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Drogenpolitik: Augen zu und weiter so?

  • von © Robert Lessmann Dr
  • 19 Apr., 2022

Afghanistan und Kolumbien sind Lehrbeispiele. Seit Jahrzehnten tritt die internationale Drogenpolitik auf der Stelle – mit miserablen Ergebnissen und verheerenden Nebenwirkungen. Blinde Gefolgschaft im Schlepptau Washingtons zahlte sich nicht aus. Das Fiasko in Afghanistan hat sich im Bereich der Drogenpolitik längst abgezeichnet. Inzwischen läuft eine Reformdebatte langsam an. Die großen Bremser dabei sind heute arabische und asiatische Länder, nicht zuletzt China und vor allem Russland.

Auf der 62. Sitzung der UN-Suchtstoffkommission (Commission on Narcotic Drugs) im Frühjahr 2019 in Wien konnte man sich noch ohne Corona-Einschränkungen treffen. Die wohl interessanteste Veranstaltung war gleich am ersten Tag ein „side-event“ zur „Zukunft der Alternativen Entwicklung“. Das sind Programme, um Lebensalternativen für Bäuerinnen und Bauern zu fördern, die sogenannte Drogenpflanzen anbauen. Organisiert von Deutschland, Österreich, der EU, dem UNODC (Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung) und moderiert von der deutschen GIZ (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) warb ein hochkarätig besetztes Podium wortreich für diesen Ansatz und stellte Erfolgsgeschichten vor. Tatsächlich können entwicklungspolitische Maßnahmen einen wichtigen und wirksamen Beitrag zu einer Angebotsreduzierung leisten. Meist waren sie bisher jedoch eher kosmetisches Beiwerk repressiver Politiken. Meine Sitznachbarin lächelte milde, als ich ihr nach einer Weile ins Ohr flüsterte: „Das hören wir nun seit 30 Jahren“. Aus Coletta Youngers’ Studie „Clear and Present Dangers“, die 1991 vor den Abgründen einer Militarisierung der Drogenbekämpfung warnte, hatte ich schon für meine Dissertation über den Drogenkrieg in den Anden zitiert. Seit jener Zeit hören wir Berichte über erfolgreiche Projekte, schlüssige Strategien, „geteilte Verantwortung“ zwischen Produzenten- und Konsumentenländern, „entschlossenes Engagement“ und „ausgewogene Ansätze“ (balanced approach). Doch die Fakten sprechen eine andere Sprache. Die alljährlich publizierten Welt-Drogenberichte der UNO dokumentieren eine stetige Zunahme des Drogenkonsums und der Todesopfer im Zusammenhang damit. Die Drogenmärkte sind komplexer geworden. Neue, im Labor hergestellte Substanzen drängen mit einer Dynamik auf den Markt, die den Kontrollrahmen über die Erfassung und Definition „kontrollierter Substanzen“ sprengt – ohne jedoch die traditionellen, pflanzenbasierten zu verdrängen, wie man das vermuten konnte. Kokain- (Kokabusch) und Heroinproduktion (Schlafmohn) liegen auf Rekordniveau. Neue Vermarktungsformen über das Darknet haben gerade während der Pandemie noch einmal an Bedeutung gewonnen und stellen die klassische Interdiktionspolitik (Verbot und Fahndung) vor ungeahnte Schwierigkeiten.

Während auf der Ebene der Diskussionen, der Berichte und der Strategien längst von Reformen die Rede ist, im Sinne einer Abkehr von Repression und Strafverfolgung auf der Angebotsseite hin zu Prävention und Therapie auf der Nachfrageseite, ist davon in der Praxis noch herzlich wenig zu sehen. Dabei ist es hohe Zeit, neue Wege auszuprobieren, statt sich weiterhin an der eigenen Großartigkeit zu berauschen.

