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von © Robert Lessmann Dr 06 Apr., 2024

Wien im März 2024. Die kolumbianische Botschafterin war in ihrem Schlusswort sehr klar: „Als ich vor einem Jahr erstmals hier sprach, stellte ich mich mit den Worten vor: ‚Ich heiße Laura Gil. Ich komme aus Kolumbien und ich bin müde.‘“ Müde von der Gewalt, den Toten, den leeren Versprechungen. Ein Jahr später müsse sie sagen: „Wir sind heute 60 Länder und wir sind es leid!“


Laura Gil sprach auf einem so genannten side event im Rahmen der 67. UN Commission on Narcotic Drugs.(1) Obwohl eine Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen (UNGASS) zum Thema Drogen im Jahr 2016 eine flexiblere Auslegung der einschlägigen Konventionen versprochen hatte, sei in der Praxis alles so starr und bürokratisch geblieben wie eh und je, sagte Gil, die zuletzt als Vize-Außenministerin ihres Landes für multilaterale Beziehungen zuständig war. UNGASS 2016 war auf Initiative Mexikos, Kolumbiens und Guatemalas einberufen worden: Eine Überarbeitung des bisherigen Ansatzes der internationalen Gemeinschaft gegenüber Drogen könne nicht länger aufgeschoben werden, hieß es bereits in einer gemeinsamen Erklärung vom 1. Oktober 2012. Dabei müssten die Vereinten Nationen eine Führungsrolle übernehmen, um „alle Optionen zu analysieren, einschließlich regulierender – oder Marktmechanismen, um ein neues Paradigma zu etablieren, das den Ressourcenfluss zu Gruppen organisierter Kriminalität verhindert.“ Herausgekommen ist das Versprechen größerer Flexibilität. In der Tat wurden seither Entkriminalisierungs- und Regulierungsmodelle bei Cannabis toleriert.


Neustart als Rohrkrepierer

Zu einer energischen Schwerpunktsetzung beim Kampf gegen die organisierte (Gewalt-) Kriminalität und die Geldwäsche – wie es die Lateinamerikaner gefordert hatten – kam es jedoch nicht. Im Jahr 2011 hatte das Büro für Drogen und Verbrechensbekämpfung der Vereinten Nationen (UNODC) eine bahnbrechende Studie über Geldwäsche vorgelegt. Demnach lag deren jährliches Volumen damals zwischen 1,2 und 1,6 Billionen US Dollar. Der größte Anteil entfalle mit 350 Mrd. auf den Drogenhandel und dabei wiederum auf den mit Kokain, der besser organisiert und zentralisierter sei als der mit anderen illegalen Substanzen. Zum Vergleich: Der aktuelle Budgetentwurf der deutschen Bundesregierung liegt bei 470 Mrd. €. Der illegale Drogenhandel sei gewissermaßen das Rückgrat der internationalen organisierten Kriminalität, hieß es damals in UNODC-Papieren. Indes: Eine längst überfällige Aktualisierung dieser Studie ist nicht in Sicht. Unter dem damaligen Exekutivdirektor des UNODC, Antonio Maria Costa (2002-2010 - ein Banker übrigens), habe man sich dieses heiklen Themas angenommen. Seither fehle der politische Wille dazu, ist aus dem UNODC zu vernehmen.


Dabei wäre es sechs Jahrzehnte nach der Verabschiedung der maßgeblichen UNO Drogenkonvention und einem halben Jahrhundert von Washingtons federführendem „War on Drugs“ höchste Zeit, neue und innovative Wege einzuschlagen. Die Zahl der Drogenkonsumenten befindet sich auf Rekordniveau und wächst schnell weiter. Schneller noch wachsen die Opferzahlen, vor allem durch neue, im Labor hergestellte psychoaktive Substanzen. Überdosen mit dem künstlichen Opioid Fentanyl sind heute die häufigste Todesursache für Männer zwischen 18 und 45 Jahren in Nordamerika. Die Produktion der klassischen, pflanzengestützten Drogen Kokain (Grundstoff sind die Blätter des Kokabusches aus Bolivien, Kolumbien und Peru) und Heroin (Schlafmohn/Opium aus Afghanistan, Myanmar und Mexiko) befindet sich jeweils auf Rekordniveau. Sogenannte Neue Psychoaktive Substanzen drängen mit einer Schnelligkeit und Vielfalt auf den Markt, die schon ihre Erfassung und damit das Kontrollsystem der Drogenkonventionen über Listen kontrollierter Substanzen überfordert. Zusammen mit einer wachsenden Rolle des Darknet beim Handel schränkt das die Zugriffsmöglichkeiten der Exekutive drastisch ein. Therapie und Prävention scheinen die wesentlich effektiveren Instrumente zu sein. Doch in der Praxis dominiert allenthalben noch immer der repressive Ansatz über das Strafrecht.


Diese konventionelle Politik ist in Bausch und Bogen gescheitert. Es gab allenfalls regionale Schwerpunktverlagerungen. Inwieweit ein Anbauverbot der Taliban für Schlafmohn in Afghanistan vom April 2022 nachhaltig sein wird, bleibt vor dem Hintergrund voller Lagerbestände abzuwarten. Ein ebensolches Verbot vom Jahr 2000/2001 war es jedenfalls nicht. Immerhin ist aktuell ein Rückgang der dortigen Opiumproduktion um 95 Prozent zu verzeichnen. Zwanzig Jahre westlicher Sicherheitskooperation waren dagegen von einem stetigen Anwachsen des Anbaus in Afghanistan begleitet. Schon nimmt der Anbau beim vormals wichtigsten Schlafmohnproduzenten, Myanmar, rapide zu.


Das Epizentrum des Kokaanbaus verlagerte sich bereits in den 1990er Jahren aus den traditionellen Anbauländern Bolivien und Peru nach Kolumbien (ohne dort zu verschwinden oder auch nur nachhaltig vermindert zu sein) und zwischenzeitlich auch wieder zurück. Man spricht vom Ballon Effekt; Druck an einer Stelle führt zur Ausdehnung anderenorts. Heute befinden sich 204.300 Hektar Anbaufläche (von insgesamt 296.000) in Kolumbien (2). Die Schaltzentralen des Kokaingeschäfts verlagerten sich von Kolumbien nach Mexiko, doch produziert wird nach wie vor in Kolumbien, wo rund zwei Drittel der Kokainlabors entdeckt und zerstört werden. Mehr als von einer Verlagerung muss man also von einer Ausbreitung des illegalen Drogengeschäfts und der mit ihm verbundenen Probleme sprechen.


Ecuador, Kolumbien und der War on Drugs

Jüngstes Beispiel dafür ist Ecuador, das in einer Welle von Gewalt versinkt, wie die deutsche Tagesschau am 11. Januar 2024 titelte. Ecuador, dabei dachte man an Galapagos, den 6.263 Meter hohen Chimborazo, Charles Darwin und Alexander von Humboldt, ein stark von seiner indigenen Bevölkerung geprägtes Land und jenes mit der wahrscheinlich größten Artenvielfalt. Doch heute ist Ecuador ein wichtiges Transitland für Kokain geworden. Aus dem friedlichen und aufstrebenden Ecuador wurde eines der gefährlichsten Länder Lateinamerikas.


