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Peru/ Bolivien: Präsidentinnen auf dem Pulverfass

  • von © Robert Lessmann Dr
  • 08 Jan., 2023

Dina Boluarte und Jeanine Añez haben Vieles gemeinsam. Auch wenn die eine den Jahreswechsel auf dem Präsidentensessel des Palacio de Gobiero in Lima verbrachte und die andere hinter Gittern in La Paz.

Hier wie dort verlief der Jahreswechsel turbulent. Am Mittwoch, den 28. Dezember wurde der starke Mann der bolivianischen Opposition, Luis Fernando Camacho, in seinem Haus in Santa Cruz festgenommen. Der Gobernador (Landeshauptmann/ Ministerpräsident) des gleichnamigen Departements steht im Verdacht, der Haupträdelsführer in der Krise vom November 2019 gewesen zu sein, die nach Vorwürfen des Wahlbetrugs zum Sturz von Präsident Evo Morales führte. Vor allem aber hatte er sich aktuell mehrfach geweigert, Gerichtsvorladungen zur Aussage in dieser Sache nachzukommen, weshalb seit Ende Oktober 2022 ein Haftbefehl gegen ihn vorlag. Kurze Zeit später begann ein paro cívico gegen eine von der Zentralregierung angesetzte Volkszählung – genauer gesagt gegen eine Terminverschiebung. Er wurde letztlich allerdings nur in Santa Cruz befolgt, wo es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Protagonisten des paro und wirtschaftlichen Einbußen von mehr als einer Milliarde US-Dollar (USD) kam. Er dauerte dort mehr als vier Wochen.


Am 7. Dezember endete in Peru nach nur 16 Monaten die Präsidentschaft von Pedro Castillo, die von Anfang an von Skandalen und politischer Instabilität geprägt war. Der linksgerichtete Präsident vom Lande hatte keine Mehrheit im Kongress und die städtischen Eliten standen ihm misstrauisch bis feindselig gegenüber. Um dem dritten Amtsenthebungsverfahren zuvorzukommen, kündigte er die Auflösung des Parlaments an, wurde aber stattdessen selbst unter dem Vorwurf eines versuchten Staatsstreichs und „moralischer Unfähigkeit“ verhaftet und entlassen. Nachfolgerin wurde Vizepräsidentin Dina Boluarte. Proteste gegen diese Vorgänge in Peru dauern insbesondere im Süden des Landes an und sollen mittlerweile 28 Todesopfer und über 600 Verletzte gefordert haben. Die Forderungen sind uneinheitlich, hauptsächlich geht es um vorgezogene Neuwahlen. In Bolivien haben die Anhänger Camachos in Santa Cruz neue Blockaden eingeleitet und Regierungsgebäude sowie unter anderem das Haus eines Ministers bei Protesten geplündert und angezündet.


Im Vorfeld seiner Aussagen zirkulieren Berichte über Zahlungen Camachos an Militärs während der Novemberereignisse von 2019. Sein Vater hatte sich zudem öffentlich damit gebrüstet, hohe Polizeioffiziere geschmiert und zur Meuterei angestiftet zu haben. Während man also in Bolivien gespannt darauf wartet, was das Verfahren tatsächlich ans Licht bringt – vor allem: woher das Geld eigentlich kam, das an die Militärs und die Polizei geflossen sein soll, wurde in Florida ein anderes Verfahren mit einem Schuldspruch abgeschlossen. Arturo Murillo, Innenminister und eigentlich starker Mann der „Interimsregierung“ Añez hatte sich nach dem Wahlsieg der MAS im November 2020 dorthin abgesetzt, wo er nun wegen Korruption und Geldwäsche zu 70 Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Während seiner Amtszeit hatte er bei einem US-Unternehmen Tränengas im Wert von 2,3 Millionen USD eingekauft, dafür aber 5,6 Mio. bezahlt; die Differenz wurde unter den Beteiligten aufgeteilt.


Notorische Instabilität

In beiden Fällen ist die politische Instabilität hervorzuheben. Darüber hinaus gibt es viele Parallelen zwischen der ersten Präsidentin Perus und der zweiten Boliviens, deren Vorgängerin, Lidia Gueiler (November 1979 – Juli 1980) zwischen den Obristen verschiedener Militärdiktaturen seinerzeit auch keine lange Amtszeit beschieden war. Dina Boluarte (1962, Apurímac) und Jeanine Añez (1967, Beni) sind beide in den 1960er Jahren in der Provinz geboren und aufgewachsen. Beide stammen aus Familien der Mittelschicht, beide haben Jura studiert und bezeichnen sich als Anwältinnen, obwohl sie diesen Beruf als solchen nie wirklich ausgeübt haben. Die eine arbeitete am Einwohnermeldeamt, die andere als Fernsehmoderatorin. Beide waren mit jeweils wandelbarer politischer Ausrichtung auf dem politischen Parkett um Posten bemüht. Die Peruanerin scheiterte zweimal als Kandidatin für das Bürgermeisteramt beziehungsweise zur Abgeordneten. Die Bolivianerin war erfolgreicher und wurde zweimal in den Senat gewählt, wo sie zuletzt stellvertretende Vizepräsidentin war. Boluarte wurde ohne wirkliche politische Erfahrung von Pedro Castillo kurzfristig zur Kandidatin für das Vizepräsidentenamt erkoren, weil sein Wunschkandidat, Vladimir Cerrón Rojas, an rechtlichen Hürden scheiterte.