Wie so oft waren es nicht die klugen Köpfe, die bereitwillig zugeben konnten, dass der Kaiser gar nichts anhatte: Sie verbrachten ihre Zeit lieber damit, neue Theorien auszudenken, um zu erklären, warum diese Kleider sowohl prächtig als auch unsichtbar waren.“ Eric J. Hobsbawm

War on Drugs“
Die internationale Drogenpolitik war und ist in hohem Maße von den Vereinigten Staaten dominiert. Nur Weltpolizist Uncle Sam verfügt (seit 1978) über ein Bureau for International Narcotics Control and Law Enforcement Affairs (INL) im Außenministerium, dessen Mittel stets um ein Mehrfaches über dem Budget des UNODC liegen, wobei noch mehrere weitere Ministerien und Behörden beteiligt sind, wie beispielsweise USAID. Einschlägige Budgets des Pentagon unterliegen der Geheimhaltung.

Zwei Länder standen und stehen im Mittelpunkt der angebotsorientierten Drogenbekämpfung, die bis vor wenigen Jahren noch als „War on Drugs“ bezeichnet wurde. Kolumbien, wo heute zwei Drittel der globalen Kokablätter produziert und wo nach wie vor zwei Drittel der Kokainlaboratorien entdeckt und zerstört werden, sowie Afghanistan, das 85 Prozent des Schlafmohns produziert, der Ausgangspunkt für 80 Prozent des Heroinangebots ist. Zwischen beiden Ländern bestehen bemerkenswerte Gemeinsamkeiten. Koka- beziehungsweise Schlafmohnproduktion sind in beiden Ländern relativ neuen Datums. Beiden Ländern galt besondere geopolitische Aufmerksamkeit Washingtons.

Weder „endete die Geschichte“ mit dem Zusammenbruch des Ostblocks, wie der neokonservative Politologe Francis Fukuyama prophezeit hatte, noch begann sie mit der Jahrtausendwende, auch wenn dies in geschichtsvergessenen Darstellungen der Drogenpolitik bisweilen so aussehen mag. In Kolumbien begann der „Drogenkrieg“ bereits in den 1970er Jahren. Ziel war damals noch der Anbau von Marihuana, der zwar nicht verschwand, aber aus zwei Gründen an Bedeutung verlor. Nachdem Plantagen mit Pflanzengift besprüht wurden, befürchteten nordamerikanische Konsumenten, ‚Pot‘ aus Kolumbien und Mexiko könnte wegen der Vernichtungspolitik ihrer Regierung gegen den Anbau dort kontaminiert sein, und gingen deshalb zum Eigenanbau über. Gleichzeitig nutzten kolumbianische Drogenhändler ihre Kenntnisse des nordamerikanischen Marktes und machten ihr Land zum Epizentrum des wesentlich lukrativeren Kokaingeschäfts. Sie organisierten die Weiterverarbeitung der Pasta Básica de Cocaína, die als Zwischenprodukt aus den klassischen Anbauländern Bolivien und Peru importiert wurde, und den lukrativen Export auf die Absatzmärkte. Washington versuchte damals mit seiner Operation Airbridge, die Anlieferung von Pasta Básica zu unterbrechen, im Rahmen derer nichtidentifizierte Flugzeuge zur Landung gezwungen oder notfalls abgeschossen wurden. Operation Airbridge wurde durch die Intervention des Kongresses zwischen April 2001 und August 2003 ausgesetzt, nachdem wegen eines Kommunikationsfehlers zwischen dem U.S.-Aufklärer und dem peruanischen Jäger versehentlich die Cesna einer nordamerikanischen Missionarsfamilie abgeschossen wurde. Wahrscheinlich wichtiger für den Strukturwandel war jedoch die Zerschlagung der großen Drogenorganisationen von Medellín und Cali in der ersten Hälfte der 1990er Jahre, deren Geschäfte von Dutzenden kleineren Organisationen (mehr und mehr auch von linken Guerillas und rechten Paramilitärs) fortgeführt wurden, die aber nicht mehr über die Verbindungen in die Anbaugebiete verfügten. Wie auch immer: Ergebnis war ein Prozess der Importsubstitution. Die Nachfolger der berühmt-berüchtigten „Kartelle“ kauften nun zu Hause ein. Zwischen 1995 und 2000 verdreifachte sich der Kokaanbau in Kolumbien ungeachtet einer unter dem Druck Washingtons ab 1994 initiierten Besprühungskampagne von Kokafeldern mit Pflanzengift aus der Luft. Der Anbau nahm unter dem Strich weiter zu, wurde aber durch die Besprühungen zu einer extrem volatilen Angelegenheit. Es wurde anderenorts weiter neu angebaut, oft auch prophylaktisch. Während er zu Beginn der Kampagne auf sechs Provinzen beschränkt war, wurde Koka im Jahr 2000 in 23 der 33 Departements angebaut. Begleiterscheinungen waren fortschreitende Entwaldung zur Anlage immer neuer Pflanzungen, Ausbreitung der Vergiftung von Böden und Gewässern, nicht nur durch die Sprühflugzeuge, sondern vor allem durch die großen Mengen von Chemikalien, die zur Weiterverarbeitung nötig sind – und Bauernvertreibung.