Wie kam es dazu? Ecuador hat mit Guayaquil einen großen Seehafen und eine fast 600 Kilometer lange Grenze zum Nachbarland Kolumbien, wo seit vielen Jahren etwa zwei Drittel des auf den illegalen Weltmärkten erhältlichen Kokains erzeugt werden. Ein halbes Jahrhundert War on Drugs , Milliarden von Dollars, US- Militärbasen und Sprühflugzeuge mit Glyphosat gegen Kokafelder haben daran nichts geändert. Älteren Leserinnen und Lesern sind die Namen Pablo Escobar, Carlos Lehder, die Ochoa-Familie und die Rodríguez-Orejuela in Erinnerung, das Cali- und das Medellín-Kartell (der völlig falsche Ausdruck übrigens, aber von der Journaille so eingebürgert) in Erinnerung, die Ende der 1980er, Anfang der 90er Jahre gegen ein Auslieferungsabkommen mit den USA anbombten. Allein drei Präsidentschaftskandidaten starben, dutzende Richter, Staatsanwälte, Journalisten wurden damals ermordet. Nach der Zerschlagung der mächtigen „Kartelle“ übernahmen Dutzende kleinere Organisationen das unvermindert boomende Geschäft, die nicht mehr über die Kontakte in die Anbauregionen in Bolivien und Kolumbien verfügten. Ungeachtet einer einsetzenden Besprühungskampagne mit Pflanzengift aus der Luft wurde Kolumbien in der zweiten Hälfte der 90er selbst zum wichtigsten Grundstoffproduzenten. Wirtschaftswissenschaftler nennen das Importsubstitution. Der Kokaanbau in Kolumbien verdreifachte sich. Und er breitete sich aus: Waren es zu Beginn der Besprühungen sechs Provinzen, so wurde zur Jahrtausendwende Koka in 23 der 33 kolumbianischen Departments angebaut.


Kokaanbau historisch in Hektar

        1986     1995     2000

Bolivien    25.800   48.600   14.600

Kolumbien   24.400   50.900   163.300

Peru     150.400   115.300    43.400

Total      200.440   214.800   221.300

Quelle: UNODCCP Global Illicit Drug Trends bzw. UNODC World Drug Reports


Washington hatte Mitte der 90er den Präsidenten Ernesto Samper mit Korruptionsvorwürfen unter Druck gesetzt und zur Einwilligung in die Besprühungskampagne genötigt. Mit einer Operation Airbridge hatte man zudem versucht, den Import des Zwischenprodukts, der Pasta B ásica de Cocaína , aus Bolivien und Peru einzudämmen. Nicht identifizierte Kleinflugzeuge wurden zur Landung gezwungen oder abgeschossen, bis der Kongress dieses Vorgehen stoppte. Wegen eines Kommunikationsfehlers zwischen dem amerikanischen Aufklärer und dem peruanischen Jäger hatte man versehentlich die Cessna einer US-Missionarsfamilie abgeschossen.


Zunehmend bemächtigten sich nun auch bereits seit 1964 in Kolumbien operierende Guerrillagruppen des illegalen Geschäfts, und stärker noch die rechtsextremen Paramilitärs, die gegen die Guerrilla kämpften. Teilweise hatten diese Gruppen zigtausende Kämpfer unter Waffen, die alle verköstigt, eingekleidet und bewaffnet werden mussten. Hatte die Guerrilla anfangs nur die Kokabauern besteuert und Gebühren für die klandestinen Landepisten der Drogenhändler in den Anbaugebieten erhoben, so wurde das illegale Geschäft zunehmend zum Selbstzweck und verschiedene ihrer frentes stiegen immer tiefer ein. Ab der Jahrtausendwende hielt Washington mit dem Plan Colombia dagegen. Milliarden wurden ausgegeben, sieben Militärbasen in Kolumbien errichtet, Spezialkräfte ausgebildet und die Besprühung mit Glyphosat noch einmal ausgeweitet. Der W ar on D rugs verschmolz mit dem W ar on T error. Nur Weltpolizist Uncle Sam verfügt über eine Abteilung für internationale Drogen- und Gesetzesvollzugsangelegenheiten (INL(3)) im Außenministerium. Ende des vorletzten Jahrzehnts (FY 2010) gingen mehr als 50 Prozent des INL-Budgets in Höhe von insgesamt 878,9 Mio. USD nach Afghanistan und Kolumbien – zwei Schlüsselländer im Krieg gegen den Terror. Zum Vergleich: Das Gesamtbudget des UNODC war nicht einmal halb so hoch.


Nachhaltigkeitsdesaster und Bürgerkrieg

Besprüht wurde nun vor allem in den Guerrilla-Hochburgen im Süden des Landes. Im Laufe der Jahre will man laut Statistik deutlich mehr als das Zehnfache dessen an Feldern vernichtet haben, was jemals als maximale Anbaufläche vorhanden war. Ein Nachhaltigkeitsdesaster. Die Bauern zogen weiter, legten neue Kokafelder an – teilweise schon prophylaktisch. Die Politik der Kokavernichtung ohne Nachhaltigkeit dürfte damit enorme Flächen tropischen Regenwaldes gekostet haben.(4) Doch nicht nur das: Durch die zur Weiterverarbeitung notwendigen Chemikalien wurden immer neue Böden und Gewässer vergiftet. Und Kolumbien war lange noch vor Syrien das Land mit der höchsten Zahl von Binnenflüchtlingen (8 von insgesamt 50 Millionen Einwohnern), wofür hauptsächlich der Guerrillakrieg, aber eben auch Bauernvertreibung durch Kokaeradikation verantwortlich war.


Die Umsetzung des Plan Colombia hieß in Kolumbien unter Präsident Álvaro Uríbe (2002-2010) S eguridad D emocrática und verfolgte das Ziel, illegale bewaffnete Gruppen von ihrer Finanzierung abzuschneiden. Gesprüht wurde nun insbesondere in den Hochburgen der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) im Süden des Landes in den Departments Caquetá und Putumayo. Landesweite Kokareduzierungen um 80.000 Hektar zwischen 2000 und 2004 wurden praktisch ausschließlich dort erzielt.


Im Jahr 2015 wurden die Besprühungen eingestellt, im Jahr 2016 ein Friedensabkommen mit den FARC unterzeichnet. Der Krieg mit der ältesten (seit 1964) und größten Guerrilla war zu Ende. Präsident Juan Manuel Santos erhielt dafür den Friedensnobelpreis. Mehr als 13.000 Kämpfer wurden demobilisiert, Hunderte davon später ermordet. Nachfolger Iván Duque hielt nichts von dem Abkommen und das ehrgeizige Programm zur Schaffung von Alternativen für die Bauern wurde praktisch nicht vollzogen. Duque setzte die Zwangseradikation von Kokafeldern fort und wollte sogar zu einer Besprühung der Felder aus der Luft zurückkehren. Es ist nicht gelungen, das Machtvakuum, das durch den Abzug der Guerrilla entstand, durch staatliche Institutionen zu füllen. Stattdessen geben dort nun FARC-Dissidenten (5.500 Kämpfer), Kämpfer des Ejercito de la Lib e ración Nacional (ELN 2.200) und Angehörige krimineller Banden (8.350 nach offiziellen Zahlen) den Ton an. Bei seinem Amtsantritt im Jahr 2018 gab es in Kolumbien 169.000 Hektar Koka und Duque strebte bis 2023 eine Halbierung an. In einem Working-Paper von 2020/21 für das deutsch-kolumbianische Friedensinstitut Capaz ( www.instituto-capaz.org ) schrieb der Autor dieser Zeilen damals: „Nichts deutet darauf hin, dass die Zielvorgaben heute realistischer sind als vor 10 oder 20 Jahren. Es ist vielmehr zu erwarten, dass die neuerliche Eradikationsoffensive auch diesmal nicht nachhaltig sein wird und es besteht die Gefahr, dass damit die Unsicherheit der Lebensumstände in den betroffenen Gebieten vergrößert wird.“


Heute kämpft die Regierung des Präsidenten Gustavo Petro unter dem Slogan Paz Total gegen verbrannte Erde an. Die Bauern sind einmal mehr vom Staat enttäuscht und desillusioniert. Statt der angestrebten Halbierung ist die Kokaanbaufläche um gut ein Drittel weiter angewachsen und liegt heute (2022) bei 230.028 Hektar, fast die Hälfte davon in den südlichen Departments Putumayo und Nariño im Grenzgebiet zu Ecuador (5). Und damit nicht genug. Durch bessere Sorten und Anbaumethoden soll die Ernte pro Hektar nach Berechnungen des UNODC um durchschnittlich 24 Prozent angestiegen sein und durch Optimierung der Weiterverarbeitung auch der Kokainertrag. Solche neuen Hochproduktivitätszonen befinden sich unter Kontrolle sogenannter narcoparamil i tares, FARC-Dissidenten bzw . der ELN . Alle zusammen werden sie Grupos Armados Ilegales (GAI) genannt. 35 Prozent der Kokaanbauflächen Kolumbiens befinden sich in Zonen, in denen eine oder mehrere GAI präsent sind. Diese arbeiten fallweise zusammen oder bekriegen sich. Aber alle sind um eine strikte Kontrolle des Produktionsprozesses bemüht. Im Department Putumayo lassen sich sechs Gruppen identifizieren, die nahezu umfassende Kontrolle ausüben. Die größten sind ehemalige frentes der FARC, das Comando Frontera und die Frente Carolina Ramírez und sie bekämpfen sich gegenseitig. Gemeinsam ist ihnen allen der Vektor des Kokainabsatzes: der Rio Putumayo. Interessanterweise befindet sich auch auf der südlichen, der peruanischen Seite des Grenzflusses im Departement Loreto ein Koka-Kokain-Nukleus. Auf ihm oder an ihm entlang gelangt die heiße Ware nach Ecuador.


