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Bolivien: Zurück zur Politiquería

  • von © Robert Lessmann
  • 22 Nov., 2022

Politiquería, so bezeichnete man in den 1990er Jahren in Bolivien die politische Kaste, der es nur um Posten und Pfründe gehe. Dann kam 2005 der Erdrutschsieg von Evo Morales und seinem MAS (Movimiento al Socialismo). Mit ihrem proceso de cambio – dem Prozess des Wandels – sollte Bolivien neu gegründet werden. Evos Sturz Ende 2019 brachte die Machtergreifung der politischen Rechten und chaotische Verhältnisse. Im Oktober 2020 gewann Luis Arce (MAS) von den sozialen Bewegungen erzwungene Neuwahlen mit absoluter Mehrheit und leitete einen erfolgreichen Prozess der Krisenbewältigung, die Rückkehr zu Wirtschaftswachstum und Politiken der Umverteilung ein. Doch politisch bleibt die Lage konfliktiv.

Samstag, 12.11. Kurz nach Mitternacht legte Präsident Luis Arce in einer Fernsehansprache den Termin für einen umstrittenen nationalen Zensus (Volkszählung) auf den 23. März 2024. Er kam damit Protesten ein Stück weit entgegen, die einen früheren Termin verlangt hatten, und kündigte insbesondere eine Ausbezahlung der daran geknüpften Ressourcen bereits für den September 2024 an. Hintergrund der Kontroverse ist ja eine Neuverteilung von Haushaltsmitteln, aber auch der Parlamentssitze bei den Wahlen 2025.



Destabilisierungsbemühungen

Wie eine Reihe anderer lateinamerikanischer Länder auch, hatte die bolivianische Regierung einen geplanten Zensus aus technischen Gründen (Corona u.a.) verschoben und damit Widerstand ausgelöst. Ein landesweiter paro cívico (Generalstreik mit Blockaden) fand jedoch eigentlich nur im reichsten und von der Opposition dominierten Departement Santa Cruz ein nachhaltiges Echo und Unterstützung, die auch dort bröckelte, je länger der paro andauerte und je isolierter seine Initiatoren wurden. So war es der Regierung gelungen, durch eine Reihe von Konsultationen und „technischen runden Tischen“ die Bedenken der anderen acht Departemente und der allermeisten Bürgermeister auszuräumen. Auch der Bürgermeister von Santa Cruz zeigte sich zuletzt kompromissbereit und wurde von den Hardlinern um gobernador (Landeshauptmann/Ministerpräsident) Luis Fernando Camacho und dem Chef des comité cívico, Rómulo Calvo, umgehend als Verräter geschmäht.

Schließlich eskalierte die Lage, als am 11.11. Mitglieder der den beiden Hardlinern nahestehenden UJC (Unión Juvenil Cruceñista, eine Art paramilitärischer Motorradgang) einen Demonstrationszug angriffen, dessen Teilnehmer nach mittlerweile drei Wochen paro mit mehreren Konfrontationen und Todesopfern ihr Recht auf Arbeit einforderten. Anschließend setzten die UJC-Mitglieder die Büros der Landarbeitergewerkschaft sowie der MAS-nahen Frauenorganisation „Bartolina Sisa“ in Brand und verwüsteten das Regionalbüro des Gewerkschaftsbundes. Die Gewaltorgie veranlasste Präsident Arce schließlich zum Handeln und dürfte das Oppositionslager weiter isolieren. Schon wurde auch das Haus von Rómulo Calvo von paro-Unterstützern attackiert.