Geist aus der Flasche
Wir halten fest: Weder hatte der Kokaanbau in Kolumbien historisch eine Rolle gespielt, noch der Schlafmohnanbau in Afghanistan. Dorthin fuhren die Hippies mit dem Magic Bus unter anderem wegen des guten „Schwarzen Afghanen“ (Haschisch). Beim Anbau von Schlafmohn zur Opiumgewinnung war das heutige Myanmar führend. In Afghanistan fasste er in größerem Stil erst nach der sowjetischen Invasion (1979) Fuß. Er diente Mudschahedin-Gruppen zur Finanzierung, was im Westen toleriert wurde, weil man diese Gruppen im Kampf gegen die sowjetischen Truppen unterstützte. Welchen Geist man da aus der Flasche gelassen hatte, wurde nicht erst nach dem 11. September 2001 deutlich. Der Krieg gegen die sowjetischen Invasoren kostete nach verschiedenen Schätzungen zwischen 600.000 und zwei Millionen Zivilisten das Leben. Nach deren Abzug versank Afghanistan in Scharmützeln zwischen unterschiedlichen Mudschahedin-Gruppen, bis Mitte der 1990er Jahre die Taliban die Macht übernahmen. Die Opiumproduktion war inzwischen um das 15-fache angewachsen. Als die Taliban 1996 in Kabul einmarschierten, erzeugte das Land bereits zwei Drittel des Weltopiums. Freilich passte das streng genommen nicht zur Ideologie der Islamisten und die Taliban erließen im Jahr 1999 ein Anbauverbot bei drakonischen Strafen, womit er in den von ihnen kontrollierten Gebieten gegen Null sank. Das Jahr 1999 hatte eine Rekordernte von 4.565 Tonnen Opium gebracht und die Preise waren in den Keller gegangen. Die Lager waren voll, und Schlafmohn ist – im Gegensatz zu Koka – eine einjährige Pflanze. Zwischen Anbau und Ernte liegt nur ein gutes halbes Jahr. Hintergrund des Verbots könnte also auch die Verhinderung eines weiteren Preissturzes gewesen sein. Ob es von Dauer gewesen wäre, weiß man nicht.

Denn im Oktober 2001 begann die Operation Enduring Freedom. Bis zum Dezember waren die Taliban bereits weitgehend vertrieben, und auf der Petersberger Konferenz bei Bonn wurde die Regierung unter Hamid Karzai installiert. Es begannen 20 Jahre „Sicherheitskooperation“ – mit bekanntem Resultat.