Ecuador: Neoliberalismus und Drogentransit

Immer wieder tauchten in den letzten Jahren in Supermärkten Kokainpäckchen in Bananen- oder Schnittblumenlieferungen aus Ecuador auf, die von den Adressaten übersehen worden waren. Ecuador ist selbst kein Anbauland in nennenswertem Umfang, doch wurde es für den Drogenhandel nicht nur wegen des Pazifikhafens Guayaquil interessant. Kokainbeschlagnahmungen sind dort von 88 Tonnen (2019) auf 201 Tonnen (2022) kontinuierlich angestiegen. Neben dem Seehafen und der langen Landesgrenze zu den wichtigsten Kokain-Produktionszentren verfügt Ecuador noch über weitere, politisch-hausgemachte „Standortvorteile“. Das notorisch exportabhängige Land – vor allem Erdöl mit seinen schwankenden Weltmarktpreisen – befindet sich seit langem in einer wirtschaftlichen Dauerkrise, unterbrochen nur durch einen Boom im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends. Zur Jahrtausendwende wurde daher die Wirtschaft „dollarisiert“, was Außenhandelsgeschäfte ebenso erleichtert wie die Geldwäsche. Sie soll bei etwa 3,5 Mrd. USD jährlich liegen, was etwa 3 Prozent des BIP entspricht, Geld, das zu 75 Prozent im Land selbst in legale Wirtschaftskreisläufe eingespeist werde. Kolumbianische Wirtschaftswissenschaftler bezeichneten solcherlei Verhältnisse für ihr Land schon von mehr dreißig Jahren als „Verschmutzung der Wirtschaft“ ( la economía se ensucia ) und sprachen von einer „bewilligten Illegalität“ ( ilegalidad consentida ) (6), die der Gesetzgeber billigend in Kauf nehme.


Ecuador war mit seiner neuen Verfassung von 2008 und einer zunächst stärkeren Akzentuierung der Sozial-, Indigena- und Umweltpolitik unter Präsident Rafael Correa einer der Hoffnungsträger der progressistischen Welle in Lateinamerika. Doch eine Abkehr vom Extraktivismus, eine Überwindung der Abhängigkeit vom Erdöl gelang nicht und Correa ging 2017 unter Korruptionsvorwürfen ins französische Exil. Sein Nachfolger, Lenin Moreno, fiel nurmehr durch den scharfen Gegensatz zwischen progressiver Rhetorik und neoliberaler Praxis auf. Proteste ließ er im Jahr 2019 blutig niederschlagen. Das Verhältnis zwischen dem indigenen und dem „progressistischen“ Lage ist so zerrüttet, dass man 2021 den Wahlsieg quasi verschenkte. Während der „Correist“ Andrés Arauz den ersten Wahlgang mit 14 Prozentpunkten Vorsprung gewonnen hatte und Yaku Pérez das historisch beste Ergebnis für das indigene Lager erzielte, gewann der neoliberale Kandidat Guillermo Lasso die Stichwahl, der im ersten Wahlgang nur 19,5 Prozent der Stimmen bekommen hatte. Statt ein Bündnis einzugehen, bekämpften sich die progressiven Kräfte. Während der 900 Tage seiner Amtszeit soll das Vermögen von Guillermo Lasso um 21 Mio. USD angewachsen sein. Speziell seit der Pandemie wurde unter Moreno und Lasso eine extreme Sparpolitik betrieben, um Auslandsschulden begleichen zu können – nicht zuletzt auch im Sicherheitsbereich. Gerade Lasso war in der Sicherheitspolitik gleichzeitig aber ein Verfechter der „harten Hand“. Das in ganz Lateinamerika notorisch prekäre und hier nun noch einmal besonders vernachlässigte Gefängnissystem wurde mit Kleinkriminellen überfüllt. Vor dem Hintergrund allgegenwärtiger Korruption entwickelten sich die Haftanstalten geradezu zu Hauptquartieren krimineller Banden.


Deren wichtigste, die „Choneros“ arbeiten mit der mexikanischen Sinaloa-Gruppe zusammen, „Los Lobos“ mit der ebenfalls mexikanischen „Jalisco Nueva Generación“. Beide Gruppen bekämpfen sich. Ein Fanal war die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio, dessen Hauptthemen der Kampf gegen die Korruption und den illegalen Drogenhandel waren, auf einer Kundgebung in Quito im August 2023. Eine Komplizenschaft aus den Reihen der Sicherheitskräfte wird vermutet. Die Hauptverdächtigen wurden später in zwei verschiedenen Gefängnissen ihrerseits ermordet. Ein zweites Fanal war der Ausbruch des Anführers der „Choneros“, Adolfo „Fito“ Macias, Anfang Januar 2024, nachdem er in ein anderes Gefängnis verlegt werden sollte, sowie die bewaffnete Besetzung eines Fernsehstudios während einer Livesendung. Inzwischen hatte der heute 36-jährige, in Miami geborene und steinreiche Unternehmer Daniel Noboa die Wahlen gewonnen. Nach nur wenigen Wochen im Amt, sprach er am 9. Januar von einem „internen bewaffneten Konflikt“ und rief einen 60-tägigen Notstand aus. In kurzer Zeit wurden mehr als 9.000 Menschen verhaftet. Es wird sogar über eine Wiedereröffnung der US-Luftwaffenbasis Manta diskutiert, die im Kontext des Plan Colombia 1999 als sogenannte Forward Operation Location zur Luftraumüberwachung (AWACS) eröffnet worden war. Insgesamt 500 Mann US-Personal genossen damals quasi diplomatische Immunität und Bewegungsfreiheit in ganz Ecuador. Sie war 2008/2009 unter Rafael Correa geschlossen worden und eine Wiedereröffnung würde heute gegen die neue Verfassung verstoßen.


Der Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta, der unter anderem in Köln studiert hat, war in den Jahren 2007 und 2008 Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors und im ersten Halbjahr 2007 Minister für Energie und Bergbau im Kabinett von Rafael Correa. Er hat Zweifel am Erfolg dieser Politik der Militarisierung: Die Nationalpolizei werde zum Erfüllungsgehilfen des Militärs degradiert. Er spricht vom grundlegenden Problem einer Koexistenz zwischen dem Staat und einigen kriminellen Banden, die nach und nach die staatlichen Institutionen übernahmen. Der Grad der Durchdringung des organisierten Verbrechens sei so groß, dass seine Infiltration fast aller staatlichen Instanzen, der Justiz, der Sicherheitskräfte, des Privatsektors und sogar des Sports öffentlich anerkannt werde.