Bereits am Vortag der Ausschreitungen hatte eine Reihe von MAS-Abgeordneten Arce zum Einlenken bezüglich eines vorgezogenen Zensustermins aufgefordert und Parteichef Evo Morales hatte von der Regierung noch am Abend des 11.11. „endlich eine Entscheidung“ gefordert, um den Konflikt zu beenden. Am Sonntag, den 13.11., ging er in seiner wöchentlichen Radioansprache noch weiter. Er habe Arce von Anfang an vor einer Verschiebung des Zensustermins gewarnt, weil dies der Opposition Munition liefern könne. Seine Regierung habe schließlich im Jahr 2012 in nur zehn Monaten von der Ankündigung bis zur Durchführung einen Zensus durchgeführt. Das war nichts weniger als ein Frontalangriff auf den Präsidenten mit den Argumenten der Opposition.



Das Lager um gobernador Camacho in Santa Cruz hat eine Fortsetzung des paro bis zur Freilassung der inhaftierten Gewalttäter gefordert. Interessanterweise hatte Rómulo Calvo auf die Ankündigung des Präsidenten reagiert und weitere Zugeständnisse verlangt, aber den Termin als solchen akzeptiert. Camacho hingegen ging zunächst gar nicht auf den Zensus ein, sondern forderte den Innenminister heraus: „Wenn er mich verhaften will, soll er kommen“. Gegen ihn und seinen Vater liegen Haftbefehle wegen der Unruhen 2019 vor, die zum Sturz von Morales führten. Sein Vater brüstete sich, damals die Polizei geschmiert und zur Meuterei angestiftet zu haben. Angesichts des im Grunde nebensächlichen Anlasses und seiner zunehmenden Isolation liegt die Vermutung nahe, dass es Camacho darum geht, eine Atmosphäre der Konfrontation und Mobilisierung seiner Anhänger aufrecht zu erhalten, die ihn vor Strafverfolgung schützt. Darüber hinaus dient die unablässige Organisation von paros der Destabilisierung der Regierung – und inhaltlich farblosen Oppositionspolitikern dazu, im Gespräch zu bleiben. Meist verlaufen sie im Sande. Im Jahr 2021 schafften sie es aber, einen Gesetzentwurf gegen Geldwäsche zu kippen.



Während also ein weiterer paro der Opposition ins Leere führte – um den Preis von vier Toten, 180 Verletzten und wirtschaftlichen Einbußen für Santa Cruz, die auf mehr als eine Milliarde US-Dollar geschätzt werden – und sich das Lager der politischen Rechten einmal mehr als zersplittert und inhaltsleer erweist, scheint die ernsteste Herausforderung für die Regierung Arce und den proceso de cambio aus den Reihen der MAS selbst zu kommen.



Gut beraten?

In seinem Rechenschaftsbericht zwei Jahre nach Amtsantritt wies Arce am 8.11. auf die schwierige Situation inmitten der Pandemie hin. Nach einem Einbruch der Wirtschaft unter der „Interimspräsidentin“ Añez (2020: - 8,7 %) habe man zu einem Wachstum von 6,1 % zurückgefunden; die Prognose für 2022 liegt bei 5,1 %. Dabei setzt man weiter auf den Export nicht erneuerbarer Rohstoffe, auch wenn Arce bei jeder Gelegenheit die Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Diversifizierung betont.

Es ist kein Geheimnis, dass Expräsident und Parteichef Morales den heutigen Vizepräsidenten, seinen langjährigen Außenminister David Choquehuanca, im Jahr 2017 als potentiellen Konkurrenten abgesägt hatte. Choquehuanca war dann 2020 der bevorzugte Kandidat der Basis. Morales setzte aus dem Exil aber Luis Arce, seinen Superminister für Wirtschaft und Finanzen, als Spitzenkandidaten durch. Spannungen zwischen Vizepräsident und Parteichef dauerten an. Je mehr er in Umfragen an Popularität einbüßt, desto deutlicher kritisiert Morales die Regierung, spricht von einem „sinistren Plan“ gegen ihn und fordert den Rücktritt des Innen- und des Justizministers. Da nützt es auch nichts, dass Verteidigungsminister Edmundo Novillo, sein jahrzehntelanger Mitstreiter, die Existenz eines solchen Plans energisch dementierte. Teilweise fast im Wochenrhythmus bestellten Morales nahestehende soziale Bewegungen die Regierung zu „Konsultationen“ ein, die stets mit Beschwörungen der Einheit endeten. Auch der MAS wohlgesonnene Kommentatoren forderten, man solle doch endlich die Regierung in Ruhe arbeiten lassen. Mittlerweile gibt es im Parlament zwei MAS-Fraktionen, und deren Differenzen wurden am 9.11. nicht mehr nur verbal („Verrat“) ausgetragen, sondern auch mit Fäusten.