War against Terror“
So setzte mit der Jahrtausendwende sowohl in Afghanistan als auch in Kolumbien eine Zeitenwende ein – auch drogenpolitisch. In Kolumbien begann im Jahr 2000 der Plan Colombia zur Aufstands- und Drogenbekämpfung mit der Einrichtung von neun Militärbasen zur Ausbildung kolumbianischer Spezialkräfte durch U.S.-Militärs. Von den 12,6 Milliarden USD des Plan Colombia waren zwei Drittel Polizei- und Militärhilfe. Der Drogenhandel sei zur wichtigsten Quelle der bewaffneten Aufständischen geworden, von der man diese abschneiden wollte. Die Besprühungen mit Glyphosat wurden noch einmal dramatisch ausgeweitet. Gesprüht wurde nun vor allem in Gebieten, die von der Guerilla kontrolliert wurden. Ende des letzten Jahrzehnts (FY 2010) erhielten mit Afghanistan (272,5 Mio. USD) und Kolumbien (244,6 Mio. USD) zwei Schlüsselländer im „Krieg gegen den Terror“ mehr als 50 Prozent des INL-Gesamtbudgets von 878,7 Mio. USD.

Ein Kongressbericht vom Dezember 2020 – an dem Demokraten und Republikaner mitgearbeitet hatten, unterzeichnet noch von Donald Trumps Außenminister Mike Pompeo – bezeichnet den Plan Colombia als erfolgreich bei der Aufstandsbekämpfung, aber drogenpolitisch als gescheitert. In der Tat: Kokaanbau und Kokainproduktion liegen auf einem Allzeithoch. Und die Bereitschaft der FARC-Guerilla zu Friedensverhandlungen hatte wohl eher militärstrategische Hintergründe. Offenbar erlaubte moderne U.S. Militärtechnologie (sog. high value targeting), ihre Camps unter dem Blätterdach der tropischen Wälder zu orten. Eine Reihe ihrer Comandantes wurde auf diese Weise gezielt getötet oder gefangen.

„You are going to have to spray“, richtete Präsident Trump dem amtierenden kolumbianischen Präsidenten Iván Duque bei dessen Besuch in Washington Anfang 2020 aus. Nachdem die Weltgesundheitsorganisation WHO erklärt hatte, Glyphosat sei „möglicherweise krebserregend“, waren die Besprühungen im Jahr 2015 im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen der Vorgängerregierung und den FARC eingestellt worden. Präsident Juan Manuel Santos erhielt für das Friedensabkommen im Jahr 2016 den Friedensnobelpreis. Nach sechs Jahrzehnten war der Kampf gegen die älteste und größte Guerilla zu Ende.

Doch in einer Volksbefragung stellte sich eine knappe Mehrheit gegen das Friedensabkommen und die Regierung von Iván Duque, der von Anfang an dagegen war, vollzog es seit 2018 nur widerwillig bis gar nicht. Eine Fünfjahresbilanz sieht düster aus. Zwar verlief die Demobilisierung der FARC weitgehend erfolgreich: 6.804 Kämpfer gaben 8.994 Waffen ab und wurden in 19, von Polizei und Militär bewachten Transitional Normalization Concentration Zones untergebracht. Heute gelten 13.608 FARC-Kämpfer als demobilisiert. Weniger erfolgreich verlief dagegen deren gesellschaftliche Integration. Bis Ende Oktober 2021 wurden fast 300 ehemalige FARC-Kämpfer ermordet. Taten, die fast immer straflos blieben.

Der kolumbianischen Regierung ist es nicht gelungen, in den von den FARC verlassenen Gebieten (rechts-) staatliche Präsenz herzustellen. Außerstaatliche bewaffnete Gruppen füllten das Vakuum. Seit 2017 sind alle diese bewaffneten Gruppen stärker geworden. Amtliche Zahlen sprechen von der Guerilla Ejercito de la Liberación Nacional (ELN, 2.200 Kämpfer), FARC-Dissidenten 5.500, kriminelle Banden 8.350 – zusammengenommen mehr als 16.000; NGO-Zahlen liegen noch höher. Mord- und Totschlagsverbrechen haben in den ersten neun Monaten des Jahres 2021 um 18 Prozent zugenommen, Massaker um 9 Prozent. Für Menschenrechts- und Ökoaktivisten ist Kolumbien das gefährlichste Land der Welt. Auch Massenvertreibungen nehmen weiter zu. Bis September 2021 registrierten die Vereinten Nationen 46.321 Fälle.

