem Druck des nunmehrigen Außenministers Marco Rubio hatte Trump in seiner ersten Amtszeit die Tauwetter-Politik unter Präsident Obama aufgehoben, neue Sanktionen verhängt, gemeinsame Arbeitsgruppen – etwa zu Migration, Menschenrechten und Umwelt – aufgelöst und Kuba wieder auf die Liste der Staaten gesetzt, die Terror unterstützen. Einige dieser Maßnahmen wurden von der Biden-Regierung aufgehoben. Die Streichung Kubas von der „Terrorliste“ erfolgte erst nach der Freilassung von 553 Inhaftierten kurz vor Ende seiner Amtszeit und wurde nun von Trump umgehend wieder rückgängig gemacht. Mit dem Exilkubaner Marco Rubio und anderen Hardlinern in Schlüsselpositionen dürfte sich die sowieso schon sehr begrenzte Entspannung der Beziehungen erledigen. Möglicherweise liegt in der Migration ein Anknüpfungspunkt für politischen Pragmatismus, die mit der Zuspitzung der Wirtschaftskrise auf der Insel seit 2022 auf Rekordhöhe liegt. Thema WHO Die Weltgesundheitsorganisation WHO mit Sitz in Genf bedauert in einem Statement den Austritt der USA. Mit 8.000 Beschäftigten ist sie die größte UNO-Unterorganisation. Sie wurde am 7. April 1948 zu dem Zweck gegründet, sich für „bestmögliche Gesundheit für alle“ einzusetzen. Zu ihren Erfolgen gehört der Kampf gegen Infektionskrankheiten wie Polio und Pocken. Für viele Länder, gerade im globalen Süden, sind ihre Frühwarnungen, Koordination und Notfallfonds im Ernstfall lebenswichtig. Mit 18 Prozent sind die USA der größte Beitragszahler zum WHO-Budget. Der Austritt muss gegenüber dem UNO-Generalsekretär Guterres noch schriftlich erklärt werden, dann dauert es ein Jahr bis er wirksam wird. Thema Klima Die Klimakrise führt immer schneller zu immer mehr Katastrophen. Das zeigen zuletzt auch die verheerenden Brände in Kalifornien, für die Trump nur mangelhaften Katastrophenschutz verantwortlich macht. Allein im bolivianischen Amazonien sind im letzten Jahr 10 Millionen Hektar – eine Fläche größer als Österreich – abgebrannt (2023 waren es „nur“ 6,3 Millionen Hektar), während das Land nun, zur Regenzeit, unter Überschwemmungen leidet. Für Donald Trump ist die Klimakrise aber eine „Erfindung“ und er hat folgerichtig den Austritt aus dem Pariser Klimaschutzabkommen angekündigt, das mit seinem ohnehin inzwischen außer Reichweite geratendem 1,5 Prozent-Ziel am 12. Dezember 2015 beschlossen wurde. Ganz im Sinne der kurz vorher beschlossenen Agenda 2030, den Nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen. Eine weitere Abkehr vom Multilateralismus. Was sonst? Außenminister Marco Rubio hat alle Hilfsprogramme eingefroren. Es wird geprüft, ob sie in Trumps Konzept passen. Einschlägige Kooperationsprogramme zum Minderheitenschutz, Gender, Anti-Rassismus stehen ebenso zur Disposition wie die Unterstützung der in dieser Richtung aktiven NGOs. So erwartet etwa das WOLA die Rückkehr zur sogenannten Mexiko-City-Politik, die US-Hilfen an Organisationen untersagt, die Abtreibung befürworten, um nur ein Beispiel zu nennen. Der US-kolumbianische Anti-Rassismus-Aktionsplan könnten dem zum Opfer fallen. Für die nächsten zwei Jahre wird Trump eine republikanische Kongressmehrheit zur Durchsetzung seiner Politik hinter sich haben. Lateinamerika muss steifen Nordwind im Sinne der Unterstützung autoritärer Strömungen, Menschenrechtsprobleme sowie wirtschaftliche und geostrategische Herausforderungen befürchten. Geopolitik des Zugangs Nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine ist die Geopolitik zurück auf der Agenda. Dabei hat Trump – neben den Drohungen an China – zuletzt Kopfschütteln ausgelöst, indem er ankündigte, Kanada als 51. Bundesstaat integrieren und Grönland kaufen sowie den Panama-Kanal notfalls militärisch besetzen zu wollen: „Make America Great Again“. Der in den USA geborene und emeritierte Politologe der Uni Wien, Mitchell Ash, unterscheidet im Trump-Team Erzkonservative, Milliardäre und Verrückte – und vielfach wurden die geopolitischen Begehrlichkeiten als verrückt abgetan. Ganz so einfach ist es nicht. Trump liebt es Drohkulissen und Druck aufzubauen. Ein weiteres Abschmelzen der Arktis würde neue Routen für die Schifffahrt eröffnen und den Seeweg von Westeuropa nach Asien um zwei Wochen verkürzen. Kontrollieren lassen sie sich von Grönland aus, das zum EU-Mitglied und NATO-Partner Dänemark gehört. Das Trump’sche Getöse mag in einem ersten Schritt Abspaltungstendenzen beflügeln. Über den Panama-Kanal laufen 5 Prozent des Welthandels. Besonders wichtig ist er für die Verbindung der US-Westküste nach Asien. Die USA sind auch stärkster Nutzer mit 40 Prozent der transportierten Container, vor China (21) und Japan mit 14 Prozent. Überhaupt ist der Kanal als solcher ein Produkt des US-Imperialismus. Nach einer militärischen Intervention wurde Panama im Jahr 1903 von Kolumbien abgespalten und noch im gleichen Jahr wurde der Vertrag zum Bau des Kanals unterzeichnet, der dann 1914 fertig gestellt wurde. Panama war mit der Howards Air Force Base bis 1999 das Hauptquartier des für Südamerika zuständigen Southern Command der US-Streitkräfte. Im gleichen Jahr wurde der Kanal aufgrund der Carter-Torrijos-Verträge von 1977 an Panama übergeben. Heute werden an beiden Enden des Kanals die Häfen von einer Tochter der CK Hutchinson Holding mit Sitz in Hong Kong bewirtschaftet, was nicht nur Trump beunruhigen dürfte, zumal es im vergangenen Jahr 2024 wegen Wassermangel zu ernsten Behinderungen und Gerangel um die Passagen kam. Gleichzeitig wurde durch den Beschuss der Huthi-Rebellen auch der Verkehr durch den Suez Kanal behindert. Damit nicht genug wurde im November 2024 durch die peruanische Präsidentin Dina Boluarte, deren linker Vorgänger im Dezember 2022 durch einen kalten Putsch ins Gefängnis befördert worden war, der Hafen Chancay bei Lima eröffnet. Die Eröffnung erfolgte im Beisein des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping. Die staatliche chinesische Schifffahrtsgesellschaft COSCO hatte 3,4 Milliarden USD investiert. Der Sonderbeauftragte Claver-Carone trat mit dem Vorschlag hervor, Waren, die den Hafen von Chancay durchlaufen, mit 60 Prozent Zoll zu belegen. Zusammen mit Argentinien bauen die USA ihrerseits in aller Stille an einer gemeinsamen Marinebasis in Ushuaia, dem Tor zur Antarktis, wie bei einem gemeinsamen Besuch der Southcom Chefin Generalin Laura Richardson, dem US Botschafter und Präsident Javier Milei im April 2024 deutlich wurde. Nach Verlegung des Southcom aus Panama war die Basis auf dem ecuadorianischen Flughafen Manta (1999-2009) das Zentrum der militärischen US-Aktivitäten in Südamerika. Die Verträge wurden jedoch vom damaligen Präsidenten Rafael Correa nicht verlängert. Der aktuelle ecuadorianische Präsident Daniel Noboa würde sie gerne erneuern, was inzwischen aber gegen die Verfassung verstieße. Ferner braucht er die Unterstützung Washingtons bei seiner Politik der harten Hand im Kampf gegen den Drogenhandel, womit er im Weißen Haus offene Türen einrennen dürfte. Generalin Laura Richardson war es auch, die sich in der Vergangenheit mehrfach öffentlich um den Verlust der Kontrolle in Sachen Rohstoffe zu Gunsten Chinas sorgte. Hier geht es insbesondere um Kupfer und Lithium. Beides braucht man für Elektroautos und Tesla-Chef Musk dürfte ein massives Interesse am Lithium-Dreieck Argentinien, Bolivien, Chile haben. Chile ist vor Peru auch der weltgrößte Kupferproduzent. Die weltweit größten Lithium-Reserven liegen in Bolivien. Am 12. Dezember 2018 war in Berlin im Beisein des bolivianischen Außenministers und des deutschen Wirtschaftsministers Peter Altmaier ein Joint Venture zur Lithiumgewinnung gegründet worden. Bis zum November 2019 saß der beteiligte baden-württembergische Mittelständler auf unterschriftsreifen Verträgen, die dann auf Eis gelegt wurden, was zu Spekulationen über eine Beteiligung von Mitkonkurrenten am seinerzeitigen Sturz der Regierung Morales Anlass gab, zumal Elon Musk, darauf angesprochen, in seiner bekannt flapsigen Art später sagte: „Wir stürzen wen wir wollen.“ Zweifellos hätte er die finanziellen Mittel dazu. Sicher ist, dass es auch innerhalb Boliviens Widerstände gegen die Verträge gab. Nachdem eine demokratisch gewählte Regierung Ende 2020 die Regierungsgeschäfte in La Paz übernahm wurden auch Verhandlungen wiederaufgenommen, an denen aber kein europäisches Land mehr beteiligt war, was möglicherweise der zweifelhaften Rolle des damaligen EU-Botschafters León de la Torre bei der Machtergreifung der politischen Rechten geschuldet ist. Investiert haben inzwischen chinesische und ein russisches Unternehmen im bolivianischen Salar de Uyuni. Nicht nur im Lithium-Dreieck hat China die USA überholt. Chinas Handelsvolumen mit Lateinamerika ist zwischen 2000 und 2022 von 12 auf 485 Milliarden USD gestiegen. Stark gewachsen ist auch die Bedeutung chinesischer Kredite. Für Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Paraguay, Peru, Uruguay und Venezuela ist China der wichtigste Handelspartner. Drängen die USA unter Trump nun in ihren alten Hinterhof – gemäß der Monroe-Doktrin von 1823 – zurück? Diese war mit ihrem „hands off Latin America“ gegen den europäischen Imperialismus gerichtet. Heute könnte es darum gehen, Terrain zurück zu gewinnen. Allzu großes Gepolter dürfte dabei nicht hilfreich sein, zumal die progressiven Länder heute besser untereinander vernetzt sind und mit China eine mächtige Alternative haben. So erfolgten beispielsweise auf die aktuellen Drohungen gegen Mexiko und Panama umgehend Solidaritätsbekundungen aus dem Süden. Während die Lateinamerikaner auf Diversifizierung ihrer Beziehungen setzen, hat Europa ihre Avancen stets eher verpuffen lassen und ist im außenpolitischen „Beiwagerl“ Washingtons sitzen geblieben, wo Präsident Trump nun wieder mit der Abkoppelung droht. Wie auch immer: Vieles von dem, was Trump mit Pauken und Trompeten ankündigt, wird sich so gar nicht umsetzen lassen und könnte letztlich auch für die Vereinigten Staaten und seine Oligarchen selbst kontraproduktiv sein. Ungeachtet dessen dürften damit große Probleme für Lateinamerika verbunden sein. Wie ein Blick auf Lateinamerika zeigt: Das Liebäugeln mit dessen Politikstil sowie unilaterale und autoritäre Ansätze führen in die Sackgasse und schaffen mehr Probleme als sie lösen. In einer Zeit multipler und sich verschärfender Krisen ist damit zusätzlich die Gefahr zunehmender Konflikte und eines Abgleitens in den Faschismus verbunden. * Näheres siehe Lessmann, Der Drogenkrieg in den Anden, Wiesbaden, 2016; Bureau for International Narcotics Matters and Law Enforcement Affairs ; UNODC United Nations Office on Drugs and Crime.
von Kristina Dietz und Ulrich Brand 4. Dezember 2024
Es scheint, als ob die Regierung von Nicolás Maduro trotz offensichtlicher Wahlfälschungen, breiter Proteste und internationaler Kritik, z um B eispiel von den Regierungen Kolumbiens, Chiles und Brasiliens, an der Macht bleiben kann. Wie siehst Du die Situation heute in Venezuela? Die aktuelle Situation in Venezuela ist durch das Zusammenwirken verschiedener Ereignisse gekennzeichnet. Erstens haben der Wahlbetrug vom 28. Juli und die Geschehnisse rund um die Wahl die venezolanische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Die Wahlbeteiligung war mit 73 Prozent sehr hoch. Unabhängige Wahlbeobachter:innen achteten darauf, dass es keine Unregelmäßigkeiten gab. Am Ende des Wahltages gab es nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Regierung die Wahl verloren hatte, und zwar eindeutig. Der Mythos, die venezolanische Gesellschaft würde mehrheitlich hinter dem Chavismus stehen, wurde an diesem Tag ein für alle Mal zerstört. Die Regierung hat nicht die geringste Chance, wieder Vertrauen von der Bevölkerung zu erhalten. Maduro hat sich mit der Behauptung, er habe die Wahlen gewonnen, gegen die Bevölkerung gestellt und für den Weg der Repression entschieden. In den Tagen nach der Wahl wurden mehr als 2000 Personen inhaftiert, etwa 100 Jugendliche wurden mit Vorwurf des Terrorismus inhaftiert. Dieses brutale Vorgehen hat Angst, Unsicherheit und Verwirrung in der Bevölkerung ausgelöst. Es ist immer noch unklar, wie der repressiven und autoritären Haltung der Regierung begegnet werden soll. Ein Aufstand der Bevölkerung, der die Regierung bedrohen könnte, ist keine Option. Die venezolanische Gesellschaft verfügt schlichtweg über keinen Organisationsgrad, mit dem er gelingen könnte. Zudem haben die Leute Angst. Zweitens ist das, was die Regierung gerade inszeniert, nicht einfach nur die Nichtanerkennung einer Wahlniederlage unter Beibehaltung der bestehenden institutionellen Ordnung. Was in Venezuela gerade passiert, ist die schrittweise Etablierung einer zunehmend autoritären Rechtsordnung. Die Negation der Wahlniederlage ist ein weiterer Schritt in einem Prozess, der sich bereits länger angekündigt hat. In den letzten Jahren hat die Regierung eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, etwa das Gesetz gegen Hass, das Gesetz gegen Terrorismus oder das Gesetz gegen Faschismus. Mit diesen Gesetzen wurden die demokratischen Grundrechte immer mehr eingeschränkt und die Befugnisse der Regierung und des Präsidenten mehr und mehr ausgeweitet. Mit diesen neuen Gesetzen hat die Regierung die politische Debatte im Land verändert, der Ton ist zunehmend autoritär. Konzepte wie Hass oder Terrorismus werden wahllos eingesetzt, um politische Gegner:innen auszuschalten. Der Vorwurf des Terrorismus kann Haftstrafen von 20-30 Jahren zur Folge haben. Was wir gerade beobachten, ist keine improvisierte Reaktion auf eine Wahlniederlage, sondern die schrittweise Durchsetzung eines autoritären Projektes. Allerdings markiert der 28. Juli 2024 einen profunden Wendepunkt in diesem Prozess: Wenn die Souveränität der Bevölkerung und die Verfassung missachtet werden, dann hört die Demokratie auf zu existieren. Hast Du die Reaktion der Regierung so erwartet oder bist Du davon ausgegangen, dass Maduro einen Sieg der Opposition akzeptieren würde? Die Erfahrungen von Übergängen vom Autoritarismus zur Demokratie in den verschiedenen Teilen der Welt haben gezeigt, dass Übergänge meistens ausgehandelt werden, vor allem dann, wenn es keine Kraft gibt, die in der Lage ist, eine Regierung zu besiegen. Es kommt zu einem paktierten Übergang, einem Pakt zwischen alten und neuen politischen Eliten. Das war in Chile zum Ende der Pinochet-Diktatur so, in Spanien, in Griechenland. In Venezuela gab es im Vorfeld zurückliegender Wahlen Diskussionen hierzu. Diesmal war es anders. Anders als sonst, entschied sich die Opposition für die Teilnahme an den Wahlen. In den Jahren zuvor hatte sie zur Wahlenthaltung aufgerufen mit dem Ziel, die Regierung zu delegitimieren, nach dem Motto, „die Regierung betrügt eh, eine Wahlbeteiligung lohnt sich nicht“. Einige Oppositionelle forderten sogar die USA auf, in Venezuela zu intervenieren. Das war diesmal anders. Die Opposition begann sich zu organisieren und für die Wahl zu mobilisieren. Nachdem den meisten der möglichen Oppositionskandidat:innen die Einschreibung zur Wahl verweigert wurde, blieb am Ende fast zufällig Edmundo González als Präsidentschaftskandidat der Opposition übrig. Zu diesem Zeitpunkt ging es für die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr darum, wer der Kandidat der Opposition war, sondern darum, Maduro zu besiegen. Das politische Programm war vollkommen egal. Und zwar so sehr, dass innerhalb von zwei Wochen eine Person, die der großen Mehrheit der Bevölkerung völlig unbekannt war, viel mehr Unterstützung in der Bevölkerung erhielt als Maduro. González wurde zu dem Kandidat, der Maduro besiegen konnte. Um auf das Thema der ausgehandelten Übergänge zurückzukommen: In den vergangenen Jahren und besonders in den Monaten vor Wahlen, wurde in Venezuela immer viel über die Möglichkeit von Verhandlungen diskutiert. Gefragt wurde, wie sich die Kosten des Verbleibs für die Regierung erhöhen oder die Kosten des Ausstiegs senken ließen. Das gab es diesmal nicht. María Corina Machado [Anführerin der rechten Opposition, der 2023 die Ausübung politischer Ämter für 15 Jahre seitens der Maduro-Regierung untersagt wurde] sprach stattdessen davon, Maduro inhaftiert sehen zu wollen. Die US-Regierung lobte eine Belohnung von 15 Millionen Dollar für Informationen aus, die es erlauben würden, diesen „Kriminellen“ [Maduro] zu fassen. All das machte jeden Raum für Verhandlungen zu. Der Diskurs der Opposition und die US-Politik haben in gewisser Weise dazu beigetragen, dass Maduro sich radikalisierte. Nach dem Motto: „Wenn die Aufgabe der Präsidentschaft bedeutet, dass sie mich inhaftieren, meine Ersparnisse konfiszieren und der Chavismus als Bewegung zerstört wird, dann bleibt nur eins: Bis zum Ende an der Macht festhalten“. Weder in den Positionen der rechtsgerichteten nationalen Kräfte, noch in jenen der US-Regierung eröffneten sich Chancen für einen Verhandlungsübergang. Du sprichst von der Regierung Maduro als von einem „zivil-militärisch-polizeilichen Regime“. Was meinst Du damit? Die Allianz zwischen Regierung, Militär und Polizei wird zunehmend deutlich. Das war vor den Wahlen bereits so, aber eher diskret, nun wird es immer klarer und öffentlich sichtbar. Nach den Wahlen gab es eine gemeinsame Pressekonferenz des Oberkommandos des Militärs und des Oberkommandos der Polizei, die Maduro absolute Rückendeckung gaben und den Wahlsieg Maduros anerkannten. Das bedeutete einen Bruch. Dass die Militärs autoritäre Regierungen vorbehaltlos unterstützen, ist ein trauriger Teil der Geschichte Lateinamerikas. Aber dass die Polizei sich dem öffentlich anschließt ist ein Novum und weist eindeutig in Richtung Autoritarismus. Als Chávez zum ersten Mal für die Präsidentschaft kandidierte, appellierte er an die zivil-militärische Union, denn er war ein Vertreter des Militärs. Er appellierte an die Idee, dass das Militär zusammen mit zivilen Kräften die Gesellschaft verändern könnte. Das Thema der zivil-militärischen Union gab es also schon vor der ersten Wahl von Chávez zum Präsidenten. Aber wenn zu dieser Union jetzt noch die Polizei hinzugefügt wird, ist das so, wie einen Polizeistaat auszurufen. Das ist sehr ernst. Wie ist die wirtschaftliche Situation im Land? Welche wirtschaftlichen Interessen stehen hinter diesem Bündnis? Die allgemeine Situation des Landes ist katastrophal. Es gibt einen bekannten venezolanischen Wirtschaftswissenschaftler, der vor Kurzem zynisch bemerkte, dass die Situation der venezolanischen Wirtschaft sehr stabil sei. Stabil im Graben, sie bewege sich nicht. Das Inlandsprodukt beträgt etwa 20 Prozent dessen, was es vor 10 Jahren war – ein Einbruch von 80 Prozent der Wertschöpfung in zehn Jahren. So etwas kommt nicht mal in Kriegszeiten vor. Und das bedeutet, dass die Beschäftigungslage katastrophal ist. Der Mindestlohn liegt bei drei Dollar im Monat, das Bildungs- und das Gesundheitssystem brechen zusammen. In den Grundschulen kommen die Lehrer:innen manchmal zwei Tage in der Woche zum Unterrichten. An den anderen Tagen versuchen sie, andere Einkommensquellen zu erschließen, um zu überleben. Die Krankenhäuser erfüllen nicht die Anforderungen des öffentlichen Gesundheitswesens, die Zahl der Krankenschwestern, die das Land verlassen haben, ist extrem hoch. Die Löhne reichen nicht zum Überleben. Insgesamt haben 25-30 Prozent der Bevölkerung das Land verlassen. Die jungen Leute haben das Gefühl, dass sie ihrer Zukunft beraubt wurden, dass wir uns in einem Land befinden, in dem es keine Zukunft gibt. Das Land zu verlassen stellt für viele die einzige reale Alternative dar. Aber wenn die Alternative für die Jüngeren nicht der politische Aktivismus, der soziale Kampf und die Konfrontation mit der Regierung ist, sondern das Verlassen des Landes, weil sie die Hoffnung verloren haben, dann ist das dramatisch. Wie viele Menschen haben ungefähr das Land verlassen? Die Schätzungen variieren, sie liegen zwischen sieben und acht Millionen Menschen in einem Land mit vormals 30 Millionen Einwohner:innen. Die Emigration begann langsam vor etwa zehn Jahren und hat in den letzten sechs Jahren stark zugenommen. Die zweitgrößte Stadt Maracaibo ist wahrscheinlich die Stadt mit