Bolivien: Totalschaden für die Linke

© Dr. Robert Lessmann • 19. August 2025

Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom 17. August brachten erwartungsgemäß einen Rechtsruck. Für die zersplitterte und zerstrittene Linke fällt das selbstverschuldete Fiasko noch größer aus als erwartet. Wir analysierten die Gründe für das Zerwürfnis an dieser Stelle bereits mehrfach. Nach dem vorläufigen Sieg eines vermeintlichen Newcomers bleiben – auch unabhängig vom Ausgang der Stichwahl – eine Reihe von Fragezeichen. Wie kann es weiter gehen?

Noch vor der Bekanntgabe des amtlichen Endergebnisses ist die Lage klar: In die Stichwahl am 19. Oktober kommen Rodrigo Paz Pereira von den Christdemokraten (PDC mit vorläufig 32,09 Prozent der Stimmen) und der Rechtskonservative Jorge „Tuto“ Quiroga (Libre mit 26,93). Dahinter liegt auf Platz 3 der liberale Unternehmer Samuel Doria Medina (Unidad Nacional mit 19, 92). Es folgten der vormalige MAS-Senatspräsident Andrónico Rodríguez (Alianza Popular 8,11), der Bürgermeister von Cochabamba Manfred Reyes Villa (Sumate 6.63) und der vormalige Innenminister Eduardo del Castillo (MAS, im Bild), der mit 3,14 Prozent gerade noch die Dreiprozenthürde nehmen konnte.


Bei der Stichwahl zwischen Paz und Quiroga geht es im präsidentialistischen Bolivien um das besonders wichtige Präsidentenamt. Sieht man sich die voraussichtliche Sitzverteilung im Zweikammernparlament an, fällt der Abgesang der Linken noch krasser aus: Hatte die MAS dort zuletzt nach den Wahlen von 2020 noch knapp eine Zweidrittelmehrheit verfehlt, bleiben nach heutigem Stand der Dinge noch fünf Sitze für die Alianza Popular und einer für die MAS. Doch auch für die Wahlsieger könnte es fraglich werden, ob sich eine Mehrheit ausgeht. Eine Rechtsallianz war vor den Wahlen gescheitert. Quiroga scherte aus, weil der in Umfragen besser platzierte Doria Medina Spitzenkandidat werden sollte. Letzterer hat bereits angekündigt, in der Stichwahl Paz zu unterstützen. Doch ob eine Allianz von Christdemokraten und Unidad hält und sichere Mehrheiten bringt? Solche wird man sich suchen müssen. Ob Stabilität das bisherige Chaos ablöst ist fraglich.


Banzerismo durch die Hintertür?

Alle drei stehen freilich für eine Rückkehr zum Neoliberalismus. Beziehungen zu Washington dürften schnell wieder angeknüpft werden. Dass es zu Umkehrungen des Prozesses des Wandels ( proceso de cambio ) kommt ist wahrscheinlich. Schon ist von Freilassung der „politischen Gefangenen“ die Rede. Der Zementunternehmer Samuel Doria Medina war bereits zu Beginn der 1990er Jahre Minister im Kabinett des Präsidenten Jaime Paz Zamora, dessen ursprünglich sozialdemokratisches Movimiento de la Izquierda Revolucionaria (MIR) einen hohen Preis im Kampf gegen die Militärdiktaturen gezahlt hatte, dann aber doch mit dem Exdiktator Hugo Banzer koalierte und letztlich in Korruptionsskandalen versank. Er gilt als gemäßigt liberal. „Tuto“ Quiroga war ein knappes Jahrzehnt später nach Banzers Krebstod ein Jahr lang zum Präsident aufgerückt. Teil der damaligen Megakoalition waren auch die Christdemokraten. Hugo Banzer, Absolvent der US Army School of the Americas, hatte sich im August 1971 an die Macht geputscht und war bis Juli 1978 einer der blutigsten Militärdiktatoren. Im Juli 1997 wurde er demokratisch zum Präsidenten gewählt.


Überraschungswahlsieger Rodrigo Paz Pereira wird als Newcomer gesehen. Seine Wahl ist Ausdruck des Überdrusses mit den politischen Dinosauriern sowie Misswirtschaft und Korruption, für die man die MAS verantwortlich macht. Die Umfragen vor den Wahlen hatten ihn gar nicht auf dem Radar. Zu Fernsehdebatten war er nicht eingeladen. Ohne nennenswerte Parteiinfrastruktur war er vielmehr persönlich durch das Land getourt. „Wir sind die Stimme derer, die bisher keine Stimme hatten“, sagte er bei einer spontanen Siegesfeier mit einer Handvoll seiner Anhänger auf der Hahnentreppe (grados del gallo), die in La Paz den Prado mit der Calle Mexico verbindet. Wie sein Vater Jaime Paz Zamora (Präsident von 1989 bis 1993), dessen Spitzname „ el gallo “ war, hat er einen Hahn als Symbol. Seine eigene Karriere hat er im Jahr 2002 als Abgeordneter in dessen MIR begonnen. Später war er Bürgermeister der Stadt Tarija (2015-2020) und zuletzt ab 2020 Senator für Carlos D. Mesas Comunidad Ciudadano (CC). Wie gesagt: Seine Christdemokarten waren seinerzeit auch Teil von Hugo Banzers Megakoalition.