Vor anderthalb Jahrzehnten reagierte das Kokaingeschäft auf stärkere Kontrollen der europäischen Seehäfen mit dem Absatz über Venezuela und Westafrika entlang des 10. Breitengrades, der die kürzeste Verbindung zwischen Lateinamerika und Westafrika darstellt. Fahnder sprachen damals vom Highway Number 10. Einige der ärmsten Länder der Welt waren nun plötzlich mit einem Millionengeschäft konfrontiert. In der Wüste Malis wurde im Jahr 2009 das Wrack einer aufgelassenen Boeing 727 gefunden, mit der 10 Tonnen Kokain transportiert worden waren: die Air Cocaine. Der Weitertransport durch die Sahara zum Mittelmeer erfolgte über dieselben Routen und durch dieselben Organisationen, die auch im Schleppergeschäft aktiv sind, unter anderem Al Qaeda . Ab 2011 erhielten sie üppige Bewaffnung aus Beständen des gestürzten Diktators Muhammar al Gaddhafi. Und während neuerdings Ecuador die Aufmerksamkeit erregt, zeichnet sich bereits eine Wiederbelebung des Highway Number 10 ab. Wie auch immer die Routen sich ändern: Die Fahnder laufen hinterher.


Drogenbekämpfung und Menschenrechte: ein neuer Anlauf

Zurück nach Wien und zur Commission on Narcotic Drugs. Der War on Drugs sei gescheitert, sagt Volker Türk, der UNO Hochkommissar für Menschenrechte: gescheitert Leben zu retten; gescheitert die Würde, Gesundheit und Zukunft von weltweit 296 Millionen Drogennutzern zu schützen; gescheitert, den Politikwechsel herbeizuführen, den wir dringend brauchen, um weitere Rückschläge bei den Menschenrechten abzuwenden. Die gegenwärtige Drogenpolitik mit ihrem strafenden Ansatz und ihren repressiven Politiken, so Türk, hatte verheerende Folgen für die Menschenrechte auf allen Ebenen. „Drogen töten und zerstören Leben und Gemeinschaften. Aber unterdrückerische und rückwärtsgewandte Politiken tun das auch.“ (Übers. aus dem Englischen R.L.)


Seit der Vorbereitung der UNGASS Konferenz von 2016 werden andere UNO-Organisationen (wie UNAIDS oder das Hochkommissariat für Menschenrechte mit Sitz in Genf) sowie NGO’s in die Drogendebatte einbezogen, die bis dato von den in Wien ansässigen UN „Drogenorganisationen“ dominiert, wenn nicht monopolisiert gewesen war. Drogenpolitik wurde in den Kontext der nachhaltigen UN-Entwicklungsziele (oder Agenda 2030) gestellt – zumindest in den Debatten. Im August 2023 legte das Büro des Menschenrechts-Hochkommissars einen Bericht über Herausforderungen für die Menschenrechte bei der Drogenbekämpfung vor. Der kolumbianische Außenminister Murillo erkannte auf dem genannten side event sofort, den Gegensatz zwischen Wien und Genf. Und die frühere Bundespräsidentin der Schweiz, Ruth Dreyfuss, plädierte für eine dringend notwendige „Kommunion“ der Ansätze , wie sie es formulierte. Es ist hohe Zeit, dass daraus Wirklichkeit wird. Nicht nur in den Diskursen, sondern in der Praxis.


(1) Auf der alljährlich in Wien stattfindenden „Commission“ kommen die Delegierten der Mitgliedsländer zusammen, um die internationale Drogenpolitik zu diskutieren und zu gestalten. Das erwähnte side event (Human rights in global drug policy and the case of the current classification of coca leaf in the 1961 single convention: A debate on the implementation and effectiveness of the international drug control regime) fand am 14. März 2024 statt. Am Podium saßen neben Laura Gil, der bolivianische Vizepräsident David Choquehuanca, der kolumbianische Außenminister Luis Gilberto Murillo, die ehemalige Bundespräsidentin der Schweiz, Ruth Dreyfuss (als Mitglied der Global Commission on Drug Policy) sowie der UN Hochkommissar für Menschenrechte, der Österreicher Volker Türk.

(2) Der World Drug Report 2023 des UNODC nennt für Bolivien 30.500 Hektar und für Peru 80.681 Hektar, was zusammengenommen 315.481 Hektar ergibt. Die Zahlen sind von daher inkonsistent bzw. die Addition fehlerhaft.

(3) Das Bureau for International Narcotics Matters and Law Enforcement Affairs (INL) im State Department wurde 1978 gegründet und 1995 zum heutigen Namen umbenannt. Insgesamt ist das Anti-Drogen-Budget der USA noch erheblich höher und in seinen internationalen Aspekten auf State Department (INL und USAID), Justiz- (DEA) und Verteidigungsministerium verteilt.

(4) Eine auch methodologische Auseinandersetzung mit dem Thema stellt fest: „...that coca cultivation area, number of cattle, and municipality area are the top three drivers of deforestation…“ und die Gewichtung dieser Faktoren sei „highly context-specific“. (Ganzenmüller/Sylvester/Castro-Nuñez: „What Peace Means for Deforestation: An Analysis of Local Deforestation Dynamics in Times of Conflict and Peace in Colombia“ in: Frontiers in Environmental Science Vol. 10, Bucharest, 21.2.2022

(5) UNODC: Monitoreo de los territorios con presencia de cultivos de coca 2022, Bogotá/ Viena, Septiembre 2023.

(6) Arrieta/ Orejuela/ Sarmiento Palacio/ Tokatlián: „Narcotráfico en Colombia“, Bogotá, 1990.


Volker Türks bemerkenswerte Rede auf dem erwähnten side event : www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2024/03/war-drugs-has-failed-says-high-commissioner

Sein Statement vor dem Plenum:

www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2024/03/turk-urges-transformative-change-global-drug-policy


Foto: Verurteilte Drogenkurierin, Frauengefängnis Bogotá 1990. Noch immer werden Haftanstalten mit Kleinkriminellen vollgestopft. 

© Robert Lessmann


Weitere Beiträge zum Thema weiter unten in diesem Blog, insbesondere:

www.robert-lessmann.com/proceso-de-paz-y-guerra-contra-las-drogas-en-colombia-sostenibilidad-y-alter...

www.robert-lessmann.com/kolumbien-drogenbekaempfung-und-friedensprozess

www.robert-lessmann.com/drogenpolitik-augen-zu-und-weiter-so

von © Robert Lessmann Dr 12 März, 2024

Álvaro García Linera kennt die politische Realität Lateinamerikas aus Theorie und Praxis. Er wurde 1962 in Cochabamba/ Bolivien geboren. Soziologie studierte der gelernte Mathematiker als Autodidakt während einer fünfjährigen Untersuchungshaft, die er ab 1992 als Mitglied des Ejército Guerillero Túpac Katari (EGTC) verbüßte. Für sein politisches Denken war neben Karl Marx und Antonio Gramsci auch der Vordenker des bolivianischen „Indianismus“ Fausto Reinaga von großer Bedeutung. Nachdem er ohne Urteilsspruch entlassen wurde, arbeitete er als Hochschullehrer und wurde einer der gefragtesten Talkshowgäste und politischen Analytiker. Zentral für sein politisches Denken blieb stets die Frage der indigenen Emanzipation. Im Jahr 2005 wurde er an der Seite von Evo Morales zum Vizepräsidenten seines Landes gewählt, ein Amt, das er bis zu beider Sturz im November 2019 innehatte. (Bild von der Amtseinführung im Januar 2006.) Gemeinsam wurden sie ins Exil gezwungen. Nach der Rückkehr der Regierungspartei Movimiento al Socialismo (MAS) an die Macht, kehrte auch er nach Bolivien zurück, hält sich aber im Gegensatz zu Evo Morales aus der Tagespolitik heraus.


García Linera sieht Lateinamerika – und die Welt – in einer Übergangsphase. Sie sei von Unklarheit und Instabilität gekennzeichnet, wo eine „monströse Rechte“ die Bühne betrete, was wiederum in gewisser Weise eine Folge der Defizite progressiver Kräfte sei. Er nennt diese Zeit „tiempo liminar“. Andere Autoren sprechen vom Kampf zwischen progresismo und Regression. Die Linke, so García Linera, müsse kühner sein und einerseits mit historischer Verantwortung Antworten auf die profunden Fragen an der Basis des sozialen Zusammenhalts geben und andererseits die Sirenengesänge der neuen Rechten neutralisieren. Sie müsse bei grundlegenden Reformen zu Fragen der Eigentumsverhältnisse weiterkommen, bei Steuern, bei der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung des Wohlstands und der Wiedergewinnung der Ressourcen zum Wohle der Gesellschaft. Nur so werde man, ausgehend von den grundlegendsten Forderungen der Gesellschaft und realen Fortschritten bei der Demokratisierung, die Ultrarechten in die Schranken weisen.