Beide bestreiten vehement, durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen zu sein. Frau Añez wurde in der Novemberkrise von einer illustren Runde aus ehemaligen Politikern (mehrheitlich aus dem Umfeld des verstorbenen früheren Präsidenten und Exdiktators Hugo Banzer und alle ohne irgendein Mandat), Kirchenvertretern und mit dubioser Mitwirkung des damaligen EU-Botschafters León de la Torre zur Kandidatin erkoren. Man tagte in den Räumen der Universidad la Católica in La Paz. Nachdem Präsident und Vizepräsident außer Landes geflohen waren, aber ohne dass sie ihren Rücktritt formal erklärt hätten und dieser vom Parlament angenommen worden wäre (wie es die Verfassung vorsieht), hatte sie sich dann ohne ordentlich einberufene Sitzung, unter Ausschluss der Abgeordneten der Mehrheitsfraktion (MAS), ohne Quorum und unter Missachtung der von der Verfassung vorgegebenen Reihung für eine Vertretung oder Nachfolge von einer Handvoll Abgeordneter zunächst zur Senatspräsidentin wählen lassen und sich anschließend praktisch selbst zur Präsidentin ernannt.


Dina Boluarte ist als Vizepräsidentin verfassungsgemäße Nachfolgerin von Pedro Castillo. Soziale Medien berichten von einer Zusammenkunft des damaligen peruanischen Verteidigungsministers Emilio Gustavo Bobbio Rojas mit der US-Botschafterin in Lima, Lisa D. Kenna, wenige Stunden vor der Verhaftung Pedro Castillos. Dina Boluarte schwor ihren Amtseid auf „Gott, das Vaterland und die Peruaner“. Añez präsentierte sich als neue Präsidentin mit der Bibel in der Hand. Sie galt MAS–Anhängern als fotogene „Barbie“ der Regierung, während Innenminister Arturo Murillo und Verteidungsminister Luis Fernando López die eigentlich starken Männer waren.


In Peru scheinen Verteidigungsminister Luis Alberto Otárola und Innenminister César Augusto Cervantes das Zepter in der Hand zu halten – zumal bei der Niederschlagung der teilweise auch gewalttätigen Proteste; die Rede ist bisher von 28 toten Zivilisten und mehr als 600 Verletzten. Wie in Bolivien 2019/20 spricht die Regierung Boluarte von Akten des Vandalismus und der Gewalt, die von Extremisten und den Terroristen des Sendero Luminoso (der seit drei Jahrzehnten als zerschlagen gilt; regionale Überbleibsel widmen sich dem Drogengeschäft) organisiert seien. In Bolivien hieß das seinerzeit „die gewalttätigen Horden der MAS“. Dagegen helfe nur die harte Hand der Staatsmacht. Kein Gedanke soll aufkommen, dass Proteste in irgendeiner Weise legitim sein könnten. Und so wurde, wie in Bolivien auch, keinen Augenblick gezögert, das Militär gegen sie einzusetzen. Wie Añez, so wurde auch die Regierung Boluarte umgehend von Washington und den Regierungen der EU anerkannt. Übergangspräsidentin Boluarte möchte erst im April 2024 vorgezogene Neuwahlen durchführen. „Interimspräsidentin“ Añez hatte angekündigte Neuwahlen immer wieder verschoben, bis sie von den starken sozialen Bewegungen schließlich erzwungen wurden. Luis Arce, der Kandidat der alten Regierungspartei MAS, gewann sie im Oktober 2020 mit 55 Prozent der Stimmen. In den langen Jahren des schmutzigen Krieges zwischen der Guerilla Sendero Luminoso und der Armee wurden die Organisationen der Zivilgesellschaft in Peru weitgehend zerrieben und stehen heute viel schwächer da als im Nachbarland Bolivien. Dass es sich bei den Demonstranten um fremdgesteuerte Marionetten handeln würde, ist freilich absurd. Neuerdings wird sogar der bolivianische Expräsident Evo Morales als Drahtzieher beschuldigt. Er hat Einreiseverbot. Wie nervös die Regierung in Lima ist zeigt der Umstand, dass sie ihre Botschafterin bis auf Weiteres aus La Paz abgezogen hat.


  1. PS am 13.1.23: Luis Alberto Otárola ist inzwischen zum Premierminister aufgestiegen. Die Zahl der Todesopfer ist auf 45 gestiegen. Die meisten durch Schussverletzungen und in Juliaca im Department Puno. Dort wurde eine Ausgangssperre verhängt. 
  2. PPS am 15.1.23 Inzwischen sind drei Minister der Regierung Boluarte zurückgetreten, darunter auch Innenminister Cervantes. Er wurde durch einen pensionierten Polizeigeneral ersetzt.
  3. PPSP am 27.1.23 Unterdessen spitzt sich die Schuldzuweisung an Bolivien für die Proteste zu. Expräsident Morales wurde vom Parlament zur Persona non grata erklärt. Man spricht von Waffenlieferungen, was der bolivianische Innenminister heftig dementierte. Der fujimoristische Abgeordnete Eduardo Bustamente forderte gar die Militarisierung der Grenze und drohte mit dem Einmarsch des Militärs, sollte Bolivien nicht aufhören, die Proteste zu finanzieren. Real entstehen der bolivianischen Wirtschaft Millionenverluste, weil die Transitwege in Peru blockiert sind. Bis zu 800 LKW hängen am Grenzübergang in Desaguadero fest.

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