Paz Pereira, der im September 58 Jahre alt wird, ist also durchaus kein unbeschriebenes Blatt. Als Zugpferd und Sympathieträger gilt sein Vizepräsidentschaftskandidat Edman Lara, der sich bei der Polizei von Cochabamba als mutiger Korruptionsbekämpfer einen Namen gemacht hat und dort auch eine Degradierung dafür in Kauf nahm. Inwieweit Paz für einen Neuanfang stehen kann, bleibt abzuwarten. Doria Medina hat ihm bereits Unterstützung bei der Stichwahl zugesagt, und auch für Linke dürfte er eher wählbar sein als der Rechtsaußen Quiroga.


Nullsummenspieler

Sofern diese nicht auf den Altpräsidenten Evo Morales setzen, der nicht mehr kandidieren durfte und sich in seiner Bastion, dem Kokaanbaugebiet Chapare , von Anhängern protegiert verschanzt hat, weil gegen ihn ein Haftbefehl vorliegt. (Wir berichteten.) In Bolivien herrscht Wahlpflicht. Morales hatte dazu aufgerufen, aus Protest ungültig zu wählen (voto nulo) und in der Tat liegen die ungültigen Stimmen mit 19,1 Prozent auf Platz 4. Er verfügt also durchaus noch über eine Anhängerschaft und ist täglich in den Medien präsent. Allerdings: Seine Aufrufe zu Märschen und Blockaden hatten zuletzt immer mehr an Zugkraft und Gefolgschaft verloren. Von den genannten 19,1 Prozent der Stimmen darf man getrost mindestens 5 Prozent üblicher Nullvoten abziehen; bei den äußerst politisierten Wahlen von 2020, die die MAS bei einer Rekordwahlbeteiligung von 88 Prozent mit 55,1 Prozent der Stimmen zur Abwahl der de facto-Regierung gewonnen hatte, waren es immerhin auch 3,5 Prozent Nullvoten. Bei einer Wahlbeteiligung von diesmal eher nur 77 Prozent und einer außergewöhnlich großen Unübersichtlichkeit angesichts eines beinahe unmerklichen Wahlkampfs sowie von last minute–Allianzen dürften es deutlich mehr sein, die damit nicht Morales’ Protestaufruf gefolgt sind. Bei Vorwahlumfragen waren die Unentschlossenen die größte Gruppe.


Rechnet man die Stimmen der MAS mit jenen von Andrónico Rodríguez zusammen und schlägt hypothetische Morales - Proteststimmen von 10 Prozent dazu, so hätte eine MAS – Krise und Querelen hin oder her – durchaus noch eine Rolle spielen können. Doch der Morales-Schüler Andrónico Rodríguez wollte durchaus nicht mit den Anhängern des glücklosen Präsidenten Luis Arce (MAS) paktieren, der ihm sogar den Spitzenplatz freigeräumt hatte.


Bis zur Stunde habe man das Wahlziel erreicht, die MAS-IPSP ( Movimiento al Socialismo – Instrumento Político para la Soberanía de los Pueblos ) vor der Auslöschung zu retten, erklärte der Spitzenkandidat Eduardo del Castillo. Mit nur 3,14 Prozent der Stimmen und nur einem Sitz in der Abgeordnetenkammer ein wahrlich bescheidener „Erfolg“ angesichts der Ergebnisse der letzten mehr als 20 Jahre. Selbst als die MAS im Jahr 2002 zum ersten Mal antrat wurde sie auf Anhieb zweitstärkste Kraft und gewann 8 von seinerzeit 27 Senatoren und 27 von 130 Abgeordneten. Del Castillo selbst wertet es als Resultat rücksichtsloser Egoismen ­– man könnte es auch einen kompletten Mangel an politischer Weitsicht und Verantwortungsgefühl bezeichnen. Immerhin schaut del Castillo nach vorne und lädt „desorientierte“ Abweichler dazu ein, in die Reihen der MAS zurückzukehren. Paz und Quiroga würden eine neoliberale Schocktherapie anwenden und die Krise für die einfachen Leute noch verschlimmern. Nach 20 Jahren habe die MAS sich verjüngt und die Kader mit Blick auf die nächsten 30 Jahre ausgetauscht. Im Unterschied zu den anderen Parteien, die seit 25 Jahren auf die gleichen Personen setzen. Zumindest Letzteres stimmt weithin. Hoffnungen auf einen Neuanfang im Jahr 201 nach der Unabhängigkeit von der Spanischen Krone bleiben bescheiden.


Nachtrag 24.8. Amtliches Endresultat

Stimmen PDC 32,06 Libre 26,70 Unidad 19,69    AP 8,51 MAS 3,17    Nulo 19,7



Sitze

Diputados PDC 56         Libre 43         Unidad 22        AP 6         MAS 1         insg. 130

Senado        PDC 16         Libre 12         Unidad 7                                                   insg. 36

Auflistung unvollständig; eine Allianz zwischen PDC und Unidad hätte demnach in beiden Kammern eine Mehrheit.