der höchsten Abwanderungsrate. Manche schätzen, dass bereits 40 Prozent der ehemaligen Bewohner:innen die Stadt verlassen haben. Das hat natürlich Auswirkungen auf die soziale und materielle Infrastruktur, die Gebäude, den sozialen Zusammenhalt. Alles bricht zusammen. Inwieweit zieht der politisch-militärisch-polizeiliche Block auch wirtschaftliche Vorteile aus der aktuellen Situation? Wie gesagt, die Regierung Chávez war eine zivil-militärische Regierung. Das Militär hatte viel Macht und hatte wichtige Positionen inne, was schon damals zu viel Korruption führte. Eine entscheidende Institution in diesem Zusammenhang war in den Jahren der Chávez-Regierung die Stelle, die für den Kauf von Devisen zuständig war. Der Unterschied zwischen dem offiziellen Dollar, der dort ausgegeben wurde, und dem Marktdollar betrug in einigen Fällen 10 zu 1. Wer also an die Devisen des offiziellen Dollars kam, konnte sich bereichern. Mit einem Wechsel im Direktorium der venezolanischen Zentralbank flog das alles auf. Die neue Direktorin begann die Konten zu überprüfen und stellte fest, dass in jenem Jahr die Ausgaben von 20 Milliarden Dollar nicht belegt waren. Es handelte sich angeblich um Importe des Staates, aber es gab keine Belege dafür, dass sie tatsächlich getätigt worden waren. Allein in einem Jahr. Und sie wurde bald entlassen. Natürlich. Mit Maduro hat sich diese Korruption deutlich verschlimmert. Chávez kam aus dem Militär, er hatte von dort politisch-ideologische Unterstützung und seine Führung war anerkannt. Nicht so bei Maduro, der Zivilist aus einer linken Partei war, der Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas. Er musste seine eigene Unterstützung durch das Militär aufbauen, und das tat er im Wesentlichen, indem er die Macht mit dem Militär teilte und viele öffentliche Führungspositionen an das Militär gab. Schon unter Chávez und unter dem Einfluss Kubas wurden viele Unternehmen verstaatlicht, was zur wirtschaftlichen Krise beitrug, denn es fehlte oft ein angemessenes Management, das Interesse an einer Entwicklung der Produktion hatte. Sie wurden staatlich subventioniert. Der Hintergrund der fehlenden Produktivität ist dramatisch: Die Regierung hat in den letzten 25 Jahren nie ein eigenständiges wirtschaftliches Projekt entwickelt. Im Zentrum stand immer die Verteilung des Ölüberschusses. Als diese Überschüsse und die Subventionen nachließen, fehlten die Möglichkeiten eigenständig zu investieren, sich technologisch zu erneuern, Betriebsmittel zu kaufen. Dazu kommen Wirtschaftssanktionen der USA. Beides zusammen hat die Wirtschaft des Landes zerstört. Eine Wirtschaft, die 100 Jahre lang auf der Grundlage von Öl funktioniert hat. Der Staat war der große Verteiler der Öleinnahmen, was die gesamte Wirtschaftstätigkeit aufrechterhielt. Vor ein paar Jahren gab es ein Projekt der Regierung, dem wirtschaftlichen Zusammenbruch mit der Erschließung des sogenannten Orinoco-Bergbaubogens ( Arco Minero del Orinoco ) entgegenzuwirken. Zusätzlich zum Öl sollten mit Bergbau Devisen ins Land kommen. Wie hat sich dieses super-extraktivistische Projekt entwickelt? Erstens wurde erkannt, dass die Ölförderung als Grundlage der Volkswirtschaft erschöpft ist. Die Fördermöglichkeiten nahmen ab, die starken Preisschwankungen auf dem Weltmarkt führten immer wieder zu Einbrüchen bei den Devisen- und Staatseinnahmen. Gleichzeitig gab es seitens der Bevölkerung die Erwartung, dass die Wirtschaft weiter wachsen würde, der Staat genug Mittel hätte und sich die Lebensbedingungen verbessern würden. Doch es wurde, wie gesagt, kein alternatives Projekt zur Schaffung von Wohlstand entwickelt. So etwas benötigt ja auch Zeit. Stattdessen verkündete die Regierung im Februar 2016, den Bergbau massiv zu fördern. Gerechtfertigt wurde das damit, dass der illegale Kleinbergbau verschwinden müsse, Ordnung zu schaffen sei und große Unternehmen, vor allem Goldfirmen aus Kanada, investieren sollten. Das Gold sollte das Öl ersetzen. Aber das ist nie passiert, unter anderem weil den internationalen Unternehmen die Rechtssicherheit fehlte. Die großen Investoren blieben also aus. Stattdessen entwickelte sich ein informeller Goldbergbau im Orinoco-Gebiet, an dem sich Teile des Militär, die kolumbianische Guerilla ELN, kolumbianische Paramilitärs und verschiedene venezolanische nichtstaatliche Akteure bereichern. Unter diesen Akteuren bildeten sich so genannte Syndikate, also nicht staatliche Gewaltakteure heraus, die die Herrschaft in der Orinoco-Region übernahmen. Sie kontrollieren weite Teile der Region, schlichten lokale Streitigkeiten, kontrollieren den Goldbergbau, bestimmen den Preis, zu dem Gold verkauft werden kann. Kommen denn überhaupt internationale Investitionen nach Venezuela? Welche Rolle spielt dabei die US-Regierung? Aktuell kommen nur sehr wenige ausländische Investitionen ins Land. Anfang Oktober war in der Presse zu lesen, dass die Regierung Biden die Genehmigung für Chevron, in Venezuela Öl zu fördern und in die USA zu exportieren, bis April nächsten Jahres verlängert. Die Venezuela-Politik der US-Regierung ist durch kurzfristige und langfristige Interessen gekennzeichnet, die nicht unbedingt übereinstimmen. Zum einen verfolgt die US-Regierung die Strategie der kurzfristigen Stabilisierung der venezolanischen Situation, das heißt größtmögliche Stabilität im Inneren Venezuelas, um die politischen Kosten einer steigenden venezolanischen Migration im US-Wahlkampf gering zu halten. Nur so ist zu erklären, dass die US-Regierung auf den Wahlbetrug nicht mit mehr Sanktionen reagiert hat. Sie weiß, dass weitere Sanktionen zu verstärkter Migration, weiterer Verschlechterung und größerer Instabilität führen würden. Nach den Wahlen könnte sich dies also ändern. Zum anderen bestimmt der langfristige geopolitische Wettbewerb mit China und der Krieg in der Ukraine die US-Außenpolitik in Bezug auf Venezuela. Die Vereinigten Staaten sind daran interessiert, mehr Öl auf den Markt zu bringen, zur Not eben aus Venezuela, damit die europäischen Staaten nicht in die Versuchung geraten, fossile Energien wieder aus Russland zu kaufen. Gleichzeitig haben die Chinesen die Geduld mit Venezuela verloren. Venezuela schuldet China etwa 60 Milliarden Dollar an Krediten, die es seit einiger Zeit nicht bezahlt hat, die es vermutlich auch nicht bezahlen wird. Eine ökonomische Unterstützung aus China gibt es praktisch nicht mehr. Zwar arbeiten auch weiterhin chinesische Unternehmen in Venezuela, etwa im Bereich Infrastruktur oder Ölförderung. Die unterscheiden sich in Bezug auf Ausbeutung aber nicht von anderen transnationalen Unternehmen. Welche Rolle spielen die Rücküberweisungen der Migrant:innen für die Stabilität der Wirtschaft? Ich kenne keine verlässlichen Schätzungen. Ein beträchtlicher Teil der Menschen, die das Land verlassen haben, stammen aus sozialen Schichten mit niedrigen Einkommen. Ihre Einkommensmöglichkeiten in den Ankunftsländern sind begrenzt. Entsprechend gering sind die Überweisungen nach Venezuela. Dennoch ist natürlich der Unterschied für Familien, die zwischen einem Mindestlohn von 3 Dollar pro Monat in Venezuela und einer Überweisung von 50 Dollar liegen, sehr groß. Das Thema Migration hat in Venezuela eine tiefe gesellschaftliche Wunde erzeugt. Alle sind betroffen; da ist etwa das Drama der Großmütter, die davon überzeugt sind, dass sie ihre Enkel:innen nie wieder sehen werden. Eines der Dinge, die die Kandidatin der Opposition, María Corina Machado, in ihrer Wahlkampagne vorgeschlagen hat, ist, dass die Kinder zurückkehren können sollten, damit die Mütter ihre Kinder sehen können. Das ist etwas, was die Gefühle der Menschen direkt anspricht. Die Migration ist eine Realität, die das soziale Gefüge der venezolanischen Gesellschaft und der Familien zerreißt. Wie fühlt sich die enorme Auswanderung im Alltag an? Was bedeutet das für das soziale Gefüge? Für die verschiedenen sozialen Schichten bedeutet es natürlich Unterschiedliches. Die mittleren und oberen sozialen Schichten haben die Möglichkeit zu reisen und können ihre Verwandten besuchen. In den ärmeren Schichten wird es als eine Art Herzschmerz empfunden, dass etwa Enkelkinder geboren werden und die Großeltern sie nie kennen lernen werden. Da ist dieses Gefühl, dass es sich um einen unumkehrbaren Prozess handelt. Was macht aktuell die Opposition und was machen die sozialen Bewegungen? Bei der Opposition handelt es sich um ein heterogenes Spektrum verschiedener Sektoren. Was in Venezuela als Opposition bezeichnet wird ist ein Bündnis rechter Parteien, das Edmundo González Urrutia und María Corina Machado unterstützte. Offensichtlich dachte dieser Sektor, dass den Umfragen und den Mobilisierungen zufolge die Niederlage der Regierung so absolut vernichtend sein würde, dass die Regierung keine andere Wahl hätte, als die Macht abzugeben. Doch, wie bereits weiter oben erwähnt, war das nicht möglich. Sie hatten viele Beobachter:innen bei den Wahlen, Zeugen bei der Abstimmung, Kopien der Protokolle, die sie veröffentlichten, um die Niederlage zu belegen. Aber anscheinend gab es keinen Plan, wie man den Kampf fortsetzen könnte, falls die Regierung so reagieren würde, wie sie reagiert. Also sind sie gelähmt. María Machado traut sich nicht, die Leute zum Straßenprotest zu mobilisieren, weil es zu viele Repressionen gibt. Sie ist quasi untergetaucht, man hat sie schon lange nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Sie ist zwar ständig auf Pressekonferenzen, aber die sind alle virtuell. Es ist schwer zu sagen, wie lange es dauert, bis ihr Aufenthaltsort bekannt wird. Edmundo González hat das Land verlassen und ist mittlerweile in Spanien. Jenseits der rechten Opposition gibt es Sektoren und Gruppen, die die Notwendigkeit der Bildung eines breiten Bündnisses gegen die Regierung erkennen. Die emanzipatorische Linke alleine wird den Widerstand nicht leisten können. Es bedarf einer Art breiten Front zur Verteidigung der Demokratie und der Verfassung. Es gibt einige Schritte in diese Richtung, aber das wird nicht von heute auf morgen geschehen. So hat zum Beispiel einer der Präsidentschaftskandidaten einer Partei, die sich für soziale Fragen einsetzt aber nur sehr wenig Stimmen erhalten hat, eine sehr aktive öffentliche Rolle in den letzten Wochen eingenommen und alle zur Verfügung stehenden rechtlichen Instrumente genutzt, um den Wahlbetrug anzuprangern. Ende September hat er bei der höchsten Berufungsinstanz Venezuelas, der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs, einen Antrag auf Aufhebung der Entscheidung der Wahlkammer gestellt, die den Betrug besiegelte. Dafür hat er ein 80-seitiges Papier vorgelegt, in dem er sehr präzise und minutiös alle Artikel der Verfassung, von Wahlgesetzen und gesetzlich geregelter Verfahrensabläufe auflistet, die während der Wahlen verletzt wurden. Eine kleine, mehr oder weniger repräsentative Gruppe der Zivilgesellschaft hat das Dokument unterschrieben, unter anderem wir als Bürger:innen-Plattform zur Verteidigung der Verfassung in Venezuela. Das hat viel Aufmerksamkeit in den sozialen Medien erzeugt, was sehr gut war. Die Idee im Moment ist, viele kleinere Aktionen zu unternehmen, um die Kritik und den Druck aufrechtzuerhalten, auch wenn es keinen Masterplan zum Sturz einer Diktatur gibt. Es geht vielmehr darum Kanäle offen zu halten, über die die Menschen ihre Unzufriedenheit ausdrücken, ihren Protest formulieren und artikulieren können. Und es geht aktuell darum, überhaupt wieder Vertrauen herzustellen zum Beispiel mit den konservativen politischen Sektoren, zu denen es viel Misstrauen gibt. Es gibt viele Leute, die schnell von Ultrarechten oder Faschismus sprechen. Ich denke, wir müssen stärker differenzieren und sprachlich abrüsten, wenn wir irgendwie eine breite Allianz aufbauen wollen, bei allen politischen Differenzen, die es klarer Weise gibt. Was bedeutet das? Wie kann das gelingen? Aktuell müssen wir es schaffen vom Links-Rechts-Gegensatz zum Gegensatz zwischen Autoritarismus und Demokratie zu kommen. Wenn das erreicht ist, dann werden wir sehen, wie konkrete Alternativen weiter politisch diskutiert werden und welches Land wir wollen. Aber im Moment ist das einfach nicht möglich. Seit 1999 war Venezuela eine Referenz für die globale Linke. Chávez erklärte um 2007 herum das Ziel, den Sozialismus im 21. Jahrhundert zu verwirklichen. Was können wir als internationalistische globale Linke aus den letzten 25 Jahren in Venezuela lernen? Ich würde diese Frage aus zwei Perspektiven beantworten. Die erste bezieht sich auf die Notwendigkeit der Selbstkritik hinsichtlich der Bewertung der venezolanischen Entwicklungen. Rückblickend zeigt sich eine große politische Blindheit gegenüber den Entwicklungen in Venezuela. Das hat viel mit einem dogmatischen Glauben an die Revolution zu tun. Es gab in der Tat schon früh Anzeichen autoritärer Tendenzen, etwa den Messianismus von Chávez, die massive Präsenz des Militärs, die Betonung des Extraktivismus, das Fehlen eines alternativen Produktionsmodells. Später, als Chávez in 2007 die Revolution als sozialistisch deklarierte, identifizierte man Sozialismus mit Etatismus, mit jenen Konsequenzen für die Wirtschaft, auf die ich oben hingewiesen habe. Und mit Folgen für die demokratische Basisorganisation. Die erfolgte in den ersten Jahren der Regierung Chávez oft spontan, von unten, mit oder ohne Unterstützung der Regierung, inklusiv und vielfältig und mit umfassenden sozialen Errungenschaften wie der Alphabetisierung, Zugang zu Wasser, die Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Spätestens die Entscheidung Chávez‘, eine sozialistische Einheitspartei zu gründen, der sich alle Koalitionspartner unterordnen sollten, stellte eine Zäsur dar. Das alles geschah mit einem völligen Mangel an historischem Problembewusstsein, nicht nur hinsichtlich des sowjetischen Sozialismus. In Venezuela gab es in den 1960er Jahren eine sehr ernsthafte Debatte über die Erfahrung des Sozialismus und der Einheitspartei, über Alternativen, über das Verhältnis von Partei und Bewegungen. Diese Diskussion verschwand aus dem politischen Bewusstsein der jüngeren Generationen. Als der Sozialismus des 21. Jahrhunderts ausgerufen wurde, war es, als würde man von Null beginnen, ohne irgendeinen Blick zurück. Wie kann man nach den Erfahrungen des sowjetischen Sozialismus zur Bildung einer Einheitspartei aufrufen? Irgendetwas aus dieser Geschichte muss man doch lernen im Sinne von „wie können wir verhindern, dass dieselben autoritären Tendenzen entstehen“? Als sich die Revolution für sozialistisch erklärte, nahm der kubanische Einfluss in einem außerordentlich Maße zu. Man schickte viele junge Leute zur ideologischen Schulung nach Kuba. Das waren junge Leute, die absolut an den Sozialismus glaubten, daran, dass dies die Wahrheit war und das, was getan werden musste. Ein anderer wichtiger Aspekt ist, wie diese [etatistische] Vorstellung von sozialistisch und revolutionär die demokratischen Basisorganisationen beeinflusste. Nach und nach wurde ein umfassendes Institutionengefüge von oben aufgebaut, mit klaren Vorgaben, wie die Basisorganisationen, etwa die Gemeinderäte gebildet werden sollten. Es wurde ein ganzer Apparat geschaffen, der absolut vom Staat bestimmt und finanziert wurde. Ab wann nahmen diese starken Regulierungen und Vereinheitlichungen zu? Das war ab 2008 noch unter Chávez. Dann kam das Problem hinzu, dass es abgesehen vom Diskurs, kein alternatives Projekt zum Öl gab, das zur Schaffung von Wohlstand führte. Die angesprochenen lokalen Basisorganisationen wurden auch aus den Öleinnahmen finanziert. Und mit den finanziellen Ressourcen erfolgte die politische Loyalität. Die ehemals reiche Erfahrung der Vielfalt basisdemokratischer Organisation wurde schließlich Teil des Staates und der Partei. Ohne jegliche Autonomie. Was sind die Lehren hieraus? Ist ein anderer, demokratischer „Sozialismus im 21. Jahrhundert“ möglich? Ich bin überzeugt, dass wir die Verbindung zwischen links sein und dem Begriff des Sozialismus vollständig aufgeben müssen. Der Sozialismus als historische Erfahrung ist gescheitert – und zwar überall auf der Welt. In Afrika, in Asien, in Europa, in Osteuropa, in Lateinamerika. Und jede dieser Erfahrungen endete ausnahmslos in einem autoritären Regime. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir denken sollten, der Kapitalismus sei für ewig. Die antikapitalistischen Kämpfe und die Kämpfe dessen, was wir historisch als Linke definiert haben, sind viel breiter angelegt. Viele der theoretischen Interpretationen eines Teils des Marxismus, diese Vorstellungen von Stufen, von der Linearität des historischen Seins, des historischen Subjekts, sind gescheitert. Dennoch haben sie zusammen mit dem Lagerdenken und der Logik des Kalten Krieges in Teilen der Linken weiterhin ein großes Gewicht. So unterstützt das Forum von São Paulo, das wichtigste Bündnis linker Parteien und Bewegungen in Lateinamerika, auch weiterhin die Regierung von Daniel Ortega in Nicaragua und natürlich auch die von Maduro. Damit schaden sie der Linken zutiefst. Denn wenn wir eine Regierung „links“ nennen, die autoritär, repressiv, korrupt und extraktivistisch ist, dann stehen wir auf der Seite der Rechten. Ulrich Brand (Universität Wien) und Kristina Dietz (Universität Kassel) führten das Gespräch Anfang Oktober beim Treffen der vom Anden-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanzierten, seit 2011 bestehenden Permanenten Arbeitsgruppe „Alternativen zu Entwicklung“, deren Mitglied auch Lander ist, der darüber hinaus auch der erwähnten Plattform zur Verteidigung der Verfassung in Venezuela angehört. Foto Edgardo Lander © RLS
von Robert Lessmann Dr 26. November 2024