Politische Schubumkehr

Das Jahrhundert hatte mit einer Dominanz progressiver Regierungen begonnen. Mit dem Wahlsieg von Mauricio Macri in Argentinien habe 2015 gewissermaßen eine Schubumkehr in Lateinamerika eingesetzt. Andere Länder, wie Brasilien und Honduras, folgten. Teilweise wurden diese Rechtsregierungen inzwischen wieder von progressiven ersetzt. García Linera sieht das als Ausdruck einer Umbruchphase des zeitgenössischen Kapitalismus – Gramsci hatte von „Interregnum“ gesprochen –, wo sich Wellen und Gegenwellen ablösen ohne dass sich eine Tendenz durchsetzt. Lateinamerika habe damit eine Entwicklung vorweggenommen, die wir heute auf der ganzen Welt beobachten können. Der Halbkontinent erlebte eine intensive progressive Welle, die von einer konservativen Gegenbewegung gefolgt wurde und dann von einer neuerlichen progressiven. Möglicherweise, so García Linera, werden wir sehen, dass sich eine solche Abfolge kurzfristiger Wechsel noch fünf bis zehn Jahre fortsetzt, bis sich ein neues Modell der Akkumulation und Legitimation durchsetzt, das neue Stabilität für Lateinamerika und die Welt bringt. Insoweit das nicht geschieht, werden wir in einem Wirbel der Zeit des Interregnums feststecken. Man erlebe progressive Wellen, ihre Erschöpfung, konservative Gegenreformen, neue progressive Wellen. Und jede dieser Wellen sei verschieden von der anderen. „Milei ist unterschiedlich zu Macri, obwohl er manches von ihm übernimmt. Alberto Fernández, Gustavo Petro und Manuel López Obrador unterscheiden sich auch von ihren Vorgängern, obwohl sie einen Teil von deren Erbe übernehmen“, stellt García Linera fest: „Und so wird es weiter gehen bis sich eines Tages eine neue Weltordnung definiert, denn diese Instabilität und dieses Leid können nicht endlos sein“, meint er. Im Grunde würden wir einen zyklischen Niedergang des Akkumulationsmodells sehen, wie wir das bereits nach der liberalen Phase des Kapitalismus (1870-1920), der staatskapitalistischen (1940-1980) und der neoliberalen (1980-2010) gesehen haben, argumentiert er in Anlehnung an Nicolai Kondratiews Theorie der Wirtschaftszyklen. Das Chaos sei Ausdruck des historischen Niedergangs und des Kampfes um ein neues und dauerhaftes Modell der Akkumulation, das wieder Wachstum und sozialen Zusammenhalt bringt.


Polarisierung

Die Rechte verwende dabei Praktiken, die man glaubte überwunden zu haben, wie Putsche, politische Verfolgung, Mordversuche. Zu dieser Übergangszeit gehöre, dass die politischen Eliten auseinanderdriften. Wenn die Dinge gut liefen, wie etwa bis zur Jahrtausendwende, fänden sie sich um ein Akkumulations- und Legitimationsmodell zusammen. Die Linke mäßigt sich, „neoliberalisiert“ sich, obwohl es immer eine radikale Linke ohne Publikum geben wird. Die Rechten streiten unter sich. Wenn der Niedergang beginnt, tauche die extreme Rechte auf und werde stärker. Die extreme Rechte fresse die moderate Rechte auf, und die radikale Linke trete aus ihrer Marginalität und politischen Bedeutungslosigkeit. Sie gewinne an Resonanz und Publikum. Sie wachse. „Im Interregnum ist das Auseinanderdriften der politischen Projekte die Regel, weil es bei der Suche nach Lösungen für die Krise der alten Ordnung Dissidenten auf beiden Seiten gibt“, konstatiert er. Die rechte Mitte, die den Halbkontinent und die Welt über 30 oder 40 Jahre regiert hat, finde keine Antworten mehr auf die deutlichen Fehler des globalisierten, neoliberalen Kapitalismus und die Zweifel und Ängste der Menschen. Es tauche eine extreme Rechte auf, die weiter das Kapital verteidigt, die aber glaubt, dass die alten Rezepte nicht mehr genügen und man die Gesetze des Marktes mit Gewalt durchsetzen müsse. Sie will die Menschen domestizieren, wenn nötig mit Gewalt, um zu einem reinen, ursprünglichen freien Markt ohne Zugeständnisse und Doppelbödigkeiten zurückzukehren. Sie konsolidiert sich, indem sie von Autorität, von Schocktherapie des freien Marktes und Reduzierung des Staates spricht. Und wenn es dagegen soziale Widerstände gibt, müsse man dem mit Stärke und Zwang begegnen, und wenn nötig auch mit Staatsstreich und Massakern, um die Widerspenstigen, die sich der Rückkehr zur guten Gewohnheit des freien Unternehmertums und des zivilisierten Lebens widersetzen, zu disziplinieren: mit den Frauen am Herd, den Männern, die befehlen, den Chefs, die entscheiden und den Arbeitern, die schweigend ihre Arbeit tun. Ein weiteres Symptom des liberalen Verfalls tritt zu Tage, wenn sie nicht mehr überzeugen und verführen können, sondern Zwang brauchen, was bedeutet, dass sie bereits dem Untergang geweiht sind. Nichtsdestoweniger bleiben sie gefährlich.


Angesichts dessen könnten die progressiven Kräfte und die Linke nicht nachgiebig sein und versuchen, es allen sozialen Sektoren und Fraktionen recht zu machen. Die Linke tritt in der Übergangszeit aus ihrer Marginalität heraus, indem sie sich als Alternative zum wirtschaftlichen Desaster präsentiert, das vom unternehmerischen Neoliberalismus verursacht wird. Ihre Funktion könne es nicht sein, einen Neoliberalismus „mit menschlichem Antlitz“ einzuführen, einen grünen oder progressiven Neoliberalismus. „Die Menschen gehen nicht auf die Straße oder wählen die Linke, um den Neoliberalismus zu verzieren. Sie mobilisieren sich und wechseln radikal ihre alten politischen Bindungen, weil sie ihn satt haben und ihn loswerden wollen, weil er nur einige wenige Familien und Unternehmen reich gemacht hat. Und wenn die Linke es nicht schafft, sich als Alternative zu präsentieren, ist es unausweichlich, dass die Menschen sich der extremen Rechten mit ihren (illusorischen) Auswegen aus der allgemeinen Misere zuwenden“, fürchtet García Linera. Dazu müsse die Linke, wenn sie die Rechte aus dem Feld schlagen will, Antworten auf die drängenden Fragen geben. Sie muss die Armut der Gesellschaft bekämpfen, die Ungleichheit, die Unsicherheit der Dienstleistungen, Bildung, Gesundheit, Wohnen. Und um die materiellen Bedingungen dafür zu schaffen, muss sie radikal sein in ihren Reformen zu Fragen des Eigentums, der Steuerpolitik, der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung des Wohlstands, der Wiedergewinnung der gemeinsamen Ressourcen zum Wohle der Gesellschaft. Zurückhaltung dabei wird die sozialen Krisen vergrößern. Angesichts des Ausmaßes der Krise wird moderates Vorgehen die Extreme stärken. Wenn es die Rechten tun, stärken sie die Linken und umgekehrt. Worum es geht, sind wirtschaftliche und politische Reformen, die zu sichtbaren und dauerhaften materiellen Verbesserungen der Lebensbedingungen für die gesellschaftliche Mehrheit führen, zu einer größeren Demokratisierung der Entscheidungen, einer größeren Demokratisierung des Reichtums und der Eigentumsverhältnisse. Die Eindämmung der extremen Rechten wird nicht einfach ein Diskurs sein, sondern in einer Reihe von praktischen Maßnahmen zur Verteilung des Reichtums bestehen, die es erlauben, die wichtigsten Ängste und Forderungen der Bevölkerung anzugehen: Armut, Inflation, Unsicherheit, Ungleichheit. Man darf nicht vergessen, dass das Erscheinen der extremen Rechten ja eine pervertierte Antwort auf diese Ängste ist. „Je mehr du den Reichtum verteilst, desto mehr betrifft das die Privilegien der Mächtigen, aber die bleiben bei deren wütender Verteidigung in der Minderheit, während sich die Linke in dem Maße konsolidiert, wie sie sich um die grundlegenden Bedürfnisse des Volkes kümmert“, sagt der Exvizepräsident.