Nicht erst seit der Verquickung von Drogen- und Terrorbekämpfung mündet diese Art der martialischen Angebotsbekämpfung in ein Nachhaltigkeitsdesaster: Seit Präsident Samper unter Korruptionsvorwürfen Washingtons im Jahr 1994 zur Einwilligung in das Besprühungsprogramm gedrängt wurde, hat man in Kolumbien rund 2,5 Millionen Hektar Koka vernichtet, etwa das 15-fache des historischen Maximums der Anbaufläche (171.000 Ha im Jahr 2017). Bis zum Jahr 2013 wurde laut Statistik alljährlich das Mehrfache dessen „vernichtet“, was überhaupt vorhanden war – das Gegenteil einer rationalen und nachhaltigen Strategie. Der Kokaanbau ist dadurch zu einer extrem volatilen Angelegenheit geworden. Verschwunden oder auch nur entscheidend vermindert ist er nicht. Mit der besonders umstrittenen Besprühung von Kokafeldern mit Pflanzengift aus der Luft kann man vielmehr von einer regelrechten Bauernvertreibung sprechen. Bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 50 Millionen Menschen sind in Kolumbien fast 8 Millionen Menschen auf der Flucht – vor allem infolge des Bürgerkriegs. Kolumbien ist damit noch vor Syrien das Land mit den meisten Binnenflüchtlingen. Die Politik der Kokavernichtung ohne Nachhaltigkeit hat zum Problem unfreiwilliger Migration sicherlich nicht unwesentlich beigetragen.

Kapitel 4 des Friedensabkommens von 2016 sah das bestausgestattete aber auch ehrgeizigste Programm (PNIS – Programa Nacional Integral de Sustitución de Cultivos de Uso Ilícito) zur Kokareduzierung vor. Die Reduzierung sollte von den Bauern freiwillig und bei einer Überbrückungskompensation erfolgen. Die Regierung würde danach mit Programmen der Alternativproduktion und Infrastrukturförderung eine Umstellung der bäuerlichen Produktion auf legalen Anbau fördern. Auch wenn die vorgesehenen Fristen nach allen Erfahrungen viel zu ehrgeizig waren. Ein Problem bestand darin, dass verschiedentlich extra Koka angebaut wurde, um in den Genuss der Kompensation zu kommen. Unter der Regierung Santos wurden immerhin noch 106 solcher kollektiven Abkommen in 98 Gemeinden geschlossen. Nachfolger Iván Duque war schon während seines Wahlkampfes dagegen und das Programm wurde faktisch gestoppt. Kokaanbau sei eben einfach illegal, sagte der Verantwortliche. Man kehrte zur zwangsweisen Eradikation unter dem Schutz von Polizei und Militär zurück. Ein Dekret erlaubt ferner die Rückkehr zur Besprühung mit Pflanzengift, die jedoch nicht erfolgte, weil nunmehr Washington sich weigerte, es weiter zu finanzieren. Freiwillige Kokaeradikation findet praktisch überhaupt nicht mehr statt. Von den Familien, die sich auf das Programm eingelassen hatten, erhielten nach Auskunft des kolumbianischen Rechnungshofes bis zum Dezember 2020 nur 1 Prozent das vollständige Hilfspaket. Die Enttäuschung ist groß und das Misstrauen gegenüber der Regierung nahm zu. Bis Juli 2021 hatten 67.235 am PNIS teilnehmende Familien zusammen 44.294 ha. reduziert. Und wo freiwillig reduziert worden war, waren bis Ende 2020 98 Prozent der Flächen auch kokafrei geblieben.