Cali, Baku, Rio. Es war ein Herbst der Gipfel. Der Gipfel ohne Höhepunkte, der Gipfel ohne Ankommen – im Sinne von angemessenen und glaubwürdigen Ergebnissen. Als ob die Welt Zeit hätte. Wirbelstürme in der Karibik und den USA, ja selbst in Südeuropa. Taifune in Taiwan und China. Unwetter kennen keine ideologischen - oder Landesgrenzen. Starkregen und Überflutungen in Nepal, Frankreich, in Spanien mit mehr als 200 Todesopfern, ja auch in Österreich. Brände in Griechenland und in Amazonien. In Indien fällt wegen Smog der Schulunterricht aus. Man soll im Haus bleiben. Die Besucher der COP 16 Artenschutz-Konferenz in Cali wurden dort von Ascheregen begrüßt, immer noch eine Begleiterscheinung der Zuckerrohrernte. Bolivien erlebte die schlimmste Naturkatastrophe seiner Geschichte und rief einen nationalen Notstand aus. Rund zehn Millionen Hektar – eine Fläche deutlich größer als Österreich – im amazonischen Umland sind abgebrannt. Im Vorjahr waren es „nur“ 6,3 Millionen Hektar. Es geht um’s Klima, es geht um die Welt. Und immer wieder geht es dabei um Amazonien, ihre „grüne Lunge“. Es geht darum, Kipppunkte zu vermeiden, points of no return , wo die Schäden irreversibel sind und selbst weitere Schäden hervorrufen. In dieser Lage lassen Berichte der Vereinten Nationen und von NGOs aufhorchen, die vor einer gefährlichen Verknüpfung von Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen und dem Organisierten Verbrechen in Amazonien warnen, wodurch eine neue Dynamik entsteht. Es war bei einem Lokalaugenschein im TIPNIS, einem Natur- und Indígena-Schutzgebiet (Territorio Indígena y Parque Nacional Isiboro – Securé; letzteres sind zwei Flüsse, die das Schutzgebiet eingrenzen) am Fuße der Andenkette, wo die Berge enden und Amazonien beginnt. Damals waren Proteste von Umweltschützern und indigenen Vertretern gegen ein Straßenbauprojekt durch das unzugängliche Regenwaldgebiet von der Größe Tirols die erste große Herausforderung für die Regierung Morales in Bolivien, weil es ohne die verfassungsmäßig vorgeschriebene Konsultation der indigenen Bevölkerung und ohne Umweltverträglichkeitsprüfung in Angriff genommen wurde. Drei indigene Völker leben dort: Yuracaré, Moxeños und Chimanes. In der Tat findet die meiste Entwaldung im Umkreis von fünf Kilometern zu einer Straße statt. Im konkreten Fall befürchteten die Gegner des Projekts insbesondere ein weiteres Vordringen des Kokaanbaus und des Kokaingeschäfts im Schutzgebiet. Der oberste Drogenbekämpfer des Landes, in etwa im Rang eines Staatssekretärs, warnte beim Ortstermin vor Vereinfachungen. Das TIPNIS sei ein komplexes Universum. Siedler, unter ihnen Kokabauern, würden illegal vordringen, indigene Gemeinschaften ihren Lebensraum verteidigen. Es gebe aber auch Indígenaführer die selbst in den illegalen Export von Tropenhölzern verstrickt seien. Unlängst hätten seine Spezialkräfte im TIPNIS ein 24-stündiges Feuergefecht mit Kolumbianern gehabt, die dort ein Kokainlabor betrieben. Ich selbst war der Auffassung, dass jedenfalls das Drogengeschäft die Klandestinität suche und eine Straße eher das Vordringen der Sicherheitskräfte erleichtern würde. Das war im Jahr 2011. Triebkraft Drogenhandel Die Kokainproduktion ist für die daran beteiligten Länder sowohl ein wichtiger – wenn auch illegaler – Wirtschaftsfaktor, als auch ein ernstes gesellschaftspolitisches und ökologisches Problem. Kokablätter werden überwiegend an den Ostabhängen der Anden produziert, wo diese nach Amazonien hin abfallen. Bei der Weiterverarbeitung kommen große Mengen verschiedener Chemikalien zum Einsatz, beispielsweise rund 300 Liter Kerosin pro Kilo Kokain-Hydrochlorid. Die drei wichtigsten Produzenten haben jeweils Flächenanteile an Amazonien: Kolumbien (7 Prozent), Peru (13), und Bolivien (8), ergänzt noch durch Brasilien (59 Prozent), das eine wichtige Rolle beim Transit der fertigen Droge zu den Absatzmärkten spielt. Besonders verheerend wirkt sich die jahrzehntelang vorherrschende Politik der Vernichtung von Kokafeldern aus, teilweise durch Besprühen mit Pflanzengift aus der Luft. In Ermangelung tragfähiger Alternativen zogen die Bauern ins Hinterland und legten neue Felder an. Diese Drogenbekämpfungspolitik ohne Nachhaltigkeit brachte alljährlich tolle Ergebnisse in den Statistiken, doch unter dem Strich liegt die Koka- und Kokainproduktion nach beinahe fünf Jahrzehnten dieser Politik heute auf historischem Rekordniveau. Und während sie einerseits so erfolglos war, dass es das illegale Drogengeschäft nicht einmal nötig hatte mit der Produktion in andere Weltregionen auszuweichen* oder auf die Sorte Epadú, deren Blätter zwar weniger Kokain enthalten, die aber unter dem amazonischen Blätterdach gedeihen kann und insofern kaum aufspürbar ist, hat die Kokavernichtung ohne Nachhaltigkeit im Laufe der Jahre wohl an sich schon Millionen von Hektar (Sub-) Tropischen Regenwald gekostet. Nachdem man in der internationalen Drogenpolitik langsam dabei ist, jahrzehntelang getragene Scheuklappen abzulegen und ganzheitlicher zu denken, öffnete das Drogenkontrollprogramm der Vereinten Nationen (UNODC – United Nations Office on Drugs and Crime) mit seinem World Drug Report 2023 noch eine andere Perspektive: Ein ganzes Kapitel 4 ist dort der Verschränkung verschiedener krimineller Aktivitäten und der Umweltzerstörung in Amazonien gewidmet. Die Drogenökonomie, so heißt es dort, wirke als Antrieb für andere illegale Aktivitäten und Umweltzerstörung: illegale Landnahme, Abholzung, illegalen Bergbau, illegalen Handel mit Tieren und Pflanzen (Wildlife Crime). Geringe staatliche Präsenz, Armut und Korruption in Amazonien wirken als fruchtbare Nährlösung dafür und als Katalysator für Sekundärkriminalität: Steuer- und Finanzdelikte, Korruption, Totschlag, Überfälle, sexuelle Gewalt, Ausbeutung von Arbeitern und Minderjährigen sowie Gewalt, Mord und Totschlag gegenüber Umweltschützern, Menschenrechtlern und indigenen Völkern. Größer als der Umwelteffekt der Drogenproduktion an sich seien die Folgeschäden der dadurch angefachten Drogenökonomie, zum Beispiel die Anlage von Profiten in Viehzucht, Sojaanbau, im Holzgeschäft und in Goldminen, die oftmals zu Konflikten mit der indigenen Bevölkerung führen. Katalysator Gold Vor 35 Jahren durfte ich als Referent bei einer Menschenrechtsorganisation für das Volk der Yanomami kämpfen und habe dabei einen Film des bekannten Survival-Experten Rüdiger Nehberg und des Filmemachers Wolfgang Brög gegen Puristen in unserem Verband verteidigt. Die beiden hatten sich unter dem Vorwand, für einen deutschen Unterweltler Schwarzgeld investieren zu wollen, bei illegalen Goldsuchern eingeschlichen. Resultat war eine bedrückende Dokumentation über Umwelt- und Menschenrechtsverbrechen sowie die Untätigkeit der zuständigen brasilianischen Regionalbehörden. Sie hatten dabei auch Yanomami gefilmt, die dies offensichtlich nicht wollten, was kritisiert worden war. Der Film war zur Hauptsendezeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt worden und ich verteidigte ihn mit dem Argument, ich könne wohl hunderte politisch korrekter Pressmitteilungen schreiben ohne ein vergleichbar großes Publikum zu erreichen. Genützt hat das alles ohnehin nichts. Die Lage ist heute schlimmer denn je. Es ist schwierig, gegen den Markt anzukämpfen. Das wissen nicht nur Drogenfahnder. Der Goldpreis hat sich seit 2008 verdreifacht. Die größten Produzenten sind China (370 Tonnen), Australien (310); Russland (310), Kanada (200), die USA (170). Erst an 6. Stelle folgt mit Mexiko (120) ein lateinamerikanisches Land, an 11. Peru (90) und an 14. Brasilien (60). Brasilien soll über einige der größten Goldvorkommen verfügen, hauptsächlich im Norden, in Amazonien, auf dem Gebiet der Yanomami. Die Goldförderung in den Andenländern und in Amazonien ist häufig illegal – geht also allenfalls indirekt in die Statistik ein – und ist mit großen Umweltverheerungen verbunden. Oft kommt dabei das giftige Schwermetall Quecksilber zum Einsatz. In Brasilien dürfte die Hälfte der Goldförderung illegal sein und findet – zum Beispiel im Yanomami-Gebiet an der Grenze zu Venezuela – unter Kontrolle der großen brasilianischen Drogenorganisationen, wie dem Primeiro Comando da Capital (PCC) statt, das den Schürfern „Schutz“ anbietet, „Steuern“ verlangt, Schürfstellen kontrolliert und manchmal Maschinen stellt und wartet. In Peru und Bolivien mischt das Comando Vermelho mit, die älteste brasilianische Drogenorganisation, die 1979 in Rio gegründet worden war. Zwischen 2011 und 2021 sei es in Brasilien zu einem Anstieg des Abbaus auf indigenen Territorien um 625 Prozent gekommen, besonders stark seit 2019. Während der Covid-19-Pandemie sei es bei abnehmenden Kontrollen und gekürzten Budgets zu einem regelrechten Goldrausch gekommen, berichtet das UNODC. Von Januar 2019 bis Dezember 2022 war dort der rechtsextreme Jair Bolsonaro Präsident, dem Indianerschutzrechte und Umweltschutz wenig und die Erschließung der „grünen Hölle“ Amazoniens viel bedeuten. Mit desaströsen Folgen, verheerenden Ausbrüchen von Unterernährung und Krankheiten. Besonders betroffen sind die Schutzgebiete der Yanomami mit etwa 30.000 Menschen. 50-90 Prozent von ihnen leiden unter Quecksilbervergiftungen unterschiedlichen Grades sowie unter der Zunahme von Gewalt. In Kolumbien, Peru und Bolivien findet man Gold häufig in den Flüssen an den Ostabhängen der Anden, wo auch die wichtigen Kokaanbaugebiete liegen. In allen diesen Gebieten ist ein signifikanter Anstieg der Mord- und Totschlagsraten festzustellen. Der Preis für einen Barren (ein Kilogramm) liegt mit rund 82.000 € rund doppelt so hoch wie der für ein Kilo Kokain zu Großhandelspreisen in europäischen Metropolen. Wobei mit Kokain im Straßenverkauf dann doch noch weit höhere Preise erzielt werden. Gold stinkt nicht. Im Vergleich zu Kokain ist es viel leichter verkehrsfähig. Ideal zur Geldwäsche. Kolumbien – Ecuador – Connection Machtvolle Drogenorganisationen sind besonders im Dreiländereck zwischen Brasilien, Kolumbien und Peru aktiv, einschließlich in und um die benachbarten Städte Leticia in Kolumbien und Tabatinga in Brasilien sowie Santa Rosa de Yavarí in Peru. Mit ihrer Kontrollfunktion für das Kokaingeschäft und dem Reichtum an ausbeutbaren Ressourcen weist diese Region heute möglicherweise die höchste Dichte von Gruppen der Organisierten Kriminalität auf, vermutet das UNODC. Menschenrechtsorganisationen beziffern die Mord- und Totschlagsrate in Tabatinga mit 106,6, in Leticia mit 60 und in Manaus mit 45 (pro 100.000 Einwohnern; in Deutschland liegt sie bei 0,8, in Österreich bei 0,9). Nördlich davon fließt der Río Putumayo, der weiter östlich in den Amazonas mündet und im Oberlauf über hunderte von Kilometern die Grenze zwischen Kolumbien und Peru beziehungsweise Ecuador bildet. Der Vektor des Kokaingeschäfts verläuft hier stromaufwärts nach Ecuador, das Anfang 2024 in einer Welle der Gewalt versank, weil sich dort die Statthalter mexikanischer Organisationen blutige Revierkämpfe lieferten. Ein Vierteljahrhundert militarisierter Drogenkrieg und Milliarden von US-Hilfen im Rahmen des Plan Colombia haben nichts daran geändert, dass laut dem World Drug Report des UNODC 230.028 Hektar Koka (von insgesamt rund 300.000) in Kolumbien angebaut werden und nach wie vor auch etwa zwei Drittel der Kokainlabore in Kolumbien entdeckt und zerstört werden – fast die Hälfte davon in den südlichen Departments Putumayo und Nariño im Grenzgebiet zu Ecuador. Die Verlagerung des Kokaanbaus in den Süden wird ebenso als Konsequenz des Plan Colombia angesehen wie der Friedensprozess mit der ältesten Guerilla, den 1964 gegründeten Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), vor einem Jahrzehnt. Präsident Juan Manuel Santos bekam dafür im Oktober 2016 den Friedensnobelpreis. Der Friedensplan wurde jedoch nur halbherzig vollzogen. Nachfolger Iván Duque lehnte ihn ab. Hunderte früherer Guerillakämpfer, die ihre Waffen abgelegt hatten, wurden später ermordet. Verschiedene ihrer frentes (Fronten i.S. von Abteilungen) , die große Autonomie genossen , hatten sich schon vorher mit dem Drogengeschäft finanziert und machten einfach weiter. Letztlich gelang es dem kolumbianischen Staat nicht, in den früheren Guerillagebieten rechtsstaatliche Präsenz zu schaffen. Durch den Einsatz verbesserter Sorten und Anbaumethoden soll die Ernte nach Berechnungen des UNODC um durchschnittlich 24 Prozent angestiegen sein und durch Optimierung der Weiterverarbeitung auch der Kokainertrag. Solche neuen Hochproduktivitätszonen befinden sich unter Kontrolle rechter Narcoparamilitares , FARC-Dissidenten beziehungsweise des noch aktiven Ejercito de la Liberación Nacional ( ELN ) , einer weiteren Guerilla. Alle zusammen werden sie Grupos Armados Ilegales ( GAI ) genannt. 35 Prozent der Kokaanbaufläche Kolumbiens befinden sich in Zonen, in denen GAI präsent sind. Diese arbeiten fallweise zusammen oder bekriegen sich. Aber alle sind um strikte Kontrolle des Produktionsprozesses bemüht. Im Department Putumayo lassen sich sechs Gruppen identifizieren, die nahezu umfassende Kontrolle ausüben. Die größten sind ehemalige f rentes der FARC , das Comando Frontera und die Frente Carolina Ramírez – und sie bekämpfen sich. Amazon Underworld Im Rahmen des 20. Treffens der Mitgliedsstaaten der UN Konvention gegen das Organisierte Verbrechen treffe ich im Herbst 2024 den NGO-Vertreter Raphael Hoetmer und zwei Indígena-Vertreter aus dem peruanischen Amazonien, die ihre Namen besser nicht veröffentlicht wissen wollen. In ihre Heimatdörfer trauen sie sich nicht zurück. Das Hauptproblem dort sei der Kokainhandel, erzählen sie. Die drei sind in die Wiener UNO-City gekommen, um das Projekt Amazon Underworld vorzustellen, an dem mehrere NGOs und Investigativjournalisten teilgenommen haben. Amazon Underworld machte unter anderem mit Interviews von Behördenvertretern, Sicherheitskräften, Indígenas und verschiedenen illegalen Akteuren vor Ort dort weiter, wo der UN-Bericht aufhört, um zu einem kompletteren Bild der Dynamik des Geschehens zu kommen. In ihrem Bericht erscheint Amazonien als Karte, in der die Grenzgebiete von Brasilien, Französisch Guayana, Surinam, Venezuela, über Kolumbien, Ecuador, Peru bis Bolivien und Paraguay von einem dicken Halbmond verschiedener illegaler Aktivitäten und Akteure umgeben sind. Aus der Nähe besehen handelt es sich dabei um einen bunten Flickenteppich krimineller Akteure; selten besteht Hegemonie, häufig gibt es Konflikte. In 70 Prozent der untersuchten Gemeinden waren irreguläre bewaffnete Gruppen präsent: kolumbianische Guerillas, brasilianische kriminelle Organisationen, venezolanische und peruanische Banden, nicht selten auch unter Duldung oder in Komplizenschaft mit den lokalen Behörden. Dabei komme es auch zu Fällen moderner Sklaverei und Menschenhandel. Die dort lebenden indigenen Gemeinschaften und ihre Territorien spielen eine fundamentale Rolle beim Schutz der Regenwälder und sind gleichzeitig den Attacken der Organisierten Kriminalität ausgesetzt. Im letzten Jahrzehnt, so der Bericht in der Einleitung, sei Amazonien zu einer der gefährlichsten Regionen Lateinamerikas geworden und die marginalisierten Gemeinschaften litten am meisten unter der Gewalt. In Brasilien seien indigene Gemeinden systematisch zum Opfer gewalttätiger Invasionen von Goldsuchern geworden, während man in den neun amazonischen Departments Kolumbiens seit 2020 43 Massaker dokumentiert habe und bewaffnete Gruppen die ländlichen Gemeinden terrorisierten. In Peru rekrutieren Drogenhändler indigene Kinder, um in den Kokapflanzungen zu arbeiten. Guerillagruppen schicken ganze Familien in die illegalen Goldminen. Laut der Menschenrechtsorganisation Global Witness sei einer von fünf Morden, die im Jahr 2022 weltweit gegen Umweltschützer oder Verteidiger ihres Territoriums verübt wurden, in Amazonien geschehen, nämlich 39. Rember Yahuarcani aus dem Volk der Huitoto im peruanischen Amazonien wies auf der Biennale 2024 in Venedig in einem seiner farbenfrohen Großgemälde (Titelbild) darauf hin, dass dort zwischen 2013 und 2023 insgesamt 32 indigene Führer und Führerinnen von Eindringlingen, Drogenhändlern und der Holzmafia ermordet wurden. Ihre amazonische Heimat sei für Indigene einer der gefährlichsten Orte. Eine entscheidende Rolle spielen Straßen. Wie erwähnt, findet die meiste Entwaldung im Umkreis von fünf Kilometern zu einer Straße statt – und in Amazonien entfallen auf einen legalen Straßenkilometer drei illegale. Aber auch andere Infrastruktur erleichtert das Vordringen: illegale Landepisten, desgleichen Flüsse, bevorzugt zur Regenzeit. In Gegenden, wo indigene Territorien fragmentiert, von Straßen durchschnitten oder wirtschaftlich und sozial sehr von städtischen Märkten abhängig sind, wachsen illegale Märkte rasch und machen die indigenen Völker sehr verwundbar, mit der Gefahr einer Desintegration ihrer Gemeinden. In den peruanischen Departments Ucayali und Madre de Dios beispielsweise, wo alle sozialen und politischen Aktivitäten sich mit der illegalen Ökonomie überlappen und sich gegenseitig unterstützen, werden die indigenen Gemeinden dieser Dynamik unterworfen, und wenn sie in der Lage sind Widerstand zu leisten, werden sie bis zu dem Punkt isoliert, dass der Zugang zu ihrem Territorium gefährdet ist. Der Preis, den indigene Organisationen und ihre Führer bezahlen, ist sehr hoch. Sie sind mit Drohungen gegen sich und ihre Familien konfrontiert. Fälle von Gewalt gegen sie werden häufig nicht gut untersucht und bleiben straflos, warnt Amazonia Underworld. Panorama der kriminellen Akteure Das Jahr 2016 brachte in mehrfacher Hinsicht neue kriminelle Dynamiken. Das Friedensabkommen mit der ältesten Guerilla des Halbkontinents, den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), führte dazu, dass Tausende ihre Waffen niederlegten. Die Guerilla hinterließ vielerorts ein Machtvakuum, das nicht mit rechtsstaatlicher Präsenz gefüllt wurde, sondern von rechtsextremen Paramilitärs, kriminellen Banden und FARC-Dissidenten. In Venezuela wurde 2016 ein Gesetz zur Erschließung des Grenzgebiets zu Kolumbien, Brasilien und Guyana verabschiedet, des sogenannten Arco Minero Orinoco . Doch die Regierung Maduro ließ keine Initiativen zur Erschließung durch legalen Bergbau folgen. Das Vakuum füllten venezolanische kriminelle Gruppen, häufig in Kooperation mit lokalen Behörden und Sicherheitskräften, aber auch FARC-Dissidenten und ELN-Guerilleros, die schon länger beim Drogentransit in Venezuela tätig waren. Ebenfalls 2016 wurde auch ein Pakt zwischen drei großen brasilianischen Gruppen der Organisierten Kriminalität aufgekündigt: dem Primero Comando da Capital , dem Comando Vermelho und der Familia do Norte , was zu Revierkämpfen führte. Mit Kleinkriminellen überfüllte Gefängnisse bildeten eine ideale Rekrutierungsquelle. Die kolumbianische ELN hat eine strategische Präsenz zu beiden Seiten der venezolanischen Grenze. Sie kontrolliert die illegale Goldförderung in den venezolanischen Bundesstaaten Amazonas, Bolívar und Delta Amacuro, wie auch die Routen des Drogenhandels nach Guyana und Brasilien entlang des Cayuní-Flusses und des Río Negro. Die FARC hatten historisch eine starke Präsenz im kolumbianischen Amazonien, wo sie die Entwaldung begrenzten, weil sie den Schutz des Blätterdaches suchten. FARC-Dissidenten tun dies wieder. Die Entwaldung ist 2022/23 in den Departments Meta, Caquetá und Guaviare drastisch zurückgegangen. Dort operieren La Segunda Marquetalía (unter Luciano Marín Arango alias Iván Marquez) und Estado Mayor Central – FARC (unter Néstor Gregorio Vera Fernandez alias Iván Mordisco). In Venezuela arbeitet die Frente Acacio Medina im Drogentransfer. Das Primero Comando da Capital (PCC) wurde 1993 im Gefängnis in São Paulo gegründet und ist inzwischen das wichtigste Drogenunternehmen Brasiliens. Traditionell wurden Drogen aus Bolivien und Peru über Paraguay importiert. Mittlerweile ist das PCC auch ins Grenzgebiet zu Venezuela expandiert, wo es über 2.000 Mann verfügen soll und Drogengewinne in die Goldförderung steckt. Verschiedene Quellen berichteten Amazon Underworld, dass das Engagement des PCC dort Supervision, Steuererhebung sowie Dienstleistungen einschließlich Bordellen umfasst. Das Comando Vermelho (CV) ist das älteste Drogenunternehmen Brasiliens. Es wurde 1979 in Rio gegründet und ist in Paraguay und Kolumbien aktiv sowie neuerdings auch in Bolivien und Peru. Die Familia do Norte (FDN) als Drogenorganisation mit Sitz in Manaus wurde in der zweiten Hälfte der Nullerjahre im Zuge von Auseinandersetzungen weitgehend zerrieben und ist teilweise im CV aufgegangen. In Ecuador bekriegen sich Los Lobos und die Choneros , die im Drogenexport tätig sind und jeweils mit unterschiedlichen mexikanischen Organisationen Beziehungen unterhalten. Schlussfolgerungen Amazonien wird im Zusammenhang mit der Klimakrise und einem möglichen ökologischen Kipppunkt diskutiert. Doch bis zu welchem Punkt muss Amazonien vom Organisierten Verbrechen durchdrungen sein um zu sagen, dass die illegalen Ökonomien die Oberhand haben? In manchen Regionen übersteigen die Gewinne aus illegalen Geschäften bereits die behördlichen Budgets. Mit schwacher Präsenz und geringen Mitteln ist der Kampf dagegen ein Ding der Unmöglichkeit, resümiert der Bericht von Amazon Underworld. Seine Empfehlungen beziehen sich auf Kooperation und Informationsaustausch, Stärkung der Grenzsicherheit. Whistleblower und Zeugen müssten geschützt und Korruption bekämpft werden. Die Drogenfahndung einschließlich der zu ihrer Herstellung benötigten Chemikalien sollte intensiviert werden. Umweltprobleme und Gewaltakte sollten in einer grenzüberschreitend zugänglichen Datenbank unter besonderer Berücksichtigung der Erfassung Organisierter Kriminalität dokumentiert werden. Generell sei ganzheitliches Denken erforderlich. Umweltprobleme und Sicherheitsfragen müssten zusammen gedacht werden, Umweltschutzkonferenzen und Sicherheitskonferenzen zusammengeführt. Besonders wichtig sind der Schutz und die Stärkung indigener Gemeinschaften. Der Bericht empfiehlt ferner die Ausweisung grenzüberschreitender Schutzgebiete. Immerhin ein Lichtblick: Mit Gustavo Petro (Kolumbien) und Lula da Silva (Brasilien) haben sich die Präsidenten der wichtigsten Staaten Amazoniens – was Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft betrifft – zu mehr Schutz und Zusammenarbeit bekannt. Www.amazonunderworld.org www.infoamazonia.org www.amazonwatch.org * Koka kann überall dort gedeihen, wo auch Kaffee wächst; so war holländisch Indonesien einstmals ein wichtiger Produzent.