Analyse statt Etikettierung

Was ist nun neu an der neuen Rechten? Soll man sie faschistisch nennen oder was sonst? Bauen sie an einem postdemokratischen Labor, nicht zuletzt in den USA? Ohne Zweifel tendiere die liberale Demokratie – als bloßer Austausch der Eliten durch das Volk – zu autoritären Formen. Wenn sie manchmal Früchte einer sozialen Demokratisierung hervorgebracht habe, so war es durch das Wirken anderer demokratischer Formen von unten, wie Gewerkschaften, landwirtschaftlichen Organisationen, Stadtteilkomitees, unterstreicht der Soziologe. Wenn man aber die liberale Demokratie sich selbst überlasse, als bloße Auswahl der Regierenden, tendiere sie zur Konzentration von Entscheidungen, zu dem, was der Nationalökonom Josef Schumpeter ‚Demokratie als bloße Auswahl der Regierenden, die über die Gesellschaft entscheiden‘ nannte und was eine autoritäre Form der Konzentration von Entscheidungen ist. Und dieses Monopol autoritärer Entscheidungen, fallweise auch ohne die Auswahl aus den Eliten ist es, was die extreme Rechte auszeichnet. Daher gibt es keinen Antagonismus zwischen der liberalen Demokratie und der extremen Rechten. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass sie durch Wahlen an die Macht kommt. „Was die liberale Demokratie am Rande und lustlos erlaubt, die extreme Rechte aber offen ablehnt, sind andere Formen der Demokratisierung von unten, wie Gewerkschaften, Stadtteilversammlungen, ländliche Organisationen, kollektive Aktionen. In diesem Sinne sind die extremen Rechten antidemokratisch“, sagt García Linera. Sie erlauben nur, dass man aus ihren Reihen jemanden wählt, der regiert, lehnen aber andere Formen der Teilhabe und der Demokratisierung des Reichtums ab, die sie als Beleidigung ansehen, als Absurdität, die man mit der Ordnungsmacht und Zwangsdisziplinierung bekämpfen muss. Ist das Faschismus? „Schwer zu sagen,“ meint García Linera. Es gebe dazu eine akademische Debatte, aber die politischen Auswirkungen sind eher klein. Die Generation über 60 in Lateinamerika erinnere sich vielleicht noch an die faschistischen Militärdiktaturen, aber der jüngeren Generation sage es nicht viel, vom Faschismus zu reden. Er ist nicht gegen diese Debatte, sieht sie aber nicht als sehr nützlich an. Der soziale Erfolg oder die Ablehnung von Forderungen der extremen Rechten hänge schließlich nicht von alten Symbolen ab, sondern von der Antwort auf die sozialen Ängste. Problematisch sei es indessen, sie als faschistisch zu bezeichnen ohne zu bedenken, auf welche kollektiven Forderungen sie antworten oder vor dem Hintergrund welchen Scheiterns sie auftauchen. Bevor man ihnen Etikette umhängt, sei es besser über die sozialen Bedingungen für ihr Auftauchen nachzudenken. Persönlich spricht er lieber von der extremen oder der autoritären Rechten.


Ob man Milei einen Faschisten nennen soll? Zuerst solle man sich fragen, warum er gewonnen hat, wer ihn gewählt hat, als Reaktion auf welche Sorgen. Ihm ein Etikett umzuhängen, erlaubt moralische Ablehnung, aber es hilft nicht, die Realität zu verstehen oder zu verändern. Wenn die Antwort ist, dass Milei sich auf die Ängste einer verarmten Gesellschaft beruft, dann ist klar, dass Armut das Thema ist. Darauf muss der p rogresismo und die Linke eine Antwort geben und die extreme Rechte oder (wenn man so will) den Faschismus stoppen. Man muss die Probleme erkennen, mit denen die extreme Rechte in der Gesellschaft Anklang findet, denn ihr Anwachsen ist auch ein Symptom für das Scheitern der Linken und der Progressiven. Sie tauchen nicht aus dem Nichts auf, nachdem die Progressiven nicht sahen, nicht bereit waren, konnten oder wollten, die Frage der Klasse, der prekären Jugend, die Bedeutung der Armut, der Wirtschaft zu verstehen und über jene des Rechts auf Identität zu stellen. Man müsse verstehen, dass das Grundproblem die Wirtschaft ist, die Inflation, „das Geld, das dir in der Tasche schmilzt“. Man dürfe nicht vergessen, dass auch die Identität eine Dimension der wirtschaftlichen und politischen Macht hat, die sie an Unterordnung bindet. In Bolivien eroberte beispielsweise die indigene Identität Anerkennung zunächst durch die Übernahme der politischen Macht und dann schrittweise wirtschaftlicher Macht innerhalb der Gesellschaft.


Schlüsselfrage Informalität

Das grundlegende soziale Verhältnis der modernen Welt ist Geld, entfremdet, aber immer noch fundamental, das, wenn es dir wegschmilzt, auch deinen Glauben und deine Treue auflöst. Das ist das Problem, das die Linke zuerst lösen muss. Dann komme der Rest, befindet García Linera. Wir befinden uns in einer historischen Zeit, wo der p rogresismo auftaucht und die extreme Rechte. Die klassische, neoliberale, universalistische Rechte verfällt, und zwar wegen der Wirtschaft. Aber die Gesellschaft, deren wirtschaftliche Probleme die alte Linke der 50er und 60er Jahre und der p rogresismo der ersten Welle (im neuen Jahrtausend) anging, hat sich verändert. Die Linke hat sich immer um die formale, entlohnte, arbeitende Klasse gekümmert. Heute ist die informelle arbeitende Klasse für den p rogresismo eine große Unbekannte. Die Welt der Informalität, die man auch unter dem Begriff „la economía popular“ versteht, ist für die Linke ein schwarzes Loch. Dafür hat sie keine produktiven Vorschläge. In Lateinamerika umfasst dieser Sektor aber bis zu 60 Prozent der Bevölkerung. Und es handelt sich nicht um eine vorübergehende Erscheinung, die bald in der formellen Wirtschaft aufgehen würde. Nein, die gesellschaftliche Zukunft wird eine mit Informalität sein, mit diesen kleinen Arbeitern, diesen kleinen Bauern, diesen kleinen Unternehmern, verbunden durch familiäre Bindungen und kuriose lokale und regionale Wurzeln, wo die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit nicht so klar sind wie im formellen Unternehmen. Diese Welt wird noch in den nächsten 50 Jahren existieren und sie schließt in Lateinamerika die Mehrheit der Bevölkerung ein. „Was sagst Du diesen Menschen? In welcher Weise kümmerst du dich um ihr Leben, ihr Einkommen, ihre Lebensbedingungen, ihren Konsum? Das sind die Schlüsselthemen für die Progressiven und die zeitgenössische Linke in Lateinamerika. Was bedeutet das? Mit welchen Werkzeugen macht man das?“, fragt der Politiker und Soziologe. Natürlich mit Enteignungen, Nationalisierungen, mit Umverteilung des Reichtums, Erweiterung der Rechte. Das sind die Werkzeuge, aber das Ziel muss die Verbesserung der Lebensbedingungen dieser 80 Prozent der Bevölkerung sein, gewerkschaftlich organisiert oder nicht, formell oder informell, die „lo popular“ in Lateinamerika darstellen, meint García Linera. Und das außerdem mit einer größeren Beteiligung an den Entscheidungen. Die Leute wollen gehört werden, wollen teilnehmen. Das vierte Thema ist die Umwelt, Umweltgerechtigkeit mit sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit, nie getrennt und nie vorweg.