Parteichef Morales, „el líder indiscutible“, wie er von seinen Anhängern genannt wird, wäre hier gefordert, wäre er denn neutral. Er hatte die MAS de facto zu einer Einheitspartei der progressiven sozialen Bewegungen aufgebaut und genießt bei ihnen weiterhin hohes Ansehen – insbesondere auf dem Land. Doch auch in wochenlange Auseinandersetzungen zwischen zwei Fraktionen von Kokabauern aus den Yungas, die auf den Straßen von La Paz gewaltsam ausgetragen wurden, schaltete er sich nicht ein. Dabei könnte er sich gerade dabei als charismatischer Übervater profilieren, der „seiner“ Regierung den Rücken frei hält. Doch scheint es ihm vor allem darum zu gehen, potentielle Mitbewerber um die Präsidentschaftskandidatur im Zaum zu halten. Vergeblich, denn inzwischen werden auch Luis Arce Ambitionen auf eine erneute Kandidatur nachgesagt – und eine junge Generation scharrt mit den Hufen.

Kenner der politischen Kultur in Bolivien sind überzeugt, dass dabei auch die Verteilung von Posten für die jeweiligen Unterstützer eine Rolle spielt. Als Präsident hatte Morales da natürlich sehr viel mehr Spielraum als heute als Parteichef. Und dass er manchmal den Kontakt zur Realität verliert, wurde in seiner Radioansprache vom 27.2. deutlich, als er sagte, es handle sich in der Ukraine nicht um eine Invasion, sondern Russland verteidige sich gegen eine Invasion der NATO.



Proceso de cambio wichtiger als Personen

Die MAS befindet sich in einem Dilemma. Ihre Regierung macht solide Arbeit und würde Wahlen gewinnen. Unsicher wäre aber eine absolute Mehrheit. Um diese zu holen, braucht man die ländliche Basis von Morales, der für die städtischen Mittelschichten zunehmend unwählbar geworden ist, ohne die die MAS auch keine Absolute erreichen kann. Als brüchiges Band, das die beiden Sektoren noch eint, dient einzig die Opposition, die ohne Programm und völlig zersplittert dasteht. Die MAS scheint ihrerseits auf dem Weg dorthin. Aufbruchsstimmung sieht anders aus.



Der renommierte Soziologe Fernando Mayorga brachte unlängst in einem Interview den Vorschlag ins Spiel, Arce, Choquehuanca und Morales sollten sich freiwillig und geordnet aus dem Kandidatenrennen für die symbolträchtigen Präsidentschaftswahlen 2025 (Bolivien feiert da 200 Jahre Unabhängigkeit) zurückziehen und einer neuen Generation der „Helden“, wie er sagte, „die 2020 die Demokratie zurückerkämpften“, das Feld überlassen. Schon hat eine Neugründung der Partido Socialista-1 Luis Arce angeboten, für sie als Spitzenkandidat aufzutreten. Mit der ersten Option könnte das beispiellose Projekt einer linken (Einheits-)Partei der sozialen Bewegungen gerettet werden. Mit der zweiten wäre es gescheitert und die Putschisten von 2019 hätten einen späten, aber wichtigen Teilerfolg errungen. Oder aber die drei Politveteranen raufen sich im Dienste der Sache zusammen und konzentrieren sich auf ihre jeweiligen Aufgaben. 


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