von Robert Lessmann Dr 13. November 2024
Was passiert mit den einstigen Hoffnungsmodellen Lateinamerikas? Kuba und Venezuela läuft die Bevölkerung davon. In Nicaragua herrscht Ortega wie ein abschreckender Diktator. Und in Bolivien arbeitet der erfolgreichste Präsident, den das Land je hatte, heute mit Nachdruck an der Zerstörung seines Erbes und seines Ansehens. Die Berichterstattung unserer Medien – sofern sie von diesen Ländern überhaupt berichten – goutiert Wirtschaftskrisen und die Glaubwürdigkeit von Wahlen. Selten geht es darum, wie es den Menschen geht. Die Solidaritätsbewegung, Freunde und Sympathisanten sehen konsterniert zu – und schweigen. Tobias Lambert blickt aus linker Perspektive hinter die Kulissen Venezuelas, das mit seinem „bolivarianischen“ Ansatz im neuen Jahrtausend ganz Lateinamerika mitreißen wollte. Er bereist das Land seit mehr als 20 Jahren und berichtet darüber. Kenntnis- und detailreich rekapituliert er die Vorgeschichte und den politischen Prozess unter Hugo Chávez (im Bild auf der Klimakonferenz von Cochabamba, 2010) und danach, bespricht Wahlergebnisse und politische Trends auf der Linken wie auf der Rechten. An vielen Stellen vermisst man im Text regelmäßige Jahreszahlen, die helfen würden, in der Komplexität den roten Faden nicht zu verlieren. Eine Zeittafel wäre eine hilfreiche Ergänzung bei allen weiteren Auflagen. Drei Linien treten in Lamberts Analyse als Erklärung hervor: erstens der fragile Extraktivismus. Man könnte auch sagen, ein auf die Einkommen aus dem Export nicht erneuerbarer Rohstoffe (Erdöl im konkreten Fall) gestützter politischer und gesellschaftlicher Voluntarismus. Man hat zwar immer gewusst: „hay que sembrar el petroleo“ (man muss die Öleinnahmen säen, die Wirtschaft diversifizieren), es aber nicht getan. Die Korruption im Land wurde durch den Exportboom noch gefördert. Mit sinkenden Weltmarktpreisen bracht die Krise aus. Zweitens: Die zentrale Rolle einer charismatischen Führungsperson, auf die sich das Projekt stützt und ins Wanken gerät, wenn diese wegbricht. Je stärker das Modell wirtschaftlich und politisch unter Druck geriet, desto mehr reagierte es mit antidemokratischen und repressiven Praktiken, intransparenten Privatisierungen, Teilliberalisierungen unter Beibehaltung staatlicher Kontrollen, steuerfreien Importen von denen eine neue, sogenannte „Bolibourgeoisie“ profitierte. Vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist nur gelegentlich noch die Rede. Und drittens die unverbrüchliche Feindschaft der alten Eliten, der nationalen wie der internationalen. In diesem Zusammenhang wird in Lamberts Buch deutlich, wie desolat und zerstritten die venezolanische Opposition zumeist war (und ist), und wie sie trotzdem von Washington und seinen Verbündeten unterstützt wird, egal wie chaotisch sie daherkommt. Man denke nur an die Anerkennung der „Präsidentschaft“ von Juan Guaidó. Nebenbei wirft das auch ein Schlaglicht auf viel kritisierte Allianzen mit Schurkenstaaten wie dem Iran oder Weißrussland. Mit wem, so könnte man sich in europäischen Hauptstädten fragen, sollte ein Präsident denn Beziehungen anknüpfen, auf den Washington ein millionenschweres Kopfgeld aussetzt? Das Buch behandelt zuletzt sogar noch das umstrittene Wahlergebnis von 2024. Regierung und Opposition reklamieren den Wahlsieg für sich. Washington und seine Verbündeten glauben der Opposition. Beide Seiten behaupten, dass sie ihn dokumentieren können. Wer es definitiv und lückenlos könnte, wäre die Regierung Maduro, woran Lambert keinen Zweifel lässt. Dass sie es nicht tut, schmälert einmal mehr ihre Glaubwürdigkeit, nun auch für die befreundeten Regierungen in Kolumbien und Brasilien, die von der venezolanischen Krise ja mit betroffen sind. Das katastrophale Patt (Antonio Gramsci) zwischen einer repressiv sich an der Macht haltenden Regierung und einer Opposition, von der leider auch nichts zu erwarten ist, können nur die Venezolanerinnen und Venezolaner selbst aufheben. Und darauf besteht vorerst leider wenig Hoffnung. Wie auch immer: Wer zu Venezuela mitreden will, sollte Lamberts Buch lesen. Tobias Lambert: „Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez“, Mandelbaum Verlag, Wien, 2024, 238 S., € 23.-
von Robert Lessmann Dr 15. August 2024
Vorweg: Außenpolitik spielt im US-Wahlkampf eine Nebenrolle und Lateinamerika so gut wie gar keine, sieht man von Migration, Drogen und Rohstoffen (Öl, Lithium) ab. Das ist nicht neu: Coletta Youngers, bis vor Kurzem jahrzehntelange Mitarbeiterin des renommierten Washington Office on Latin America nennt auch die Lateinamerikapolitik der Regierung Biden-Harris „awful“ (heillos – um hier die schwächstmögliche Übersetzung zu gebrauchen). Ausgerechnet General Laura Richardson, Chefin des für Südamerika zuständigen US Southern Command der Streitkräfte, beklagte im letzten Jahr mehrfach öffentlichkeitswirksam, dass die Vereinigten Staaten im Ringen um Rohstoffe ins Hintertreffen geraten seien, insbesondere im Lithiumdreieck: Argentinien, Bolivien, Chile. Ziel müsse es sein (wörtlich) „to box out our adversaries, box out our competitors“ (Widersacher und Konkurrenten wegzuboxen). Diplomatie stellt man sich in den betroffenen Ländern anders vor. Vizepräsidentin Harris führte eine Initiative zur Eindämmung des Migrantenstroms an und konnte in diesem Zusammenhang mehr US-Hilfen für zentralamerikanische Länder durchsetzen sowie Direktinivestitionen von US-Unternehmen einfädeln. Auch wenn für viele NGOs, die in den USA zu diesem Thema arbeiten, die ganze Strategie fragwürdig ist: Der Ansatz, in Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren Fluchtursachen zu bekämpfen, unterscheidet sich deutlich von der menschenverachtenden Mauerbaurhetorik der Vorgängerregierung unter Trump. Harris gilt als besonnene, abwägende Politikerin, die langfristig denkt und nachhaltige Lösungen anstrebt statt publicityträchtige Schnellschüsse. Den frischgebackenen guatemaltekischen Präsident Bernardo Arévalo hatte sie im Weißen Haus empfangen. Harris war allem Anschein nach direkt in die Verhandlungen zum Häftlings-/Geiselaustausch mit Moskau eingebunden, was ein Plus auf der Habenseite für sie und Präsident Biden darstellt. Und sie ist deutlich kritischer gegenüber der israelischen Kampagne in Gaza und lauter in ihrer Forderung nach humanitärer Hilfe für die Menschen dort. Doch sicherlich kann sie nicht allzu kritisch gegenüber ihrer eigenen Regierung sein. Und was in näherer Zukunft mit dem Pulverfass Nahost geschehen wird, weiß niemand. Kamala Harris prägte den Begriff „smart on crime“ (klug oder clever bei der Kriminalitätsbekämpfung), galt als Staatsanwältin aber eher als Hardlinerin. Zum Thema Drogen hat sie sich nicht explizit geäußert. Man darf annehmen, dass sie hier für Kontinuität der Biden-Administration steht und eine Fortsetzung der Angebotsbekämpfung. Und obwohl hier heutzutage Fentanyl und andere künstliche Opioide mit jährlich mehr als 100.000 Toten durch Überdosen klar das Hauptproblem darstellen – sie sind die häufigste Todesursache für Männer zwischen 18 und 50 Jahren in den USA und Opioide werden überwiegend aus Mexiko importiert – gilt das auch für die klassischen, pflanzengestützten Substanzen wie Kokain, wobei hier die Hoffnung besteht, dass eine über Jahrzehnte ergebnislose Politik mit hohen Nebenkosten für die betroffenen Länder stillschweigend einschläft. Seit Beginn der Opioid-Krise im Jahr 2020 starben laut World Drug Report der UN rund eine halbe Million Menschen an Überdosen – und auch wenn hier aktuell die Zahlen leicht rückläufig sind, bleibt die Situation sehr ernst und die Verfügbarkeit noch potenterer illegaler Drogen, sogenannter Nitazene, gibt zu neuer Besorgnis Anlass (UNODC, World Drug Report 2024). Außenminister Antony Blinken sprach bei seiner Intervention auf der UN Commission on Narcotic Drugs im vergangenen Frühjahr in Wien ausschließlich über die Opioidkrise in seinem Land. Unterdessen ist im aktuellen Wildlife Crime Report desselben UNODC (ebenfalls 2024) zu lesen, dass mexikanische Drogenorganisationen auch im illegalen Fischfang involviert sind, wo sie einen Teil ihrer Gewinne investiert haben. Würde man die Dinge in der Zusammenschau betrachten, könnte man sehen: Ob Kokain oder Fentanyl, längst sind wichtige Akteure zu multidivisionalen kriminellen Unternehmen geworden, denen mit den herkömmlichen, eindimensionalen Ansätzen nicht beizukommen ist. Wann besinnt man sich auf Giovanni Falcone, der im Fall der italienischen Mafia forderte: „ Follow the money!“ ? Und zwar konsequent. Damm gegen Rechts Als sich Anfang Juli die Präsidenten der MERCOSUR-Mitgliedsländer in Asunción/ Paraguay trafen, um die Aufnahme Boliviens als Vollmitglied der Wirtschaftsgemeinschaft zu feiern, fehlte Argentiniens Javier Milei. Der selbsternannte Anarchokapitalist nahm lieber neben Jair Bolsonaro, dessen Sohn Eduardo (der als Bindeglied zu rechtsextremen Parteien Europas fungiert) und dem gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Antonio Kast aus Chile an einem zeitgleich stattfindenden Treffen der Confederación de Acción Política Conservadora (CPAC) im brasilianischen Santa Catalina teil. Die internationale Rechte ist vernetzt. Ebendort verkündete der notorische Speiseöl-Tykoon Branco Marinkovic seine Absicht, bei den im nächsten Jahr in Bolivien angesetzten Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Marinkovic ist eine langjährige Schlüsselfigur der extremen Rechten in Bolivien. Er war dort wesentlich am Zivilputsch von Santa Cruz 2008 beteiligt und nach der Machtergreifung der Rechten (2019) im Jahr 2020 kurzzeitig auch Wirtschaftsminister in der sogenannten „Interimsregierung“ von Jeanine Añez. Bedauert wurde in Santa Catalina die Abwesenheit des wahlkämpfenden Expräsidenten Donald Trump, doch dessen ehemaliger Chefstratege Steve Bannon, der seit 1. Juli eine Haftstrafe wegen Missachtung des Kongresses absitzt, gilt als Koordinator rechter Netzwerke weltweit. Der Horror vor einer erneuten Präsidentschaft von Donald Trump ist womöglich die größte Stütze der demokratischen Kandidatin, gerade bei frustrierten, aber politisch wachen jungen Wählerinnen und Wählern, um deren Reaktivierung an den Wahlurnen sie sich besonders bemüht. Auch wenn die progressiven Kräfte eines Tages womöglich von einer Harris-Adminstration enttäuscht sein werden – so, wie sie es auch von Clinton und Obama waren –, ist es doch das Gebot der Stunde, einen weiteren Vormarsch der gesellschaftspolitisch reaktionären, neonationalistischen und xenophoben Kräfte von Putin über Orban und Erdogan bis hin zu Bolsonaro und eben Trump zu verhindern. Da steht einiges auf dem Spiel – wie wir wissen auch in europäischen Ländern wie Frankreich oder Österreich. Unterschätzte Vizepräsidentschaft In den Vereinigten Staaten kursiert ein Witz: Fragt ein Mann den anderen: „Was ist eigentlich aus Ihren Kindern geworden? Man hat lange nichts von ihnen gehört!“ Antwort: „Der eine ist Matrose, der andere Vizepräsident.“ Eine Vizepräsidentschaft gilt als undankbarer Job, der wenig Aufmerksamkeit verspricht. Dem oder der Vize werden gerne unlösbare Aufgaben übertragen. Insofern mag Kamala Harris als Präsidentin im Amt womöglich für viel mehr stehen als für eine ehemalige Staatsanwältin, die nun die erneute Präsidentschaft eines verurteilten Straftäters verhindert. Eine Vizepräsidentschaft ist jedenfalls alles andere als das Tor in die politische Versenkung. Immerhin 15 von 49 US-Vizepräsidenten wurden später Präsident. Manche durch Tod, wie Lyndon B. Johnson für den ermordeten John F. Kennedy, oder wegen eines Rücktritts, wie Gerald Ford für Richard Nixon. Der wiederum hatte es als ehemaliger Vize im zweiten Anlauf geschafft, zum Präsidenten gewählt zu werden. George Bush (sen.) schaffte es nach zwei Amtszeiten von Ronald Reagan direkt, Joe Biden nach einer Amtszeit von Donald Trump. Unter den bisher 49 Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten ist Kamala Harris die erste und einzige Frau. Sie hat gute Chancen, die sechzehnte ehemalige Vizepräsidentin unter dann 47 Präsidenten zu werden und damit die historische erste Frau in diesem Amt. Ihren Vizepräsidentschaftskandidaten dürfte sie nach wahlstrategischen Überlegungen ausgewählt haben. Jedenfalls wird das gegenwärtig so diskutiert. Doch Tim Walz mag darüber hinaus eine Rolle spielen, wenn es darum geht, in einer Harris-Walz-Administration stärker auf Diplomatie zu setzen statt auf militärischen Interventionismus. Seinen Wahlkampf zum Kongressabgeordneten führte er 2006 in Opposition zum Irakkrieg. Später führte er im Kongress eine Gruppe von Demokraten an, die Präsident Barack Obama vor einem Eintritt in einen Krieg in Syrien warnte, und er trat für eine Resolution zur Beendigung der Unterstützung Saudi Arabiens bei dessen Krieg im Jemen ein. Daneben unterstrich er anlässlich der Öffnungspolitik unter Präsident Obama 2016/17 die wechselseitigen Chancen eines möglichen Handels mit Kuba. Dazu kam es dann freilich nicht. Kamala Harris’ National Security Advisor Philip H. Gordon schließlich beschreibt in seinem letzten Buch „Losing the Game: The False Promise of Regime Change in the Middle East“ von 2020, wie alle US-Versuche, im Mittleren Osten Regimewechsel herbeizuführen, scheiterten. In der Einführung zu diesem Buch nimmt er Bezug darauf, dass auch alle diesbezüglichen Versuche im 20. Jahrhundert in Lateinamerika im Fiasko endeten. Dollardemokratie Dass der Zustand der Demokratie in den Vereinigten Staaten besorgniserregend ist, weiß man nicht erst seit der Kandidatenwahl bei den Republikanern, die von sich selbst gern als von der „Grand Old Party (GOP)“ sprechen, und dem Sturm auf das Kapitol nach der von Trump verlorenen Wahl. Während man sich weltweit als Wächter der Demokratie geriert, spielt hier der Dollar eine entscheidende Rolle. In der Demokratischen Partei hielt man trotz aller Zweifel an einer Kandidatur Joe Bidens fest, bis die Wahlkampfspenden wegbrachen. Und Kamala Harris setzte zum Höhenflug an und wurde im Eilverfahren nominiert, als diese auf Rekordniveau kletterten. Da ist es einmal mehr alarmierend, wenn der steinreiche Gegenkandidat mit Elon Musk den reichsten Mann der Welt als glühenden Verehrer und Wahlkämpfer an seiner Seite hat, der für seine Extravaganzen bekannt ist und sich gleich auch noch selbst als möglichen Minister vorschlägt. Daher: The Kamalamania must go on. Nicht nur, weil die Alternative eine Katastrophe wäre. Es gibt auch Anlass zu vorsichtigem Optimismus.