Kolumbien als Vorreiter

Zur Frage nach dem Kontext und der Rolle des Gastlandes, Kolumbien, sagt García Linera: „Wenn man sich die Vorgeschichte Kolumbiens ansieht, wo wenigstens zwei Generationen von Aktivisten und Kämpfern für soziale Gerechtigkeit von Ermordung bedroht waren und ins Exil gehen mussten, wo Formen legaler kollektiver Aktionen vom Paramilitarismus in die Enge getrieben wurden und wo die USA versuchten, nicht nur aus dem Staat eine Militärbasis zu machen, sondern das Land auch kulturell zu vereinnahmen, ist es nur heroisch zu nennen, dass ein Kandidat der Linken hier an die Regierung gewählt worden ist. Und klar, wenn man das machtvolle Sediment des ‚tiefen Kolumbien‘ (colombia profunda) erfühlt, das in den Gemeinschaften und den Stadtteilen keimt, versteht man die soziale Explosion von 2021 und das „Warum“ dieses Wahlsiegs.“ Dass ihm kollektive soziale Mobilisierungen vorausgingen, habe einen gesellschaftlichen Raum für Reformen geschaffen. Daher sei die Regierung von Präsident Gustavo Petro heute die radikalste dieser zweiten progressistischen Welle auf dem Halbkontinent.


Zwei Aktionen machen die Regierung von Gustavo Petro zur Vorhut: Eine Steuerreform mit progressivem Charakter, womit jene, die mehr haben auch höhere Steuern bezahlen. In der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten ist die wichtigste Steuer die Mehrwertsteuer, die eine höhere Last für die darstellt, die am wenigsten haben. An zweiter Stelle steht die Energiewende. Kein Land auf der Welt, schon gar nicht die, die sie am meisten kontaminieren – die USA, Europa, China – hat über Nacht die fossilen Brennstoffe aufgegeben. Man hat sich vielmehr Jahrzehnte zum Übergang vorgenommen und will immer noch einige Jahre lang mit einer Rekordproduktion dieser Brennstoffe leben. Kolumbien gehört zusammen mit Dänemark, Spanien und Irland zu den einzigen Ländern auf der Welt, die neue Exploration von Erdöl verbieten. Im Fall Kolumbiens ist es besonders relevant, weil Erdölexporte mehr als die Hälfte des Exportvolumens ausmachen, was diese Entscheidung zu einer sehr kühnen und weltweit sehr fortschrittlichen macht. „Es handelt sich um Reformen, die dem Leben verpflichtet sind und die den Weg ausleuchten, den andere Progressive über kurz oder lang auch gehen müssen.“ Man dürfe jedoch die kontinuierliche Verbesserung der Einkommen der kolumbianischen Unterschichten nicht aus dem Blick verlieren, weil jede Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit nichts als liberale Umwelttümelei sei. Das verlange eine millimetergenaue Abstimmung zwischen dem, was die Regierung in den nächsten Jahren an Einkommen verlieren wird, und der Erschließung neuer Einkommen, sei es durch andere Exporte, höhere Steuern für die Reichen und spürbaren Verbesserungen der Lebensbedingungen für die Mehrheit des Volkes.


Was die Rolle Lateinamerikas und der Karibik in der Welt betrifft, meint García Linera: Am Beginn des 21. Jahrhunderts habe Lateinamerika den ersten Gongschlag für die Erschöpfung des neoliberalen Zyklus gegeben. Hier lag der Beginn der Suche nach einer hybriden Mischung aus Protektionismus und Freihandel. „Heute ist die Welt im Wandel hin zu einem Regime der Akkumulation und der Legitimation, das den neoliberalen Globalismus ablöst – trotz der melancholischen Rückfälle in einen Paleo-Neoliberalismus wie in Brasilien unter Bolsonaro und in Argentinien unter Milei.“ Trotzdem sei der Halbkontinent heute etwas zu erschöpft. Es scheint, als müsse der postneoliberale Übergang erst im globalen Maßstab voranschreiten, damit Lateinamerika seine Kräfte erneuert, um den ursprünglichen Antrieb wieder aufzunehmen. Die Möglichkeit postneoliberaler Strukturreformen der zweiten Generation – oder noch radikalerer – die die transformatorische Kraft auf dem Kontinent wiedererlangen, wird auf größeren Wandel in der Welt warten müssen, und natürlich auf eine Welle kollektiver Aktionen von unten, die das Feld der denkbaren und der möglichen Transformationen verändern. Soweit dies nicht geschieht, würde Lateinamerika ein Szenario von Pendelschläge zwischen kurzfristigen Siegen des Volkes und kurzfristigen Siegen der Konservativen, zwischen kurzfristigen Niederlagen des Volkes und solcher der Oligarchien sein.


Das ursprüngliche Interview führte die kolumbianische Politologin, Feministin und Aktivistin Tamara Ospina Posse. Übersetzung und Zusammenfassung: Robert Lessmann

Zahlreiche Beiträge zur politischen Situation in Bolivien, dem Heimatland von García Linera, finden sich weiter unten in diesem Blog.

von © Robert Lessmann Dr 07 Jan., 2024

Es war Anfang des letzten Jahrzehnts in der Wiener UNO City. Juri Fedotow, ehemaliger Vizeaußenminister Russlands und diplomatisches Schwergewicht, war unlängst Chef des Drogenkontrollprogramms der Vereinten Nationen (UNODC – United Nations Office on Drugs and Crime) geworden, ein Posten, den er von 2010 bis 2020 innehatte. Als solcher leitete er höchstpersönlich eine Pressekonferenz, auf der eine internationale Initiative zur Drogenbekämpfung in Afghanistan vorgestellt wurde. Mit 123.000 Hektar war das Land am Hindukusch zum mit Abstand größten Produzenten geworden. Mit einem ausgewogenen Ansatz („balanced approach“) sollten unter anderem die Bauern vom Schlafmohn weg zur Produktion legaler Alternativen geleitet werden. Vielversprechend war vor allem die Beteiligung der Nachbarländer an Kontrollmaßnahmen und Fahndung, denn Afghanistan ist ein Binnenland. Der Weg auf die lukrativen Absatzmärkte führt über die Grenzen. Von den wichtigsten Anbauregionen im Süden (Provinzen Helmand und Kandahar) wurde der Export zu etwa zwei Dritteln nach Westen in den Iran und die Türkei abgewickelt, und dann über die Balkanroute nach Europa. Zu etwa einem Drittel  ging die illegale Ware über Hunderte von Kilometern auf einem prekären, gleichwohl aber übersichtlichen Straßensystem (Dschungel gibt es keinen) und über eine Handvoll Grenzübergänge in die ehemaligen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan nach Norden. Ehemalige Ostblockländer – allen voran Russland – waren inzwischen ebenfalls zu wichtigen Absatzmärkten vor allem für minderwertige Ware („Kompott“) geworden. Kein Vergleich also zu südamerikanischen Kokainspediteuren, die mit Flugzeugen, Hubschraubern und U-Booten operieren. Doch nicht einmal dies zu unterbinden gelang: Beschlagnahmungen in Afghanistan gingen gegen Null und Korruption spielte eine wesentliche Rolle dabei.


Fundamentales Scheitern

Zurück zur Pressekonferenz, an deren Ende niemand eine Frage stellte. Um das peinliche Schweigen zu durchbrechen, fragte ich, wer sich denn mit welchen Summen der Initiative angeschlossen habe - und vergrößerte damit die Verlegenheit. Bislang hatte die neue Strategie nämlich noch keinerlei zählbare Unterstützung verbuchen können.