Ein Monitoring-Bericht des Washington Office on Latin America (WOLA) über fünf Jahre Friedensprozess beklagt vor allem, dass Kapitel 4, dem Kapitel 1 „Agrarreform“ davongeeilt sei und auch an sich viel zu zögernd bis gar nicht umgesetzt wird. Denn überraschenderweise: Wo es denn umgesetzt wurde, hat PNIS erstaunlich gut funktioniert. Voraussetzung zum Erfolg sei eine zivile Regierungspräsenz. Diese hat es nun noch schwerer. „Die einzige Präsenz des Staates, die wir sehen, sind die Eradikationstrupps, geschützt von Polizei und Militär“, klagen betroffene Bauern.

Der erwähnte WOLA-Bericht spricht von einem starken Abkommen und mangelndem politischem Willen, es umzusetzen. Präsident Iván Duque nannte es vor der UNO-Generalversammlung im September 2021 ein „schwaches Abkommen mit der FARC-Terroristengruppe“. In der Tat standen die FARC bis vor kurzem noch auf einer U.S.-Terrorliste, wodurch für bestimmte Aspekte eine U.S.-Unterstützung blockiert war. Bleibt die Hoffnung auf eine Wiederbelebung des Friedensprozesses, wenn ab August 2022 eine neue Regierung die Amtsgeschäfte in Bogotá führt.

Totalfiasko in Afghanistan
Während ich diese Zeilen schreibe, ist der Ukrainekonflikt zum Krieg geworden und das Thema Waffenlieferungen ist entschieden. Teile der veröffentlichten Meinung waren vorher bereits nicht müde geworden, eine Aufrüstung der Ukraine zu fordern, um den Preis einer Invasion in die Höhe zu treiben. Das ist nun plausibler denn je. Indes: Den Hauptpreis zahlen jedenfalls immer Zivilisten. Manche Studien sprechen von 80-90 Prozent der Todesopfer in kriegerischen Auseinandersetzungen seit 1945. Und nicht zuletzt sollte man sich über die – auch zukünftige – innere Verfassung des Empfängerlandes im Klaren sein. In Afghanistan haben westlicher Interventionismus und Militärkooperation eben eine bestens mit modernem Kriegsgerät ausgestattete Extremistengruppe an der Regierung hinterlassen. Militärisch und geostrategisch ein Totalfiasko. Und wie steht es um Wirtschaft und Gesellschaft? Nach zwanzig Jahren westlicher Dominanz erlebte das Land am Hindukusch gerade einen Hungerwinter. Schon vor dem August 2021 war die Hälfte der Bevölkerung auf externe Hilfe angewiesen. Die Nahrungsmittelimporte sind so hoch wie die Eigenproduktion. Doch dafür ist kein Geld vorhanden. Die Exporte (nach Indien, Pakistan und die Vereinigten Arabischen Emirate) lagen im Jahr 2020 bei rund 780 Millionen USD; die Reserven der Notenbank in Kabul schätzten die UN im letzten Herbst auf 362 Mio. USD in bar; die (hauptsächlich in den USA) eingefrorenen Devisenreserven, über deren Teilfreigabe aus humanitären Gründen man gerade nachdenkt, auf 9 Mrd. USD. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen vom November 2021 besteht die Gefahr, dass 97 Prozent der Bevölkerung unter die Armutsgrenze abrutschen.

Inmitten dieser dramatischen Situation gibt es einen Bereich, der nach zwanzig Jahren westlicher Sicherheitskooperation floriert: Drogen. In den vergangenen fünf Jahren hat Afghanistan stets Rekordernten von über 6.000 Tonnen Opium eingefahren. Wenigstens hier konnte man also seit Jahren sehen, dass da etwas schief läuft. Von 2020 auf 2021 verbuchte man einen Zuwachs um 8 Prozent auf nunmehr 6.800 Tonnen, aus denen sich 270-320 Tonnen reines Heroin gewinnen lassen. Die afghanischen Einnahmen aus dem Opiatgeschäft werden auf 1,8 – 2,7 Mrd. USD geschätzt und liegen damit weit über denen der legalen Exporte – die Erlöse auf den internationalen Märkten dürften bei 40 Mrd. liegen. Die bäuerlichen Schlafmohnproduzenten beziehen daraus zirka 425 Millionen. Wie werden sich die Taliban dazu verhalten? Für nichtstaatliche Akteure, wie Warlords, waren und sind Drogengeschäfte jedenfalls eine formidable Einkommensquelle. Und während die Preisentwicklung auf den internationalen Märkten zuletzt auf eine Marktsättigung beziehungsweise Überproduktion hindeutete, hat die Unsicherheit seit dem August 2021 die Preise in Afghanistan in die Höhe schnellen lassen. Vor diesem Hintergrund ist eine neuerliche Rekordernte 2022 vorprogrammiert.