von © Robert Lessmann Dr 12. Juli 2024
Es hat ein „bisserl“ gedauert bis die deutsche Übersetzung erschienen ist. Schon bei Leonardo Paduras Wienbesuch im letzten Jahr war viel von „Personas decentes“ die Rede. Von zwei Kriminalfällen würde der Roman handeln und von zwei Hoffnungsmomenten. Havanna sei letztlich die Hauptperson. In der Tat ist es wohl der kriminalistischste von Paduras Kriminalromanen, dessen Bücher darüber hinaus als die besten soziologischen Studien über seine Heimat Kuba gelten, wo es unabhängige soziologische Studien ja nicht gibt. Von der ersten Seite an wird man unentrinnbar in den Strudel der beiden Geschichten hineingezogen. Der Detektiv Mario Conde hilft seinen früheren Polizeikollegen bei der Aufklärung von zwei grausamen Morden, weil diese gerade alle Hände voll mit dem Besuch des US-Präsidenten Barack Obama und der Rolling Stones zu tun haben. Wir schreiben das Jahr 2016. Parallel dazu erzählt der Polizist Teniente Arturo Saborit von Prostituiertenmorden in Havanna von 1909/10, das nach der Unabhängigkeit von 1902 boomt und wo nichts unmöglich scheint. Interessant sind dabei die Parallelen der Hintergrundkulissen, die Padura mit großem historischen und soziologischen Wissen aufbaut. Hier atemberaubende Gegensätze zwischen Arm und Reich und ein Sumpf von Korruption und Intrigen, wo Zuhälterclans nach belieben schalten und walten, bis sie um die Vorherrschaft kämpfen. Im Rampenlicht der Erzählung steht hier der schillernde Zuhälter Alberto Yarini, eine reale Person. Dort zwei Mordopfer, die vor einem halben Jahrhundert, im sogenannten quinquenio gris (dem grauen Jahrfünft) für die schlimmste Willkür, für Spitzeltum und Repression gegen unangepasste Künstler verantwortlich waren – und die nebenbei in Kunstraub und Hehlerei verstrickt sind. Der „Erzpessimist“ Mario Conde lässt sich von der Öffnungseuphorie nicht anstecken. Schon ganz zu Anfang des Buches erinnert er sich, wie in seiner Jugend heißbegehrte Raubkopien illegaler, „subversiver“ Musik in Umlauf waren: „ A hard days night “ – 1964 war das. Wieso sollte er heute, als „alter Knacker“ beim Besuch der Stones euphorisch werden? Der Autor dieser Rezension forschte vor dreißig Jahren zu den Wirtschaftsreformen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks („Empresas mixtas en Cuba“, 1994) und warnte auch angesichts der Halbherzigkeit ihrer Umsetzung vor Rechtsunsicherheit und der „Gefahr einer Generalisierung des Illegalen“, später vor einem entstehenden „Untergrundkapitalismus“. Heute ist dieser der Wachstumssektor in einer Wirtschaft, die ansonsten von Stillstand geprägt ist und von Depression in den Köpfen der Menschen. Seit 2021 sollen eine halbe Million Menschen die Insel verlassen haben. Überwiegend junge, gebildete. Ein gewaltiger Verlust in einer Elfmillionen-Gesellschaft mit sehr niedriger Geburtenrate. Inzwischen soll die Bevölkerungszahl auf unter 10 Millionen gesunken sein. (PS: Eine Studie vom Juli 2024 spricht gar von nur 8,6 Millionen.) In der Bar, in der Mario Conde während des Booms von 2016 als Aufpasser arbeitet, spendiert er einem Polizeikollegen ein Bier, das soviel kostet wie der in zwei Tagen nicht verdient. Der Laden floriert nicht zuletzt, weil regelmäßig ein „großer Unbekannter“ mit seiner Entourage dort verkehrt, der ihn protegiert. Anspielung oder Fiktion? Noch zur Zeit Fidel Castros kursierten Gerüchte, wonach ein bestimmter Paladar (privat geführtes Restaurant) regelmäßig von einem prominenten Politiker besucht würde. Dort wurden auch Meeresfrüchte serviert, die eigentlich für Paladares damals strikt tabu waren. Jener prominente Politiker wurde später Präsident. Etwa zur selben Zeit sprach der Rezensent mit einer jungen Frau, der man die Lizenz für ihren Paladar entzogen hatte, weil sie zu Tagen der Hochkonjunktur (Exportmesse Expokuba) eine Nachbarin gebeten hatte, beim Putzen zu helfen. Die Mutter von zwei Kindern verdiente ihr Geld nunmehr als Gelegenheitsprostituierte. Die Parallelen zwischen Condes „großem Unbekannten“ und meinem prominenten Politiker mögen fiktiv sein. Verzweiflung und Depression der Menschen sind angesichts der wirtschaftlichen Dauerkrise sehr real. Leonardo Padura lässt sie spürbar werden ohne dass seine Protagonisten die Liebe zu ihrer Heimat verlieren. Conde „drehte sich um. Ein grandioser Impala Cabriolet, Baujahr 1958, rollte langsam über die Avenida. Auf der Rückbank und den Türen saßen drei Frauen und zwei Männer, ausgestattet mit Strohhüten und Bierdosen, und brachten in voller Lautstärke ihre Begeisterung über die Spazierfahrt zum Ausdruck, die der Chauffeur ihnen ermöglichte. An der durch die Tropensonne bereits geröteten hellen Haut wie auch an ihrer Kleidung und dem betrunkenen Gegröle waren sie mühelos zu erkennen: es handelte sich um US-amerikanische Touristen, schließlich kehrten die Gringos jetzt auf die Insel zurück, um sich mit eigenen Augen einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Bewohner dieses realsozialistischen Themenparks ihren Alltag organisierten. Es war derselbe Ort, wo die Großeltern dieser Touristen einst dem Spaß an Rum, Musik und Sex gefrönt hatten, in den zahllosen Kabaretts, Kasinos, Bars und Bordellen dieser offenen, dem Laster verfallenen Stadt. (…) Jetzt waren sie also wieder da, und ihre Dollars waren mehr wert denn je.“ (S. 89)
von © Robert Lessmann Dr 4. Juli 2024
„Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Ereignisse und Personen sich sozusagen zweimal ereignen: das eine Mal als große Tragödie, das andere Mal als Farce“, schrieb Karl Marx in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ in Anspielung auf einen Staatsstreich, der die Französische Revolution gewissermaßen konterkarierte. Am 26. Juni 2024 um 14.30 fuhr ein halbes Dutzend gepanzerter Fahrzeuge auf der Plaza Murillo von La Paz auf, wo Parlament und Präsidentenpalast Boliviens liegen. Eines der Fahrzeuge rammte die Eingangstür zum alten Präsidentenpalast ( Palacio Quemado, der verbrannte oder brenzlige Palast, wie er wegen seiner bewegten Vergangenheit heißt). Dort kam es zu einer verbalen Konfrontation zwischen Armeechef Juan José Zúñiga und Staatspräsident Luis Arce, der ihn aufforderte, nach Hause zu gehen, was der General mit „no“ beantwortete, dann aber doch auf die Plaza zurückkehrte, wo er vor der Presse Statements abgab und in seinem verdunkelten Panzerfahrzeug lange per Handy telefonierte: Das Land sei in der Krise. Es könne so nicht weiter gehen. Man wolle das Kabinett austauschen, Neuwahlen ausrufen und die politischen Gefangenen freilassen. Um 17:30 war der Spuk zu Ende. Die Militärs zogen Richtung ihrer Kaserne im Stadtteil Miraflores ab, wo Zúñiga sowie die ihn begleitenden Chefs von Marine, Juan Arnez, und Luftwaffe, Marcelo Zegarra, gegen 19:00 Uhr verhaftet wurden. Präsident Arce hatte zwischenzeitlich neue Oberkommandierende eingesetzt, die den Rückzug anordneten. Die gute Nachricht: Es soll nur neun Verletzte gegeben haben. Die sozialen Organisationen und die Zivilgesellschaft standen unverzüglich zur Verteidigung der Demokratie parat. Massen von Zivilisten strömten zur Unterstützung der Regierung auf die Plaza Murillo. Der Gewerkschaftsbund COB und die Landarbeitergewerkschaft CSUTCB riefen zum Generalstreik auf. Eva Copa, die Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt, El Alto, wo sich wichtige Militäreinheiten befinden, rief mit der Verfassung in der Hand die Bevölkerung dazu auf, die Straßen zu blockieren. Alle politischen Kräfte, einschließlich der inhaftierten Drahtzieher der rechten Machtergreifung von 2019, deren Freilassung Zúñiga gefordert hatte, verurteilten zunächst den Putschversuch. Die Ereignisse zeigen freilich auch, wie fragil die vormals so stabilen Verhältnisse inzwischen wieder sind. Kaum war der bemerkenswert dilettantische Putschversuch gescheitert, versuchten die politischen Akteure Kleingeld daraus zu ziehen und sprachen von ‚ autogolpe ‘, einem selbstinszenierten Coup, der das Image des Präsidenten habe stärken sollen. In der Tat galt General Zúñiga als Vertrauter Arces, war von diesem vor anderen Kandidaten erst im November 2022 zum Armeechef befördert worden. Beide waren wohl noch am Wochenende zuvor bei einem Basketballmatch zusammen gesehen worden. Zusätzlichen Auftrieb hatte diese Version durch Zúñiga selbst bekommen. Nachdem klar wurde, dass sein Unternehmen scheitern würde, hatte er vor der Presse behauptet, Arce selbst habe ihn um diese Inszenierung gebeten. Glaubwürdig? Tatsache ist, dass General Zúñiga zwei Tage zuvor bei einem Fernsehinterview, das er im Stile eines Staatschefs gab, seine Kompetenzen krass überschritten hatte. Unter anderem hatte er damit gedroht, den Arce-Widersacher, Expräsident Morales, zu verhaften, sollte dieser bei den im nächsten Jahr anstehenden Wahlen wieder kandidieren. Das Militär sei der bewaffnete Arm des Volkes. Am nächsten Tag wurde ihm vom Verteidigungsminister seine Entlassung mitgeteilt, diese aber noch nicht offiziell kommuniziert. Am nächsten Morgen wurden ab 9:30 irreguläre Truppenbewegungen gemeldet. Zúñiga und die anderen Beteiligten waren für ihre politischen Vorgesetzten nicht mehr erreichbar. Zúñiga selbst beklagte sich auf der Plaza Murillo gegenüber der Presse darüber, dass gegenüber der Armee Treue mit Untreue vergolten würde. Die Kurzschlusstat eines beleidigten Egomanen? Tragödie oder Farce? Wie bei der Machtergreifung der Rechten 2019 wurde deutlich, dass die politische Führung das Militär nicht im Griff hat. Auch Armeechef Williams Kalimán, der Morales damals zum Rücktritt aufforderte, hatte sich ja stets als dessen Parteigänger und als ‚ soldado del proceso de cambio‘ bezeichnet. Hatte Zúñiga darauf gesetzt, dass Arce angesichts der Panzerfahrzeuge die Flucht ergreifen würde? Bei Morales hatte ja schon eine mündliche Aufforderung genügt. Diente sein Telefonieren dazu, Verstärkung herbeizurufen, die nicht eintraf? Möglicherweise werden die Gerichtsverfahren Klarheit bringen. Jedenfalls scheinen die bisherigen Ermittlungen darauf hinzudeuten, dass wohl mehr dahinter steckte, als es zunächst den Anschein hatte. Insgesamt wurden mehr als zwanzig hohe Militärs inhaftiert, darunter auch der Chef einer Eliteeinheit aus der Stadt Cochabamba, die fünf Scharfschützen zur Plaza Murillo entsandt hatte. Einschlägige Planungen seien seit Mai gelaufen und ein Soziologe, der im Verteidigungsministerium gearbeitet hatte, wurde unter dem Verdacht, der ideologische Kopf zu sein, ebenfalls verhaftet. Nicht zuletzt sprachen manche Äußerungen und Forderungen Zúñigas vielen Bolivianerinnen und Bolivianern aus der Seele. Die Regierungspartei MAS ist zwischen Anhängern des amtierenden Präsidenten Arce und des Expräsidenten Morales gespalten. Beide Lager halten getrennte Parteitage ab. Erst Anfang Mai hatte das Arce - Lager mit Grover García einen eigenen Parteichef gewählt, ein Amt, das auch Evo Morales für sich in Anspruch nimmt. Die mächtigen sozialen Bewegungen, die die Regierungspartei MAS tragen, sind ebenfalls gespalten. Parteitage und ihre Ergebnisse werden jeweils von der Gegenseite vor dem Wahlgerichtshof angefochten. Im Parlament fliegen zwischen Angehörigen beider Lager mitunter auch die Fäuste. Die reguläre Opposition scheint nach dem Fiasko der von ihren Parteien getragenen „Interimsregierung“ von 2019/2020 nicht vorhanden. Aktuell tobt der Streit um eine Parlamentssitzung, die der Senatspräsident Andrónico Rodríguez ( evista ) einberufen hatte, was – so die arcistas – nur dem Parlamentspräsident David Choquehuanca ( arcista ) vorbehalten sei. Der Oberste Gerichtshof, der darüber urteilen kann, wird nicht anerkannt, weil seine Angehörigen ihr Mandat selbst verlängert haben. Schon seit einem halben Jahr hätten Nachfolger gewählt werden müssen, was wiederum wegen der Paralysierung des Parlaments nicht möglich war. Das Morales - Lager hatte für den 27. Juni zu Straßenblockaden aufgerufen. Die Transportunternehmer blockieren wegen der Treibstoffknappheit ohnehin. Daneben leidet das Land wegen sinkender Gaspreise und Fördermengen unter Devisenknappheit . Man hatte es versäumt, rechtzeitig neue Quellen zu erschließen und die Regierung beklagt nun, dass die Opposition zusammen mit den evistas Kredite blockiere, die für Neuerschließungen nötig wären. Die Nutzung der reichlichen Lithiumvorkommen wiederum kommt seit anderthalb Jahrzehnten nur schleppend voran. Erst unlängst wurde der staatliche YLB (Yacimientos de Litio Bolivianos) von einem Korruptionsskandal geschüttelt. Angesichts dieser Probleme haben viele Bolivianerinnen und Bolivianer den Eindruck, dass sich maßgebliche Politiker nur um ihre Karriere – sprich: ihre Kandidatur bei den 2025 bevorstehenden Wahlen - kümmern, allen voran der 2019 gestürzte, einstige Hoffnungsträger Evo Morales. Dessen Vizepräsident und Berater aus besseren Tagen, Álvaro García Linera, sieht eine große Gefahr für die Institutionalität und die Demokratie in Bolivien.* Das Spiel mit dem Feuer – sprich: dem Militär – sei gefährlich . Besonders in einem Land mit der Putschtradition Boliviens. In der Tat mag fortgesetzte politische Verantwortungslosigkeit dazu führen, dass die Menschen eines Tages mit dem Militär die Hoffnung verbinden, das Chaos zu beseitigen. * Álvaro García Linera: „Lo malo es que, en esta pelea intestina, muy egoista, muy mezquina, están jugando con monstruos. De un lado y del otro, están jugando con los militares y eso es muy peligroso. No se puede banalizar la presencia militar en la política. No se puede banalizar el mal, decía Hannah Arendt. Es algo muy peligroso. Más aún en Bolivia, que tiene un historial récord en el mundo de golpes de Estado. (…) la diferencia entre ambos nace de una mirada muy obtusa de sus luchas personales, sin entender que están jugando con fuego.“
von © Robert Lessmann Dr 14. Mai 2024
Oft betraf und betrifft Außenseitersein oder Ausgrenzung auch Künstler, die dann Sezessionen gründeten oder gar der Spionage beschuldigt wurden, wie beispielsweise Caspar David Friedrich. Dem brasilianischen Kurator Adriano Pedrosa (künstlerischer Leiter des Museu de Arte von São Paulo) ist es – nicht nur, aber auch – zu verdanken, dass der globale Süden auf dieser ältesten internationalen Kunstbiennale (seit 1895) so stark vertreten ist wie nie zuvor. Fremd sein im eigenen Land wird da thematisiert, Kolonialismus und Dekolonisierung. Ein kongolesisches Künstlerkollektiv (Cercle d’Art des Travailleurs de Plantation Congolaise, CATPC) möchte mit seinen Skulpturen „im heiligen Wald“ einen Übergang von einer schmerzhaften Vergangenheit in ein ökologisch nachhaltiges Morgen aufzeigen, fragt aber im Video der Theaterdarbietung einer hitzigen Diskussion („Blasphemie oder Heiligkeit“) gleichzeitig, ob es angemessen und akzeptabel sei, wenn die ehemaligen Kolonisatoren Wiedergutmachung leisten mit dem Geld, das sie womöglich anderenorts auch zusammengeraubt haben? Letztere besteht in einem großen, weißen Würfel (ein Fetisch oder ein Museum für zurückgegebene Raubkunst?), der im „heiligen Wald“ gebaut und von den Betroffenen heiß diskutiert wird. Die eindrucksvolle Präsentation findet im holländischen Pavillon statt, gleich einem der ersten, die man nach dem Betreten der Giardini erreicht. Er wird in Zusammenarbeit des Kurators Hicham Khalidi mit dem Künstler Renzo Martens und mit Unterstützung der holländischen Mondrian Stiftung bespielt. Das Konzept der Länderpavillons löst sich auf. Der russische Pavillon, qua Sanktionen geschlossen, ist an Bolivien ausgeliehen. Moskau pflegt auf diese preiswerte Weise die Beziehung zu Ländern, die vom Westen eher Missachtung oder Zurückweisung erfahren. Der israelische Pavillon bleibt auf Wunsch der Künstlerin Ruth Patir geschlossen, bis ein Waffenstillstand im Gaza-Krieg erreicht und die Geiseln freigelassen sind. Der polnische Pavillon wurde an ein ukrainisches Künstlerkollektiv ausgeliehen. Fremd sein, das heißt oft auch heute noch „fremd sein im eigenen Land“. Indigene Völker spielen – passiv wie aktiv – eine große Rolle auf der Biennale, häufig auch im Zusammenhang mit Ressourcenabbau und Naturzerstörung. „Heute Lithium, morgen Hunger“, konstatiert eine Aufschrift im spanischen Pavillon. Und der dänische Pavillon ist einer Fotoausstellung über die Inuit gewidmet. Indigene Künstler der Yanomami (Brasilien), der Cherokee (Nordamerika) und der Aborigines (Australien) kommen zu Wort. Rember Yahuarcani aus dem Volk der Huitoto im peruanischen Amazonien weist in einem seiner farbenfrohen Großgemälde darauf hin, dass dort zwischen 2013 und 2023 insgesamt 32 indigene Führer und Führerinnen von Eindringlingen, Drogenhändlern und der Holzmafia ermordet wurden. Ihre amazonische Heimat sei für Indigene einer der gefährlichsten Orte. Im Haupthaus der Giardini wird ein Saal von Künstlern mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen bespielt, darunter der Österreicher Leopold Strobl. „Arpilleristas“ aus Chile stellen in den Arsenale Textilkunst aus, mit der sie während der Pinochet-Diktatur ihr Leben im Exil finanzierten. Louis Fratino überrascht in den Giardini unter der Rubrik „Anonymous Homosexual“ mit expliziten Bildern männlicher Homosexualität. Die bolivianischen „Mujeres Creando“ und Claudia (La Chola) Poblete aus Argentinien thematisieren das Schicksal von Sexarbeiterinnen und Transgender-Personen. In einem Raum im Haupthaus der Giardini widmet sich ein „Museum der alten Kolonie“ dem imperialen Verhältnis USA/ Puerto Rico. Das Foto eines guten Soldaten, der sich helfend zu einem nackten Jungen hinabbeugt, stellt in diesem Kontext die Frage, inwieweit man überhaupt „gut“ sein kann als Teil einer mörderischen Maschinerie. Flucht ist kein Verbrechen Im Zentrum stehen indessen Flucht und Migration. Am Eingang zu den Arsenale – einst Waffenschmiede des mediterranen Großreiches Venedig – kreuzt ein schwerbepackter Lastenträger von Yinka Shonibare („Refuge Astronaut“) mit seinem Hab und Gut den Weg der Besucherinnen und Besucher. Im Inneren erzählen Flüchtlinge aus allen Winkeln dieses Planeten in einer Serie von Videos von ihren Schicksalen. Und ein Raum ist angefüllt von großen Landkarten, zu und auf denen sie grafisch von ihren Odysseen berichten. Erst zusammengenommen werden sie von der Dokumentation zum Kunstwerk. Die Biennale ist noch bis zum 24. November geöffnet und immer eine Reise wert. Das Tagesticket für Giardini und Arsenale (zusammen an einem Tag kaum zu bewältigen) kostet 20€, ein Dreitagesticket 40€. Dazu kommt für Tagesbesucher der Lagunenstadt neuerdings und vorerst eine Besuchsgebühr von 5€. Beides ist auch im Internet erhältlich und dann als QR-Code mitzuführen. Dass die Tagesgebühr nach jahrelangen Diskussionen und Vorbereitungen ausgerechnet am Nationalfeiertag und dem ersten langen Wochenende der Biennale testweise eingeführt wurde, ist für die Verwaltung kein Ruhmesblatt und führte zu chaotischen Zuständen an den Ankunftsmolen der Tagestouristen. Und dass ausgerechnet dort im Block und quasi flächendeckend die angekündigten „Stichproben“ vorgenommen wurden, verdankt sich wohl entweder Gedankenlosigkeit oder einem beabsichtigten Abschreckungseffekt. Kenner wählten eine etwas längere Alternativroute und umgingen die mutwillig provozierten Menschenknäuel am Kai elegant durch die engen Gassen, wo sie vielleicht in einem der lokalen Cafes noch einen Espresso und ein kleines Gebäck genossen – auch das findet man noch. Persönliches Highlight des Autors war eine aufwendige Videoprojektion des Schweizer Pavillons im Halbrund eines Himmelsgewölbes, eine Art ungemein selbstironischer Werbefilm einer „Super Superior Civilisation“. Gleichauf und von den meisten anderen Kommentatoren favorisiert ist der Österreichische Pavillon, bespielt von Anna Jermolaewa, die 1970 in Leningrad (UdSSR) geboren wurde und 1989 aus politischen Gründen aus der Sowjetunion fliehen musste. Ein Video von Proben zum Schwanensee-Ballett von Tschaikowski kann als Code für einen erwünschten Machtwechsel gelesen werden. Zu Sowjetzeiten wurde Schwanensee im Fernsehen oft in Phasen politischer Unruhe oder nach dem Tod eines Staatsoberhaupts gespielt – manchmal in Dauerschleife. Ein Raum mit verschiedenen Blumenarrangements ist alles andere als unschuldig: Sie stehen jeweils für eine Revolution. Nelken stehen für die portugiesische Revolution von 1974 und so weiter. Aufsehen erregen sechs Telefonzellen nicht nur bei jungen Besuchern, die gar nicht mehr wissen, was eine Telefonzelle überhaupt ist. Schon ihr Transport per Vaporetto auf den Kanälen Venedigs zu den Giardini war ein Spektakel. Sie stammen aus Traiskirchen. Für viele Flüchtlingen waren sie das Kommunikationsmittel in die alte Heimat. Auch für Anna Jermolaewa. In einem Video von einer Sitzbank im Westbahnhof erzählt sie von der Suche nach der bequemsten Schlafstellung. Die Nächte ihrer ersten Woche in Wien hatte sie dort zugebracht.
Show More
von Robert Lessmann Dr 6. Juni 2025
Antonio Guterres muss sparen. Bei einem derzeitigen Haushalt von 3,26 Milliarden (Mrd.) € (3,7 Mrd. USD) will der UNO-Generalsekretär 15-20 Prozent einsparen. Allein im Sekretariat könnten 20 Prozent der Stellen wegfallen. Einzelne Unterorganisationen und Programme verfügen über gesonderte, oft erheblich höhere Budgets, doch auch sie sind von Kürzungen betroffen. Insgesamt könnten 7.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen sein. Besondere Gefahr besteht für Einzelorganisationen wie das Flüchtlings- und das Palästinenserhilfswerk (UNHCR und UNRWA), die in Washington besonders ungeliebt sind. Aus der Weltgesundheitsorganisation WHO sind die Vereinigten Staaten gerade wieder ausgetreten; aus der UNESCO (Erziehung, Wissenschaft und Kultur) und dem UNHCHR (Menschenrechte) sind sie unter Trump aus- und unter Biden wieder beigetreten. Dabei sind die Vereinten Nationen wegen notorisch überfälliger Beitragszahlungen ohnehin unter Druck. So waren die USA als wichtigster Geber zum 1.1.2025 mit 1,5 Mrd. USD in Verzug. Der inzwischen zweitwichtigste Geber, China, zahlt auch immer erst zum Jahresende. Angesichts der drängenden Probleme (Kriege, Konflikte, Klima) sind eine regelbasierte Weltordnung und multilaterales Handeln wichtiger denn je. Aber gerade sie sind ein Hindernis für Großmachtambitionen – und Reaktionären in ihrem Kulturkampf seit eh und je ein Dorn im Auge. Der Schweizer Unternehmer Christoph Blocher (Schweizerische Volkspartei) nannte die UNO in Ablehnung eines Beitritts (der dann 2002 doch erfolgte) bereits in den 1980er Jahren einen Hort des Kommunismus. Die USA, China und Russland haben den Internationalen Gerichtshof in Den Haag nie anerkannt und missachten seine Urteile, was nicht verwundert, verfolgen diese drei ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats in ihrer Außenpolitik doch expansionistische Ziele. Ganzheitliche Analysen und Nachhaltigkeit Mit den 2015 verabschiedeten nachhaltigen Entwicklungszielen (auch Agenda 2030) legen die Vereinten Nationen schon seit zehn Jahren mehr Wert auf ressortübergreifende Ansätze und Nachhaltigkeit. Soeben (20.5.2025) ist beim in Wien ansässigen Büro für Drogen und Verbrechensbekämpfung (UNODC) ein Bericht erschienen: „ Minerals Crime: Illegal Gold Mining “, als Teil einer in Arbeit befindlichen Globalanalyse von Verbrechen, die die Umwelt schädigen. Bereits der World Drug Report 2023 hatte ein ganzes Kapitel 4 der Verschränkung krimineller Aktivitäten und der Umweltzerstörung in Amazonien gewidmet. (Wir berichteten an dieser Stelle: „Amazoniens Unterwelt“, 26. November 2024, robert-lessmann.com/amazoniens-unterwelt/) Gleich fünf UNO-Unterorganisationen erarbeiteten einen Bericht über Ernährungsunsicherheit in Lateinamerika und der Karibik, der bereits 2024 erschienen ist.* Demnach ist die Region nach Asien am meisten von der Klimakrise betroffen. Unmittelbare Folgen sind Extremwetterereignisse und sinkende landwirtschaftliche Produktivität. Soziale Ungleichheit komme als verschärfender Faktor hinzu. Im Jahr 2023 waren 41 Millionen Menschen in der Region von Hunger betroffen; eine besonders starke Zunahme sei in der Karibik festzustellen. 187,6 Millionen Personen leiden unter Ernährungsunsicherheit, eines von zehn Kindern unter fünf Jahren leidet an Mangelernährung. Paradoxerweise gehen Unterernährung und Übergewicht miteinander einher, sagt Karin Hulshof, die Regionaldirektorin von UNICEF für Lateinamerika und die Karibik. Das Recht von Frauen und Kindern auf Nahrung müsse bei allen Entscheidungen zur Klimapolitik Priorität haben, fordert sie. Im Jahr 2022 waren weltweit 5,6 Prozent der Kinder unter fünf Jahren von Übergewicht betroffen. In Lateinamerika waren es 8,6 Prozent. Die Hälfte der Bevölkerung in der Karibik könne sich keine gesunde und ausgewogene Ernährung leisten, in Mittelamerika seien es 26,3 Prozent und in Lateinamerika 26 Prozent. Laut FAO müsse die Landwirtschaft klimaresilienter werden, damit sie zunehmende Herausforderungen durch den Klimawandel und Extremwetterereignisse besser überstehen kann. Ein Bericht des UN-Weltentwicklungsprogramms (UNDP) vom Jänner 2025 analysiert ebenfalls Probleme durch den Klimawandel, geringe Produktivität, schwaches Wirtschaftswachstum, strukturelle Ungleichheit sowie Vertrauensverlust in Politik und Institutionen. Schon bald müsse man in vielen Ländern Lateinamerikas und der Karibik mit Wasserknappheit rechnen und bis zum Jahr 2080 mit einer schweren Wasserkrise. Das UNDP empfiehlt unter anderem Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Technologie. Politische Entscheidungen – zum Beispiel in Argentinien – gehen in eine andere Richtung. Von Seepferdchen und dem Kokain der Meere: Wildlife Crime Report 2024 Auch ein halbes Jahrhundert nach Inkrafttreten des Washingtoner Artenschutzabkommens (CITES, verabschiedet 1973; heute 184 Unterzeichnerstaaten) sind viele Tier- und Pflanzenarten gefährdet oder vom Aussterben betroffen. Nur wenige Bereiche, wie Elfenbein und Nashorn, genießen globale Aufmerksamkeit. Andere Arten, wie akut vom Aussterben bedrohte Orchideen, werden kaum beachtet. In Südamerika liegen die gravierendsten Probleme im Bereich von Tropenhölzern, wie Großbeschlagnahmungen zeigen. Auch hier weist der Bericht auf gefährliche Verschränkungen verschiedener krimineller Sektoren hin, im konkreten Fall mit dem Drogenhandel und dem illegalen Goldabbau. Auch eine soziale Sensibilität greift Platz, die man sich in anderen Bereichen, wie zum Beispiel dem Kokaanbau, auch längst gewünscht hätte. So sind Seepferdchen ein nicht zu unterschätzender illegaler Exportartikel Perus für Aquarien oder getrocknet (nach Asien, etwa Thailand oder die Philippinen). Peru ist übrigens die drittgrößte Fischereination nach China und Indonesien. Die Seepferdchen kommen meist tot oder sterbend als Beifang. Die Illegalität beginnt mit der Anlandung. Fischer sehen den Seepferdchen-Beifang als eine Art Bonus und wissen meist gar nicht, dass ihr Tun illegal ist. Sie wieder in die See zu werfen erscheint so sinnlos wie eine Bestrafung für das unabsichtliche Werk der kleinen Fischer. Illegal ist in Peru aber das Fischen mit Schleppnetzen innerhalb der Fünfmeilenzone, wo die meisten Seepferdchen hängen bleiben dürften. Gute Geschäfte machen Aufkäufer und Händler. Davon zeugen einzelne Beschlagnahmungen im Bereich von mehreren hundert Kilogramm. Im Jahr 2017 wurden 900 kg in Vietnam in einem Container aus Peru beschlagnahmt. Im September 2019 waren es 1.043 kg getrocknete Seepferdchen in einem Schiff vor der peruanischen Küste. Besonders kurios ist die Symbiose von Drogenexport und der illegalen Fischerei durch Mitglieder mexikanischer Drogenorganisationen. Ursprünglich ein willkommenes Zubrot beim Drogentransit, entdeckte man mit der Schwimmblase eines vom Aussterben bedrohten Fisches (Totoaba) das „Kokain der Meere.** Die Fischer erhalten dafür pro Kilo zwischen 500 und 3.000 USD. In China, wo sie in Suppen, in der traditionellen Medizin oder sogar als Wertanlage verwendet wird, kann man 80.000 USD erzielen. Washington isoliert Von einem Wendepunkt in der Geschichte der internationalen Drogenpolitik spricht Ann Fordham, Direktorin der NGO International Drug Policy Consortium (IDPC): Mit 30 Stimmen, 18 Enthaltungen und drei Gegenstimmen (Argentinien, Russland und die USA) nahmen die Delegierten der 68. Commission on Narcotic Drugs (CND) des Wirtschafts- und Sozialrates der UN, die im März diesen Jahres in der Wiener UNO-City stattfand, eine unter Federführung Kolumbiens eingebrachte Resolution an, die die Einrichtung einer 19-köpfigen Expertengruppe vorsieht, um das Regelwerk der internationalen Drogenkontrolle zu überdenken und „to prepare a clear, specific, and actionable set of recommendations aimed at enhancing the implementation of the three drug conventions, as well as the obligation of all relevant international instruments, and the achievement of all international drug policy commitments.“ Zehn Mitglieder bestimmt die CND, fünf der Generalsekretär und drei das International Narcotics Control Board (INCB, der UN Suchtstoffkontrollrat zur Überwachung der Einhaltung der drei UN-Drogenkonventionen) und eines die Weltgesundheitsorganisation WHO. Dieser Beschluss reiht sich ein in eine Tendenz der allmählichen Öffnung der internationalen Drogenkontrolle, die ursprünglich fast vollständig von den USA dominiert war. So räumte die UN Sondergeneralversammlung zum Thema Drogen von 2016, bei deren Vorbereitung erstmals andere UN Unterorganisationen, wie die WHO oder das Hochkommissariat für Menschenrechte und zivilgesellschaftliche Organisationen mitwirkten, größere „Interpretationsspielräume“ bei der Auslegung der drei UN Drogenkonventionen ein, um Desertionen vorzubeugen. NGO-Vertreterinnen machen nicht zuletzt ein „atemberaubend arrogantes Eingangsstatement“ und völlig unflexible Positionen ohne Verhandlungsbereitschaft der US-Delegation für das klare Votum der Delegierten verantwortlich. So wurden China, Kanada und Mexiko entgegen aller Gepflogenheiten direkt angegriffen und für die vielen Überdosis-Toten der US-Opioidkrise verantwortlich gemacht. Die kolumbianische Botschafterin Laura Gil in ihren Statement: „Alle Kolumbianerinnen und Kolumbianer verstehen und spüren, dass das globale Drogenproblem einen Schatten auf uns alle wirft, und dieses Forum ist eine Einladung, um unter dem Schirm der Konventionen das Prinzip der gemeinsamen und geteilten Verantwortung [für das Drogenproblem R.L.] jetzt und heute zu überdenken. Mein Land hat mehr Menschenleben geopfert als jedes andere in diesem Drogenkrieg, der uns aufgezwungen wurde. (…) Unsere besten Männer und Frauen und ein Löwenanteil unseres Budgets gingen in die Bekämpfung des illegalen Drogenhandels. Wir brauchen neue und effektivere Mittel um ein globales System zu verwirklichen. Weiter zu machen wie bisher wird zu nichts führen.“ Ob diese Resolution tatsächlich einen Wendepunkt darstellen wird, muss ihre Umsetzung zeigen. Diese könnte, wie andere vielversprechende Ansätze, finanziellen Strangulierungen zum Opfer fallen. Laura Gil, die treibende Kraft dahinter, wurde am 5. Mai zur Stellvertretenden Generalsekretärin der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) gewählt und wird Wien verlassen. In der UNO-City kursieren Gerüchte und Spekulationen darüber, wie es mit den verschiedenen Unterorganisationen, wie etwa dem UNODC, weiter gehen könnte. Bei aller berechtigten Kritik an den Schwächen der Vereinten Nationen: Sie sind nur so stark wie ihre Mitgliedsländer es zulassen. Das Geschäft jener zu betreiben, die sie ohnehin schwächen oder abschaffen wollen, wäre abenteuerlich. * Food and Agriculture Organization (FAO), Fondo Internacional de Desarrollo Agrícola (FIDA) Organisación Panamericana de Salud (OPS), Programa Mundial de Alimentos (WFP) und UNICEF: „El Panorama Regional de la Seguridad Alimentaria y la Nutrición 2024“ ** Neben dem erwähnten UNODC-Bericht auch: Israel Alvarado Martínez and Aitor Ibáñez Alonso: „Mexican Organized Crime and the Illegal Trade in Totoaba Maw“ in: Organized Crime 24, No. 4, 1st Dec. 2021 (https://doi.org/10.1007/s12117-021-09436-9)
von Robert Lessmann Dr 14. Mai 2025
Das hatte sich der wohl erfolgreichste Präsident, den Bolivien je hatte, anders vorgestellt. Das kleine Land im Herzen des Halbkontinents war nach seinem Erdrutschsieg Ende 2005 vielbeachteter Hoffnungsträger. Könnte die Entwicklung dort ein Vorbild sein? Nichts weniger als die „Neugründung Boliviens“ hatte man sich vorgenommen. Eine Regierung der sozialen Bewegungen wollte man sein. Bereits sechs Wochen nach Amtsantritt wurde ein Einberufungsgesetz zu einer verfassunggebenden Versammlung verabschiedet. Die neue Verfassung wurde dann 2009 – erstmals durch eine Volksabstimmung – angenommen. Bolivien wurde durch sie zum „plurinationalen Staat“. Soziale Rechte, Indígena-Rechte und die Rechte der Pachamama wurden darin festgeschrieben. Indigene Sprachen wurden auch Amtssprachen und die bunte Wiphala-Fahne gleichwertig neben die rot-gelb-grüne Nationalflagge gestellt. Die Nationalisierung der Kohlenwasserstoffressourcen vom 1. Mai 2006 spülte bei günstiger Konjunktur Devisen in die Staatskasse, die für eine Umverteilungs- und Sozialpolitik verwendet wurden. Die Armutsquote sank deutlich, die durchschnittliche Lebenserwartung stieg um Jahre. Ein bedeutender Teil der Unterschicht stieg in die untere Mittelschicht auf. Deren Binnennachfrage stabilisierte die Wirtschaft, auch als die Exporteinnahmen nach 2015 einbrachen. Grundlage war der Extraktivismus, insbesondere die Exporte von Erdgas. Grundlegende Strukturreformen unterblieben. Die Präsidentschaft von Morales war von einer Serie von Wahlen und Abstimmungen begleitet, was manche Beobachter als referenditis bezeichneten. Er hat sie alle mit absoluter Mehrheit gewonnen: eine bis dato in Bolivien unbekannte politische Stabilität. Nur nicht die beiden letzten... Heute sitzt Morales im Trópico de Cochabamba ohne Kandidatenstatus, ohne Partei, von einem harten Kern seiner Getreuen beschützt. Gegen ihn läuft ein Verfahren wegen Sex mit Minderjährigen und Menschenhandel. Wie kam es dazu? Morales’ Fall Schon in seiner Zeit als Gewerkschaftsführer hat Morales Widersacher und Gegenkandidaten erfolgreich ausgeschaltet. Als Präsident wechselte er seine Minister in rascher Reihenfolge, servierte unter anderem seinen Mentor und Lehrmeister ab, den großen alten Gewerkschafter Filemón Escobar, und war sehr erfolgreich darin, die wichtigsten der vielen sozialen Bewegungen zu bedienen, die seine Regierung unterstützten. Die neue Verfassung vom Januar 2009 sieht in Art. 168 nur zwei aufeinanderfolgende Amtsperioden vor. Ein Referendum zur Änderung dieses Artikels ging im Februar 2016 knapp verloren. Mitentscheidend waren damals Berichte eines „Enthüllungsjournalisten“ über ein gemeinsames außereheliches Kind des Präsidenten mit einer stets grell geschminkten Blondine, was dieser abstritt. Bilder von gemeinsamen Auftritten – etwa beim Karneval von Oruro – belegten demgegenüber zumindest eine gewisse Verbindung zwischen beiden und später wurde die Dame zu einer Haftstrafe verurteilt. Sie hatte in dieser Zeit millionenschwere Regierungsaufträge für die chinesische Firma an Land gezogen, für die sie arbeitete. Der Ruf war angekratzt, doch wurden keine Spuren eines angeblichen Kindes gefunden. Politisch schlimmer wog, dass Morales das Ergebnis dieses Votums ignorierte und bei den Wahlen vom Oktober 2019 erneut kandidierte, was seinen Ruf als Demokrat nachhaltig beschädigte. Seine