Wer sagt, dass zwanzig Jahre nach dem Beginn der Operation Enduring Freedom nur das Opiumgeschäft floriere, hat trotzdem Unrecht. Seit 2014 produziert Afghanistan auch Metamphetamin für die Märkte der Region, und Cannabis erlebt eine Renaissance; hier liegen die Hektarerträge mit 7.400 USD/ha im Verhältnis zum Opium (2.200) sogar noch deutlich höher, die Bauern haben also mehr davon. Ein eben von den Taliban verhängtes Verbot für Anbau und Produktion von Drogen muss den Test auf seine Ernsthaftigkeit und Vollziehbarkeit erst noch bestehen.

Der deutsche Bundespräsident Frank Walter Steinmeier sagte seinerzeit als frischgebackener Außenminister der Großen Koalition in seiner Rede vor der Münchener Sicherheitskonferenz sinngemäß, die Bundesrepublik sei zu wichtig, um das internationale Geschehen nur von der Außenlinie zu kommentieren. Als jahrzehntelanger Beobachter der internationalen Drogenpolitik hatte man sich damals schon gewünscht, wenigstens dies wäre der Fall gewesen. Tatsächlich hat man in Europa die desaströsen Interventionen Washingtons stets mitgetragen – allenfalls noch arbeitsteilig begleitet im Sinne einer entwicklungspolitischen Behübschung durch „Alternative Entwicklung“, sozusagen als „Damenprogramm“ zum War on Drugs. Heute muss man sagen: Es ist höchste Zeit, mit blinder Gefolgschaft aufzuhören und weiterhin dafür Geld aus dem Fenster zu werfen. Projekte „Alternativer Entwicklung“ können einen Beitrag leisten, wo die Rahmenbedingungen stimmen, wo politischer Wille und Geduld vorhanden sind. Ein nachhaltig positives Gegenbeispiel ist das Thai-German Highland Development Project. Mit langem Atem (18 Jahre, von April 1981 – Dezember 1998) und einem partizipativen Ansatz gelang es, den Opiumanbau im thailändischen Projektgebiet von 9.000 Hektar auf 1.000 Hektar zu reduzieren; seither fluktuiert er zwischen 400 und 900 Hektar. Es geht nur mit den Bauern, nicht gegen sie. Nullsummenspiele sind unrealistisch. Zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität sollte man vor allem verstärkt dort ansetzen, wo es richtig weh tut: Beim bisher arg vernachlässigten Kampf gegen Geldwäsche. Angesichts der Herausforderungen durch neuartige Substanzen und die Vermarktung über das Darknet scheinen Prävention und Therapie vielversprechender als Verbote und Kontrollen. Man hilft den Betroffenen und trägt indirekt dazu bei, den illegalen Markt auszudünnen. Hardcore-Konsumenten und Suchtkranke stellen nämlich eine verlässliche und relativ preisunelastische Dauernachfrage dar. So verbrauchen beispielsweise in den USA ein Viertel der Kokainkonsumenten zwei Drittel des geschätzten Angebots. Die Debatten auf der Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen (UNGASS 2016) zum Thema Drogen haben einen Weg in die richtige Richtung aufgezeigt. Die Einbettung der Drogenpolitik in die Nachhaltigen Entwicklungsziele der Agenda 2030 hat einen entsprechenden Rahmen vorgegeben. Nun gilt es zu handeln. Die internationale Drogenpolitik braucht keine Schönredner, sondern neue Spielmacher.

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