Popularität sank. Für die Opposition war klar: Es würde Wahlbetrug geben, das Regierungslager sah einen Putsch voraus. Die Wahlen brachten dann herbe Verluste von wahrscheinlich 14 Prozent, doch Morales gewann sie noch immer mit etwa 47 Prozent. Fraglich blieb, ob er 10 Prozentpunkte vor dem stärksten Oppositionskandidaten lag, wodurch eine Stichwahl vermieden würde. Als in der Wahlnacht die Schnellauszählung (nicht die amtliche!) angehalten wurde, nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Sechs von neun Departments-Wahlzentralen gingen in Flammen auf. Straßenproteste wurden wenige Tage später durch eine Polizeimeuterei befeuert. Schließlich legte der Armeechef Morales den Rücktritt nahe. Präsident und Vizepräsident gingen erst ins mexikanische Exil, dann nach Buenos Aires. Dorthin – so die heutige Anklage – sollen Morales immer wieder junge Mädchen zugeführt worden sein. Mit einer seinerzeit Fünfzehnjährigen soll er eine Tochter haben. Es war Hybris der Macht, mit der sich Morales selbst ins Abseits manövrierte. In Bolivien übernahm eine De-facto-Regierung, die von der politischen Rechten getragen wurde, von Korruption gekennzeichnet war und ohne Umschweife versuchte, den Prozess des Wandels, der seit 2006 stattgefunden hatte, rückgängig zu machen. Sie scheiterte an den Herausforderungen der Corona-Pandemie und politischen Ambitionen der Beteiligten. So wurde der Zweitplatzierte bei der Wahl von 2019, Carlos D. Mesa, praktisch ausgeschaltet. Vor allem aber erzwangen die machtvollen sozialen Bewegungen, die die MAS-Regierung stets getragen hatten, durch Straßenblockaden Neuwahlen, die dann im November 2021 die MAS mit 55,1 Prozent eindrucksvoll zurück an die Macht brachten. Vom argentinischen Exil aus hatte Morales seinen langjährigen Superminister für Wirtschaft und Finanzen, Luis Arce, als Spitzenkandidaten nominiert und seinen Intimfeind David Choquehuanca als Kandidat für die Vizepräsidentschaft. Der langjährige Außenminister hatte sich nach dem verlorenen Referendum vom Februar 2016 als Kandidat ins Spiel gebracht und war von Morales daraufhin auf einen Diplomatenposten ins „Exil“ befördert worden. Die Parteibasis hatte zuvor für Choquehuanca und Andrónico Rodríguez als Vize votiert, einen jungen politischen Ziehsohn Morales’. Nach dem Amtsantritt der Regierung Arce/ Choquehuanca kehrte Morales, vom argentinischen Präsidenten Alberto Fernández bis an die Grenze begleitet, im Triumphzug nach Bolivien zurück und versuchte sogleich, als Parteichef und Übervater weiterhin die Regierung zu lenken. Das konnte nicht gutgehen. Schon die Regionalwahlen von Anfang 2021 wurden – obzwar deutlich gewonnen – zum relativen Misserfolg. Es reüssierten oftmals Kandidaten und Kandidatinnen, die von Morales ausgebremst worden waren. Der jungen Eva Copa, die als Senatspräsidentin das Fähnlein der MAS gegen die De-facto-Regierung hochgehalten hatte während die Parteispitze im sicheren Exil saß, wurde vorgeworfen, mit der Regierung kooperiert zu haben. Eine Nominierung wurde ihr verwehrt. Sie wurde dann auf einer indigenistischen Liste mit 70 Prozent zur Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt, El Alto, gewählt. Stichwahlen gingen verloren und wurden teilweise durch MAS-Dissidenten gewonnen. Die MAS-internen Spannungen nahmen zu und regelmäßig wurden Präsident und Vizepräsident oder einzelne Minister von den sozialen Bewegungen zum Rapport einbestellt, die damals noch hinter Morales standen. Währenddessen versuchte die Opposition von ihrer Hochburg Santa Cruz aus fortlaufend, die Regierung durch „Bürgerstreiks“ zu destabilisieren, was das Land in Summe Milliarden kostete. Unter anderem war man gegen so triviale Dinge wie eine Volkszählung. Ein Fanal war die Aufforderung von Morales an „seine Regierung“ endlich in Sachen Volkszählung zu handeln – und zwar mit den Argumenten der Opposition. In dem Maße, wie die Kritik am Expräsidenten wuchs, der aus dem sicheren Exil heraus jene kritisiert hatte, die daheim für ihn den Kopf hingehalten hatten, wurde Morales’ Kritik an „seiner“ Regierung immer direkter und schriller. Morales warf ihr einen Rechtsruck und Paktieren mit der Opposition vor, nachdem man sich auf ein Verfahren zur Volkszählung geeinigt hatte. Zwölf Abgeordnete wurden aus der Partei ausgeschlossen, jegliche Kritik als „Verrat“ diffamiert. Als sich der junge Innenminister Eduardo del Castillo im Jänner 2022 „erdreistete“, Maximiliano Dávila zu verhaften, der unter Morales Chef der Spezialkräfte für den Kampf gegen den Drogenhandel gewesen war, nun aber von der DEA gesucht wurde und sich auf der Flucht nach Argentinien befand, wurde er neben Vizepräsident Choquehuanca und zusammen mit dem Justizminister zum Lieblingsfeind. Morales sprach von einem sinistren Plan gegen ihn und verlangte immer wieder deren Rücktritt. Man beschuldigte sich gegenseitig, mit dem Drogengeschäft unter einer Decke zu stecken. Als die MAS-Parlamentsfraktion zusammen mit der Opposition ein Amtsenthebungsverfahren gegen del Castillo durchsetzte, wurde er von Präsident Arce umgehend wieder berufen. Schließlich hatte er sich nicht nur aktiv gegen die Machtergreifung der Rechten 2019 gewehrt. Er hatte zusammen mit dem Justizminister auch dafür gesorgt, dass die maßgeblich Verantwortlichen vor Gericht gestellt wurden, darunter eine ganze Reihe hoher Militärs. Selbstdemontage der MAS Im Oktober 2023 war das Band zerrissen. Es gab bereits zwei MAS-Parlamentsfraktionen und auch die sozialen Bewegungen waren in „evistas“ und „arcistas“ gespalten. Morales berief einen Parteitag in seiner Hochburg im Kokaanbaugebiet des Tropico de Cochabamba ein, wo sich der lider indiscutible zwei Jahre vor den Wahlen zum Parteichef wiederwählen und vorzeitig zum Spitzenkandidat küren ließ. Dass Arce und Choquehuanca nicht kamen wurde als „Selbstausschluss“ gewertet. Freilich wurde der Parteitag als solcher wegen Verfahrensfehlern bei der Einberufung vom Wahlgerichtshof nicht anerkannt. Der Oberste Gerichtshof untersagte Morales schließlich mit einer abenteuerlichen Auslegung der Verfassung überhaupt die Kandidatur, weil er schon zweimal Präsident war. Diese spricht freilich für diesen Fall wie gesagt von aufeinanderfolgenden Amtsperioden. Die „evistas“ erkennen das Urteil nicht an, weil die Amtszeit der Richter bereits abgelaufen war. Eine Neuwahl der Verfassungsrichter war wegen der Pattsituation im Parlament nicht möglich gewesen. Im Mai 2024 wählten die „arcistas“ auf „ihrem“ Parteitag in El Alto mit Unterstützung des ihnen nahe stehenden „Einheitspakts“ der sozialen Organisationen den Bauerngewerkschafter (CSUTCB) Grover García zum Parteichef der MAS. Die „evistas“ protestierten dagegen mit Märschen und Straßenblockaden, die teilweise gewalttätig verliefen und sukzessive an Zulauf verloren. Auch sie dürften Milliardenschäden für die Volkswirtschaft verursacht haben. Präsident Arce hielt sich derweil vornehm zurück: Es sei die Zeit zu arbeiten. Für eine Kandidatenwahl sei es zu früh, gab er den fleißigen Administrator. Ein Volkstribun ist er ohnehin nicht. Dafür verfügt er als Präsident über die Mittel, seine Gefolgschaft bei der Stange zu halten. Woher Morales sie nimmt, ist nicht bekannt. Dabei steckt Bolivien in einer ernsten Wirtschaftskrise. Dollars sind knapp. Zeitweise muss händeringend Diesel importiert werden und die Lähmung des Transportsektors befeuert die Inflation. Ersatzinvestitionen wurden lange vernachlässigt. Die Regierung gibt die Schuld der Blockade der „evistas“, die im Parlament zusammen mit der Opposition Gesetze und Kreditbewilligungen blockierten. Die Devisenreserven fallen schon seit 2015 und liegen mit 1,9 Mrd. US-Dollars (USD; entspricht 4 Prozent des PIB) auf dem niedrigsten Stand seit 2005. Ein Bericht der UN Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) listet Bolivien unter den Ländern mit dem niedrigsten Wachstum und der höchsten Inflation auf. Präsident Arce wurde in der öffentlichen Wahrnehmung vom Architekten des bolivianischen Wirtschaftswunders zum Versager. In Umfragen liegt er bei 5 Prozent, während Morales immerhin noch rund 20 Prozent zugeschrieben werden. Ein bolivianischer Elon Musk? Was diese Umfragen wert sind, ist die Frage. Am meisten Aufmerksamkeit genossen jene, die von Marcelo Claure in Auftrag gegeben wurden, einem Selfmade-Unternehmer und Besitzer von Fußballclubs in Bolivien und den Vereinigten Staaten. Er strebe selbst kein Regierungsamt an, sagt er, wolle aber gerne helfen, Bolivien aus der Krise zu führen. Hauptsache, die Herrschaft der MAS ende. Aber Andrónico wäre noch immer besser als ein Pädophiler (Morales) oder ein Unfähiger (Arce): „Andrónico es mil veces mejor que un pedófilo o un incapaz y tengo mucha fé que todos trabajaremos juntos para sacar a Bolivia de este hueco“. Seine politische Präferenz liegt rechts der Mitte. Dort tritt eine Reihe von Altpolitikern an. Manfred Reyes Villa, 2021 mit 59 Prozent erneut zum Bürgermeister von Cochabamba gewählt, kommt ursprünglich aus dem Umfeld der ADN von Exdiktator Hugo Banzer. Er gilt als ebenso effizienter wie korrupter Administrator. Nach der Machtübernahme der MAS 2006 musste er mit einem halben Dutzend Korruptionsverfahren im Gepäck außer Landes fliehen. Daneben scheint eine Rechtsallianz, die hauptsächlich aus Drahtziehern der 2019 eingesetzten „Interimsregierung“ bestand, mit dem Ausscheiden von „Tuto“ Quiroga zerbrochen. Ihr wurden rund 20 Prozent prognostiziert. Quiroga war nach dem Krebstod von Hugo Banzer als dessen Vize von August 2001 bis August 2002 schon einmal zum Präsident aufgerückt. Er gilt als Schlüsselfigur jener illustren Runde, die nach der Flucht von Morales 2019 in der Universidad la Católica die Strippen für die Einsetzung der „Interimsregierung“ zog. Frontmann ist nunmehr der Zementunternehmer Samuel Doria Medina, der bereits 1992 unter dem sozialdemokratischen Präsidenten Jaime Paz Zamora einmal Planungsminister war. Er gilt als liberal-gemäßigt. Ebenso wie Carlos D. Mesa der Zweitplatzierte bei den Wahlen vom Oktober 2019, vormals ein honoriger Journalist und Historiker, der jedoch wegen seiner Rolle bei den Novemberereignissen von 2019 als „verbrannt“ gilt. Mit von der Partie ist aus dem Gefängnis Chonchocoro heraus auch Fernando Camacho, Organisator der Blockadeaktionen von Santa Cruz gegen die Regierung Arce, der sich damit brüstet, dass sein Vater 2019 die Polizei geschmiert und zur Rebellion angestiftet hat. Er wurde deshalb am 28. Dezember 2022 verhaftet. Im Umfeld der Überreste der seinerzeit von Hugo Banzer gegründeten ADN geistert ferner der notorische Speiseöltycoon Branco Marincovic herum, der bereits beim Zivilputsch von Santa Cruz 2008 die Fäden zog. Bolivien hat eine sehr junge Bevölkerung. Viele Wählerinnen und Wähler sind unter 30 Jahre alt und dürften sich kaum noch an die erfolgreichen ersten Jahre der Morales - Regierung erinnern, geschweige denn an das voraus gegangene Chaos und die damit verbundenen politischen Dinosaurier. Eine wichtige Rolle dürfte die Präsenz in den sozialen Medien spielen. Der Faktor Andrónico Politologen sprechen von einem dysfunktionalen Parteiensystem. Die einzige Partei mit nationaler Reichweite und Verankerung ist die MAS – und selbst die hatte vor den Regionalwahlen 2021 Schwierigkeiten, geeignete Kandidaten zu finden. Die Finanzierung ist ein großes Problem. Man ist in einer Partei, weil man im Falle ihres Wahlsiegs auf einträgliche Posten hofft. Umgekehrt suchen sich Persönlichkeiten eingetragene Wahlkürzel, die sich mitunter sogar in Familienbesitz befinden und vermietet werden. Morales etwa ist aktuell verzweifelt auf der Suche nach so einer "Taxipartei". Ferner will er mit einem Marsch auf La Paz seine Kandidatur erzwingen. Ebenfalls auf der Suche nach einer „politischen Heimat“ ist Andrónico Rodríguez. Der 36-jährige Senatspräsident stammt aus Morales’ Kernland im Trópico und wurde von ihm als potenzieller Nachfolger aufgebaut. Lange führte er im Parlament die Fraktion der „evistas“ an, war dabei aber eher moderat und besonnen. Nach langem Zögern ist er nun vielfachen Rufen nach einer politischen Frischzellenkur nachgekommen und hat erklärt, dass er kandidieren wolle. Die „evistas“ sprachen umgehend von Verrat. Er steht für eine Fortführung des proceso de cambio und der bäuerlich-plebejischen Orientierung, kommt mit seiner Dialogbereitschaft aber auch bei den städtischen Intellektuellen an. Nun sucht der erklärte Kandidat nach einer Partei. Noch ist nicht abzusehen, wohin die Reise geht. In Frage kommen das Movimiento Tercer Sistema von Felix Patzi, der einmal Bildungsminister unter Morales war und gefeuert wurde oder das Movimiento de la Renovación Nacional der Bürgermeisterin Eva Copa, denen er erst Statur geben könnte. Oder ist Andrónico die letzte Chance für die MAS? Die hatte nach der Kandidatur von Andrónico Rodríguez einen Parteitag, auf dem Luis Arce zum Präsidentschaftskandidaten gekürt werden sollte, auf unbestimmte Zeit verschoben und Präsident Arce erklärte daraufhin, er würde nicht kandidieren und forderte Morales auf, es ihm gleich zutun. Beides vergeblich: Rodríguez wollte nicht für die "arcistas" kandidieren. Nachtrag (26.5.) nach Registrierungsschluss Der Nationale Wahlgerichtshof gab nunmehr folgende Kandidatenlisten bekannt: Nueva Generación Patriótica (NGP): Präsidentschaftskandidat Jaime Dunn mit Vizepräsidentschaftskandidat Édgar Uriona Partido Demócrata Cristiano (PDC): Rodrígo Paz mit Edman Lara Frente Izquierda Revolucionaria (FIR) y Demócratas: Jorge Quiroga mit Juan Pablo Velazco Unidad Nacional (UN) y Creemos : Samuel Doria Medina mit José Luis Lupo APB – Sumate : Manfred Reyes Villa mit Juan Carlos Medrano Libertad y Progreso/ ADN : Paulo Folster mit Antonio Saravia Fuerza del Pueblo : Jhonny Fernandez mit Felípe Quispe Aus der (noch) Regierungspartei MAS gingen letztlich drei Listen hervor: Movimiento al Socialismo (MAS): Eduardo del Castillo und Milán Berna (aus der Bauerngewerkschaft CSUTCB) Movimiento de Renovación Nacional (MORENA): Eva Copa mit Jorge Richter (vormals Regierungssprecher von Präsident Arce) Alianza Popular/ MTS : Andrónico Rodríguez mit Mariana Prado (von 2017-2019 Planungsministerin unter Morales; gegenwärtig läuft noch ein Verfahren, ob das Movimiento Tercer Sistema von Felix Patzi die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt) Evo Morales hat seine ehemalige Ministerin für Kultur und Tourismus (2017-2019), Wilma Alanoca, als Vizepräsidentschaftskandidatin vorgesehen und kämpft mit einem für heute (26.5.) angekündigten Marsch auf La Paz weiterhin um nachträgliche Zulassung.
von © Robert Lessmann Dr 27. Januar 2025
Beim Thema Migration haben die Trump-Dekrete bereits Verzweiflung ausgelöst. Als „scary“ (erschreckend oder beängstigend) beschreibt unsere Kollegin Coletta Youngers, die bis vor Kurzem jahrzehntelang für das Washington Office on Latin America (WOLA) gearbeitet hat, die Atmosphäre seit der Amtseinführung des 47. Präsidenten. In ihrem Stadtviertel wohnen viele Migranten, die sich fragen, was mit den angekündigten Razzien auf sie zukommt. Beängstigend ist auch die umgehende Begnadigung der Teilnehmer des Sturmes auf das Kapitol, knapp 1.600 Angeklagte beziehungsweise Verurteilte, darunter Führer und Mitglieder der paramilitärischen und rechtsradikalen „Proud Boys“ und „Oath Keepers“, die wegen schwerer bis schwerster Delikte vor Gericht kamen, zum Beispiel Enrique Tarrio, Vorsitzender der „Proud Boys“, der wegen Verschwörung zu 22 Jahren Haft verurteilt worden war. Die nachträgliche Legitimierung eines Putschversuchs durch den Anstifter? Seinerseits scheinbar legitimiert durch das aktuelle Wahlergebnis, was die Sache eher schlimmer macht als besser. Beängstigend auch der sofortige Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaabkommen und der Weltgesundheitsorganisation WHO. Ein klares Bekenntnis gegen den Multilateralismus in einer Zeit multipler Krisen. „America First“, bedeutet das für Lateinamerika die Rückkehr zur Monroe-Doktrin, wonach der Halbkontinent exklusives Einflussgebiet oder Hinterhof der Vereinigten Staaten sind? Jedenfalls wird Lateinamerika an Aufmerksamkeit gewinnen. Zuletzt spielte der Halbkontinent im Süden eine eher geringe Rolle in der US-Außenpolitik, die dort auf Krisen wie Migration und Drogen bezogen war und sich sonst um andere Regionen kümmerte. Während in der ersten Amtszeit Trumps wichtige Posten, wie der des zuständigen Undersecretary for Western Hemispheric Affairs im State Department, monatelang unbesetzt blieb, legen das schon die Personalentscheidungen nahe. Außenminister wird mit Marco Rubio ein exilkubanischer Hardliner, sein Stellvertreter wird Christopher Landau, der Botschafter in Mexiko war. Schon im Vorfeld wurden Mitarbeiter des State Departments ausgetauscht und durch Getreue ersetzt. Nicht zuletzt wurden eine Reihe von Botschaftsposten in lateinamerikanischen Staaten umbesetzt. Mit Mauricio Claver-Carone wurde ein weiterer Exilkubaner, Hardliner und Sanktionsbefürworter Sonderbeauftragter für Lateinamerika. Schon während seiner ersten Amtszeit war Trump dafür bekannt, unterschiedliche Positionen gegeneinander auszuspielen. Sondergesandter – unter anderem für Venezuela – wurde mit Richard Grenell ein weiterer bekannter Hardliner, vormals Botschafter in Berlin, doch er ist mehr „Freihändler“ als Sanktionsbefürworter. Zentrale Themen dürften neben Migration und Drogen nun auch der Kampf um Rohstoffe und gegen die chinesische Dominanz sein. Hier kommt der omnipräsente Elon Musk ins Spiel, der als Autobauer direkte Interessen am Lithium-Dreieck (Argentinien, Bolivien, Chile) hat. Im WOLA erwartet man insgesamt deutliche Rückschritte bei demokratischen Normen, Räumen für die Zivilgesellschaft, dem Schutz der Minderheitenrechte, der Unabhängigkeit der Justiz, bei Initiativen für Inklusion und Vielfalt, Minderheitenrechten und beim Klimaschutz. Die Nähe zu autoritären Führern, wie Javier Milei (Argentinien), Nayib Bukele (El Salvador) oder der Bolsonaro-Familie könnte anti-demokratische Elemente in der Region beflügeln und demokratische Institutionen, bürgerliche Freiheiten und Sicherheiten sowie den Schutz der Menschenrechte in Frage stellen. Ein Sohn Bolsonaros gilt als Schlüsselfigur für die Vernetzung der lateinamerikanischen mit der internationalen Rechten und Jair Bolsonaro rief seine Anhänger zu Massendemonstrationen gegen die Einschränkungen für Musks Plattform X auf. Zur Amtseinführung konnte er nicht kommen. Wegen laufender Verfahren ist er mit einem Ausreiseverbot aus Brasilien belegt. Thema Migration Die Bekämpfung der Migration war und ist ein Trump’sches Kernthema. Er sieht sie gerne als gezielten Versuch (von wem eigentlich?) die Vereinigten Staaten zu schwächen. Migranten bezeichnet er als Terroristen, Vergewaltiger, Gesindel, Verbrecher und drohte mit der größten Abschiebungswelle, die die Welt gesehen hat. Dadurch werden vor allem Mexiko und die mittelamerikanischen Länder unter massiven Druck geraten und die Beziehungen belastet. Unter Androhung von Strafzöllen durchgesetzte Zwangsabschiebungen in Rambo-Manier gaben einen Vorgeschmack. Auch unter Biden war die Migrationspolitik restriktiv, aber durch bestimmte Schutzmechanismen – Temporary Protection Status etwa für Kinder oder Menschen aus Kuba, Haiti, Nicaragua und Venezuela – abgemildert. Nun sollen flächendeckende Razzien, auch in Spitälern und Kirchen, sowie Massendeportationen durchgeführt werden. Grenzkontrollen sollen weiter militarisiert und Grenzbefestigungen ausgebaut werden. Die mexikanische Präsidentin Claudia Sheinbaum hat angekündigt, ihre Landsleute schützen zu wollen, etwa durch Rechtsbeistand über die Konsulate. Von den angedrohten Abschiebevorhaben sind potenziell vier Millionen Menschen aus Mexiko betroffen, zwei Millionen aus Mittelamerika, mehr als 800.000 aus Südamerika und 400.000 aus der Karibik. Rhetorischer Theaterdonner und Symbolpolitik also? Jenseits des dafür bewusst in Kauf genommenen menschlichen Leids und persönlicher Katastrophen: Weder für die abschiebenden Behörden noch für die Länder, die sie aufnehmen sollen dürfte das überhaupt auch nur annähernd zu leisten sein. Mehr noch: Nicht nur für Kuba, für eine ganze Reihe krisengeplagter Volkswirtschaften sind Familienüberweisungen der wichtigste oder zumindest ein wichtiger Devisenbringer. In Guatemala, Honduras und El Salvador entsprechen sie jeweils etwa einem Viertel des Bruttoinlandsprodukts. Thema Drogen In der puritanistischen Einwanderergesellschaft waren „Drogen“ stets als besonders gravierendes und meist als von Außen in den „gesunden Gesellschaftskörper“ hereingetragenes Problem wahrgenommen worden. Die USA waren es auch, die mit der Haager Konvention von 1912 das erste internationale Drogenabkommen überhaupt forciert hatten. Seitdem Präsident Richard Nixon den Drogen im Jahr 1972 „den Krieg“ erklärte, war es über Parteigrenzen hinweg ein politisches Tabu soft on drugs zu erscheinen. Während der Präsidentschaft von Ronald Reagan kamen in den 1980er Jahren die südamerikanischen Produzentenländer von Kokain in den Focus, das als Hauptproblem angesehen wurde. Going to the source hieß die Devise. Während innenpolitisch in den letzten Jahren stärker differenziert und mehr Gewicht auf gesundheitspolitische Ansätze gelegt wurde, hat sich bei der Externalisierung der Drogenpolitik wenig geändert. Nur Weltpolizist Uncle Sam verfügt seit 1978 über ein Büro für internationale Drogen- und Gesetzesvollzugsangelegenheiten im Außenministerium, dessen Budget stets erheblich über dem des entsprechenden Pendants bei den Vereinten Nationen (UNDCP) liegt; hinzu kommen einschlägige Budgets, etwa im Pentagon.* Doch der jahrzehntelange, teilweise militarisierte Drogenkrieg ist bei hohen sozialen und ökologischen Kosten gescheitert. Die Produktion von Kokain (Bolivien, Kolumbien, Peru) ist auf Rekordniveau. Begleiterscheinung der militarisierten Drogenbekämpfung waren ausufernde Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Doch heute steht nicht mehr das pflanzenbasierte Kokain im Vordergrund, sondern das synthetisch hergestellte Fentanyl, das aus Mexiko kommt. Seit 2008 sind mehr als eine Million Menschen in den USA an Überdosen des starken Opioids Fentanyl gestorben. Nach Jahren stetigen Anstiegs geht ihre Zahl aktuell zurück. Während Trumps erster Amtszeit hatte sie sich vervierfacht. Die Biden-Administration hatte darauf mit einem Bündel von Maßnahmen der harm reduction (Schadensminderung) reagiert, während die Republikaner traditionell eher auf das Strafgesetzbuch setzen. Trump hat angekündigt, mexikanische Drogenorganisationen als Terrorgruppen einzustufen und bedroht die mexikanische Regierung mit Strafzöllen, um sie „zum Handeln zu zwingen“. In republikanischen Kreisen wurden darüber hinaus Militäreinsätze in Mexiko, einschließlich der US Special Forces angedacht. Die mexikanische Regierung dürfte über diesen Unilateralismus alles andere als begeistert sein, selbst wenn es im Endeffekt nicht so weit kommen sollte. Es drohen Gegenzölle und ein Handelskrieg zu beiderseitigem Nachteil. Gefragt wäre vielmehr Kooperation bei der Stärkung des Justizsystems und bei der Korruptionsbekämpfung. Der Fall Venezuela Hier darf man eine Rückkehr zur Politik der ersten Amtsperiode Trumps erwarten. Am Tag vor der Amtseinführung des selbsterklärten Wahlsiegers Nicolás Maduro benannte Donald Trump in einem Post dessen Gegenspieler Edmundo Gonzáles Urrutia als Präsident und lobte die Unterstützung für ihn durch die venezolanische Community in den USA. Marco Rubio sagte in seiner Anhörung als designierter Außenminister vor dem Kongress, das Land sei von kriminellen Organisationen und Drogenhändlern kontrolliert und kritisierte die Biden-Regierung für die Lockerung von Sanktionen. Trumps designierter Sicherheitsberater Michael Waltz traf Gonzáles Urrutia (noch in seiner Eigenschaft als Kongressabgeordneter für Florida) bei dessen Besuch in Washington. Dieser wirbt mit dem Argument, dass nach einem Systemwechsel Millionen Flüchtlinge freiwillig nach Venezuela zurückkehren würden. Maduro wiederum dürfte an einer Verlängerung der Öl-Lizenzen interessiert sein und könnte im Gegenzug bei publikumswirksamen Abschiebeflügen kooperieren. Venezuela ist der drittgrößte Öllieferant für die USA (2024) und Trump braucht Öl zur Reduzierung der Energiekosten („ drill baby drill“ ). Hier kommt der „Freihändler“ Richard Grenell ins Spiel, der bereits in der Vergangenheit mit Maduro verhandelt hat. Der Fall Kolumbien Kolumbien ist traditionell der wichtigste Verbündete der USA in der Region, die wichtigste Auffang- und Durchgangsstation für Migranten aus Venezuela und priorisiert den Handel mit den USA vor dem mit China – auch unter der Linksregierung von Präsident Gustavo Petro. Die USA haben dort im Rahmen des Drogenkriegs sieben Militärbasen. Zwar ist seit dem Friedensabkommen mit den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia ( FARC) von 2016 die Gewalt im Land deutlich reduziert. Wichtig wäre heute Unterstützung beim Ausbau rechtsstaatlicher Präsenz in den von den FARC verlassenen Gebieten und die Bekämpfung der Konfliktursachen. Doch weiterhin bekämpfen sich die noch aktive Guerilla ELN ( Ejército de la Liberación Nacional ), FARC-Dissidenten (zuletzt in der Region Catatumbo, wo es um Transitrouten für Kokain geht), rechtsextreme Paramilitärs untereinander – und mit dem Militär. Alle zusammen werden sie GAI ( Grupos Armados Ilegales ) genannt und diese Gruppen kontrollieren einen Großteil der Kokainproduktion, die in Hochproduktivitätszonen vor allem im Süden Kolumbiens konzentriert ist und auf historischem Rekordniveau liegt. Hier bieten sich Kooperationsmöglichkeiten. Größer scheint jedoch die Gefahr, dass die Trump-Regierung auf die alten martialischen Strategien setzt und es darüber zu Auffassungsunterschieden mit der Regierung von Gustavo Petro kommt, die man bereits mit der Erpressung von Zwangsabschiebungen brüskiert hat. Schließlich hatte man bis vor zehn Jahren unter US-Regie in großem Stil Kokafelder mit Pflanzengift aus der Luft besprüht. Der Fall Zentralamerika Zentralamerika ist neben Mexiko die wichtigste Heimat von Migranten, die in die USA kommen. Die betroffenen Länder dürften mit der angedrohten Abschiebungspraxis unter erheblichen Druck geraten. Hierzu hat man in Washington noch keinerlei spezifische Maßnahmen definiert, doch dürfte eine Abkehr von der langfristig angelegten, proaktiven Politik der Ursachenbekämpfung erfolgen, für die Vizepräsidentin Kamala Harris zuständig war. Gewalt ist die wichtigste Fluchtursache dort. Durch Massenabschiebungen dürften Gewalt und Chaos zunehmen. So werden keine Probleme gelöst, sondern neue geschaffen. Politisch könnte Präsidentin Xiomara Castro in Honduras wegen ihrer Beziehungen zu Venezuela, Kuba, Nicaragua und China unter Druck geraten. Das Trump-Lager hatte ferner enge Beziehungen zu Leuten unterhalten, die in Guatemala wegen Korruption sanktioniert wurden. Sie könnten Frühlingsluft wittern. Der Fall Kuba Unter dem Druck des nunmehrigen Außenministers Marco Rubio hatte Trump in seiner ersten Amtszeit die Tauwetter-Politik unter Präsident Obama aufgehoben, neue Sanktionen verhängt, gemeinsame Arbeitsgruppen – etwa zu Migration, Menschenrechten und Umwelt – aufgelöst und Kuba wieder auf die Liste der Staaten gesetzt, die Terror unterstützen. Einige dieser Maßnahmen wurden von der Biden-Regierung aufgehoben. Die Streichung Kubas von der „Terrorliste“ erfolgte erst nach der Freilassung von 553 Inhaftierten kurz vor Ende seiner Amtszeit und wurde nun von Trump umgehend wieder rückgängig gemacht. Mit dem Exilkubaner Marco Rubio und anderen Hardlinern in Schlüsselpositionen dürfte sich die sowieso schon sehr begrenzte Entspannung der Beziehungen erledigen. Möglicherweise liegt in der Migration ein Anknüpfungspunkt für politischen Pragmatismus, die mit der Zuspitzung der Wirtschaftskrise auf der Insel seit 2022 auf Rekordhöhe liegt. Thema WHO Die Weltgesundheitsorganisation WHO mit Sitz in Genf bedauert in einem Statement den Austritt der USA. Mit 8.000 Beschäftigten ist sie die größte UNO-Unterorganisation. Sie wurde am 7. April 1948 zu dem Zweck gegründet, sich für „bestmögliche Gesundheit für alle“ einzusetzen. Zu ihren Erfolgen gehört der Kampf gegen Infektionskrankheiten wie Polio und Pocken. Für viele Länder, gerade im globalen Süden, sind ihre Frühwarnungen, Koordination und Notfallfonds im Ernstfall lebenswichtig. Mit 18 Prozent sind die USA der größte Beitragszahler zum WHO-Budget. Der Austritt muss gegenüber dem UNO-Generalsekretär Guterres noch schriftlich erklärt werden, dann dauert es ein Jahr bis er wirksam wird. Thema Klima Die Klimakrise führt immer schneller zu immer mehr Katastrophen. Das zeigen zuletzt auch die verheerenden Brände in Kalifornien, für die Trump nur mangelhaften Katastrophenschutz verantwortlich macht. Allein im bolivianischen Amazonien sind im letzten Jahr 10 Millionen Hektar – eine Fläche größer als Österreich – abgebrannt (2023 waren es „nur“ 6,3 Millionen Hektar), während das Land nun, zur Regenzeit, unter Überschwemmungen leidet. Für Donald Trump ist die Klimakrise aber eine „Erfindung“ und er hat folgerichtig den Austritt aus dem Pariser Klimaschutzabkommen angekündigt, das mit seinem ohnehin inzwischen außer Reichweite geratendem 1,5 Prozent-Ziel am 12. Dezember 2015 beschlossen wurde. Ganz im Sinne der kurz vorher beschlossenen Agenda 2030, den Nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen. Eine weitere Abkehr vom Multilateralismus. Was sonst? Außenminister Marco Rubio hat alle Hilfsprogramme eingefroren. Es wird geprüft, ob sie in Trumps Konzept passen. Einschlägige Kooperationsprogramme zum Minderheitenschutz, Gender, Anti-Rassismus stehen ebenso zur Disposition wie die Unterstützung der in dieser Richtung aktiven NGOs. So erwartet etwa das WOLA die Rückkehr zur sogenannten Mexiko-City-Politik, die US-Hilfen an Organisationen untersagt, die Abtreibung befürworten, um nur ein Beispiel zu nennen. Der US-kolumbianische Anti-Rassismus-Aktionsplan könnten dem zum Opfer fallen. Für die nächsten zwei Jahre wird Trump eine republikanische Kongressmehrheit zur Durchsetzung seiner Politik hinter sich haben. Lateinamerika muss steifen Nordwind im Sinne der Unterstützung autoritärer Strömungen, Menschenrechtsprobleme sowie wirtschaftliche und geostrategische Herausforderungen befürchten. Geopolitik des Zugangs Nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine ist die Geopolitik zurück auf der Agenda. Dabei hat Trump – neben den Drohungen an China – zuletzt Kopfschütteln ausgelöst, indem er ankündigte, Kanada als 51. Bundesstaat integrieren und Grönland kaufen sowie den Panama-Kanal notfalls militärisch besetzen zu wollen: „Make America Great Again“. Der in den USA geborene und emeritierte Politologe der Uni Wien, Mitchell Ash, unterscheidet im Trump-Team Erzkonservative, Milliardäre und Verrückte – und vielfach wurden die geopolitischen Begehrlichkeiten als verrückt abgetan. Ganz so einfach ist es nicht. Trump liebt es Drohkulissen und Druck aufzubauen. Ein weiteres Abschmelzen der Arktis würde neue Routen für die Schifffahrt eröffnen und den Seeweg von Westeuropa nach Asien um zwei Wochen verkürzen. Kontrollieren lassen sie sich von Grönland aus, das zum EU-Mitglied und NATO-Partner Dänemark gehört. Das Trump’sche Getöse mag in einem ersten Schritt Abspaltungstendenzen beflügeln. Über den Panama-Kanal laufen 5 Prozent des Welthandels. Besonders wichtig ist er für die Verbindung der US-Westküste nach Asien. Die USA sind auch stärkster Nutzer mit 40 Prozent der transportierten Container, vor China (21) und Japan mit 14 Prozent. Überhaupt ist der Kanal als solcher ein Produkt des US-Imperialismus. Nach einer militärischen Intervention wurde Panama im Jahr 1903 von Kolumbien abgespalten und noch im gleichen Jahr wurde der Vertrag zum Bau des Kanals unterzeichnet, der dann 1914 fertig gestellt wurde. Panama war mit der Howards Air Force Base bis 1999 das Hauptquartier des für Südamerika zuständigen Southern Command der US-Streitkräfte. Im gleichen Jahr wurde der Kanal aufgrund der Carter-Torrijos-Verträge von 1977 an Panama übergeben. Heute werden an beiden Enden des Kanals die Häfen von einer Tochter der CK Hutchinson Holding mit Sitz in Hong Kong bewirtschaftet, was nicht nur Trump beunruhigen dürfte, zumal es im vergangenen Jahr 2024 wegen Wassermangel zu ernsten Behinderungen und Gerangel um die Passagen kam. Gleichzeitig wurde durch den Beschuss der Huthi-Rebellen auch der Verkehr durch den Suez Kanal behindert. Damit nicht genug wurde im November 2024 durch die peruanische Präsidentin Dina Boluarte, deren linker Vorgänger im Dezember 2022 durch einen kalten Putsch ins Gefängnis befördert worden war, der Hafen Chancay bei Lima eröffnet. Die Eröffnung erfolgte im Beisein des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping. Die staatliche chinesische Schifffahrtsgesellschaft COSCO hatte 3,4 Milliarden USD investiert. Der Sonderbeauftragte Claver-Carone trat mit dem Vorschlag hervor, Waren, die den Hafen von Chancay durchlaufen, mit 60 Prozent Zoll zu belegen. Zusammen mit Argentinien bauen die USA ihrerseits in aller Stille an einer gemeinsamen Marinebasis in Ushuaia, dem Tor zur Antarktis, wie bei einem gemeinsamen Besuch der Southcom Chefin Generalin Laura Richardson, dem US Botschafter und Präsident Javier Milei im April 2024 deutlich wurde. Nach Verlegung des Southcom aus Panama war die Basis auf dem ecuadorianischen Flughafen Manta (1999-2009) das Zentrum der militärischen US-Aktivitäten in Südamerika. Die Verträge wurden jedoch vom damaligen Präsidenten Rafael Correa nicht verlängert. Der aktuelle ecuadorianische Präsident Daniel Noboa würde sie gerne erneuern, was inzwischen aber gegen die Verfassung verstieße. Ferner braucht er die Unterstützung Washingtons bei seiner Politik der harten Hand im Kampf gegen den Drogenhandel, womit er im Weißen Haus offene Türen einrennen dürfte. Generalin Laura Richardson war es auch, die sich in der Vergangenheit mehrfach öffentlich um den Verlust der Kontrolle in Sachen Rohstoffe zu Gunsten Chinas sorgte. Hier geht es insbesondere um Kupfer und Lithium. Beides braucht man für Elektroautos und Tesla-Chef Musk dürfte ein massives Interesse am Lithium-Dreieck Argentinien, Bolivien, Chile haben. Chile ist vor Peru auch der weltgrößte Kupferproduzent. Die weltweit größten Lithium-Reserven liegen in Bolivien. Am 12. Dezember 2018 war in Berlin im Beisein des bolivianischen Außenministers und des deutschen Wirtschaftsministers Peter Altmaier ein Joint Venture zur Lithiumgewinnung gegründet worden. Bis zum November 2019 saß der beteiligte baden-württembergische Mittelständler auf unterschriftsreifen Verträgen, die dann auf Eis gelegt wurden, was zu Spekulationen über eine Beteiligung von Mitkonkurrenten am seinerzeitigen Sturz der Regierung Morales Anlass gab, zumal Elon Musk, darauf angesprochen, in seiner bekannt flapsigen Art später sagte: „Wir stürzen wen wir wollen.“ Zweifellos hätte er die finanziellen Mittel dazu. Sicher ist, dass es auch innerhalb Boliviens Widerstände gegen die Verträge gab. Nachdem eine demokratisch gewählte Regierung Ende 2020 die Regierungsgeschäfte in La Paz übernahm wurden auch Verhandlungen wiederaufgenommen, an denen aber kein europäisches Land mehr beteiligt war, was möglicherweise der zweifelhaften Rolle des damaligen EU-Botschafters León de la Torre bei der Machtergreifung der politischen Rechten geschuldet ist. Investiert haben inzwischen chinesische und ein russisches Unternehmen im bolivianischen Salar de Uyuni. Nicht nur im Lithium-Dreieck hat China die USA überholt. Chinas Handelsvolumen mit Lateinamerika ist zwischen 2000 und 2022 von 12 auf 485 Milliarden USD gestiegen. Stark gewachsen ist auch die Bedeutung chinesischer Kredite. Für Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Paraguay, Peru, Uruguay und Venezuela ist China der wichtigste Handelspartner. Drängen die USA unter Trump nun in ihren alten Hinterhof – gemäß der Monroe-Doktrin von 1823 – zurück? Diese war mit ihrem „hands off Latin America“ gegen den europäischen Imperialismus gerichtet. Heute könnte es darum gehen, Terrain zurück zu gewinnen. Allzu großes Gepolter dürfte dabei nicht hilfreich sein, zumal die progressiven Länder heute besser untereinander vernetzt sind und mit China eine mächtige Alternative haben. So erfolgten beispielsweise auf die aktuellen Drohungen gegen Mexiko und Panama umgehend Solidaritätsbekundungen aus dem Süden. Während die Lateinamerikaner auf Diversifizierung ihrer Beziehungen setzen, hat Europa ihre Avancen stets eher verpuffen lassen und ist im außenpolitischen „Beiwagerl“ Washingtons sitzen geblieben, wo Präsident Trump nun wieder mit der Abkoppelung droht. Wie auch immer: Vieles von dem, was Trump mit Pauken und Trompeten ankündigt, wird sich so gar nicht umsetzen lassen und könnte letztlich auch für die Vereinigten Staaten und seine Oligarchen selbst kontraproduktiv sein. Ungeachtet dessen dürften damit große Probleme für Lateinamerika verbunden sein. Wie ein Blick auf Lateinamerika zeigt: Das Liebäugeln mit dessen Politikstil sowie unilaterale und autoritäre Ansätze führen in die Sackgasse und schaffen mehr Probleme als sie lösen. In einer Zeit multipler und sich verschärfender Krisen ist damit zusätzlich die Gefahr zunehmender Konflikte und eines Abgleitens in den Faschismus verbunden. * Näheres siehe Lessmann, Der Drogenkrieg in den Anden, Wiesbaden, 2016; Bureau for International Narcotics Matters and Law Enforcement Affairs ; UNODC United Nations Office on Drugs and Crime.
Show More