Dass die westliche Sicherheitskooperation fundamental scheitern würde, hatte man im Drogenbereich lange vor der „überraschenden“ Machtübernahme durch die Taliban im Sommer 2021 sehen können. Als Juri Fedotow den Chefsessel des UNODC übernahm, war Afghanistan mit 123.000 Hektar bereits der mit Abstand wichtigste Schlafmohnproduzent. Und während die legale (Land-) Wirtschaft keinerlei Dynamik­ entfaltete, kletterte der Anbau weiter von einem Rekord zum nächsten, gebremst nur durch Marktsättigung und gelegentliche Missernten, etwa durch Trockenheit, wie in den Jahren nach dem Allzeithoch von 2017.


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Schlafmohnproduktion in Afghanistan (Hektar in ausgewählten Jahren)

1995  2000  2001 2002    2010     2017    2020   2022  2023

55.759 82.171 7.606  74.100   123.000   328.000  224.000 233.000 10.800

Quelle: UNODC: World Drug Report, Vienna, verschiedene Jahrgänge und UNODC: Afghanistan Opium survey 2023.

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Heute wirbt das UNODC abermals um Unterstützung für Afghanistans Bauern, um den drogenpolitischen Erfolg zu stabilisieren. Beides hat freilich nur geringe Aussichten auf Erfolg, denn das Emirat der Taliban ist Schlusslicht bei allen Menschenrechtsstandards, bekanntermaßen insbesondere was die Lage der Frauen betrifft, und wird von Gebern gemieden. Ihr Dekret „Prohibition of Poppy Cultivation and All Types of Narcotics“ vom 3. April 2022 umfasst nicht nur Anbau, sondern auch Konsum, Transport, Verarbeitung, Handel, Import und Export – und zwar aller Drogen. Am 8. März 2023 wurde es durch ein explizites Cannabis-Verbot noch einmal bekräftigt. Ein solches Verbot galt zwar auch schon vorher unter westlicher Aufsicht. Offenbar aber verfügten die Machthaber damals über geringe Autorität, Legitimität oder politischen Willen. Jedenfalls sind nach dem Dekret der Taliban die Anbauflächen von 233.000 Hektar (2022) auf 10.800 Hektar (2023) zurückgegangen. Umgerechnet in Opium entspricht das einem Rückgang von 6.200 Tonnen auf 333 Tonnen, in Heroin rein rechnerisch von 350-480 Tonnen auf 24-38 Tonnen (bei einer durchschnittlichen Reinheit der Exportware von 50-70 Prozent).


Für die leidgeprüften Menschen und die kollabierte Volkswirtschaft bedeutet das eine riesige Herausforderung. Schon vor der abermaligen Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war die Hälfte der Bevölkerung auf externe Hilfe angewiesen, und die Nahrungsmittelimporte waren genauso hoch wie die Eigenproduktion. Doch für diese Importe fehlt nun das Geld. Afghanistans Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist während der Herrschaft der Taliban gesunken: Um 20,7 Prozent im Jahr 2021 und um weitere 3,6 Prozent in 2022. Fast 80 Prozent der Bevölkerung leben von der Landwirtschaft, die in den letzten Jahren auch noch von Wasserknappheit betroffen war. Man durchlebt dort gerade einen weiteren Hungerwinter. Die Vereinten Nationen schätzen, dass der Rückgang der Schlafmohnproduktion für die bäuerlichen Produzenten Einkommenseinbußen von 1.360 Mio. US Dollar (USD – 2022) auf nunmehr 110 Mio. USD (2023) bedeutet. Eine schnelle Umstellung auf Weizen wäre problemlos möglich, für die defizitäre Nahrungsmittelversorgung wichtig und lässt sich in der Tat auch vielfach beobachten, brächte aber Einkommenseinbußen von rund 1 Mrd. USD mit sich. Im Jahr 2022 machten die Einkommen aus dem Opiumanbau 29 Prozent des gesamten Agrarsektors aus. Für die krisengeschüttelte afghanische Volkswirtschaft lagen die Exporterlöse des Opiumsektors stets über denen der legalen Exporte von Gütern und Dienstleistungen. Im Jahr 2021 betrugen sie schätzungsweise zwischen 1,4-2,7 Mrd. USD, was 9-14 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts entsprach, heute liegen sie bei 190-260 Mio. USD. Ob sich diese Einbußen auf Dauer verkraften lassen? Bei einer Gesamtbevölkerung von rund 40 Millionen Menschen stellt die Abschiebung von 4,4 Millionen aus Pakistan in ihr Heimatland eine zusätzliche Herausforderung dar. Und nun will auch der Iran afghanische Flüchtlinge loswerden. Das Opiumgeschäft war Afghanistans wichtigster und sicherster Wirtschaftszweig und fungierte so auch als Kreditsicherheit. Die Vereinten Nationen berichten, dass Bauern nun eine im Rahmen der „Alternativen Entwicklung“ geplante Umstellung auf einträglichere Produkte als Weizen, wie zum Beispiel Granatapfel, Mandeln, Pistazien und Asant, mangels Liquidität nicht mehr schaffen, denn die erfordert Investitionen und Geduld.


Unklare Konsequenzen

Bei der verbleibenden Schlafmohnproduktion im Land, vor allem in der Provinz Kandahar, lässt sich ein Trend zu kleineren, versteckten Flächen beobachten. In den vergangenen Jahren wurden 40-60 Prozent der Ernte in Form von Rohopium exportiert. Über die Qualität der Weiterverarbeitung zu Heroin im Lande selbst ist wenig bekannt. Sie dürfte stark variieren. Während die Herstellung von Heroin in Afghanistan allem Anschein nach zurückgeht, deutet vieles darauf hin, dass Händler nun Lagerbestände verkaufen – und die dürften nach Ansicht des UNODC nach mehreren aufeinanderfolgenden Rekordernten beträchtlich sein. Die allermeisten Bauern verkaufen ihre Ernte aber direkt und nur wenige verfügen über solche Bestände. Die Verknappung dürfte also nicht zuletzt größeren Produzenten und Drogenhändlern zugute kommen. In der Tat waren die farmgate-Preise für ein Kilogramm getrocknetes Opium im August 2023 mit 408 USD fünfmal höher als zwei Jahre vor der Machtübernahme durch die Taliban, als die Preise aufgrund immer neuer Rekordernten relativ niedrig waren.


Um die Auswirkungen auf den internationalen Drogenmärkten abzuschätzen sei es noch zu früh, sagt das UNODC. Normalerweise braucht es ein bis zwei Jahre, bis die Opiate zu den Konsumentenmärkten gelangen. Und auf dem Weg dorthin, dürfte es reichhaltige Lagerbestände geben. Theoretisch wäre eine Angebotsverknappung, ein Preisanstieg und sinkende Reinheit der Ware denkbar. Auch eine Hinwendung der Konsumenten zu billigeren und potenteren synthetischen Ersatzdrogen wie Fentalyl wäre zu befürchten. Fentanyl ist 100 Mal potenter als Morphin und wird häufig dem Heroin auch beigemischt. Fentanyl-Überdosen sind heute die häufigste Todesursache für US-Amerikaner zwischen 18 und 45 Jahren. Europa ist davon weit entfernt, doch Probleme mit Fentanyl nehmen auch hier zu.


Schließlich könnten mittelfristig andere Anbaugebiete die Lücke füllen. Bevor afghanische Mudschaheddin-Gruppen in den 1980er Jahren Opium als probates Produkt zur Finanzierung ihres Kampfes gegen die sowjetischen Besatzer entdeckten – und der Westen dies augenzwinkernd tolerierte – hatte der Anbau von Schlafmohn dort keine Rolle gespielt. Als die Taliban 1996 zum ersten Mal in Kabul einmarschierten erzeugte Afghanistan bereits zwei Drittel des Weltopiums. Beim vormaligen Marktführer Myanmar bröckelt heute die Herrschaft der Militärdiktatur. So erfreulich das ist, ein Machtvakuum würde ideale Bedingungen für eine mögliche Rückkehr der Drogenwirtschaft zu alter Größe dort schaffen. Myanmar ist schon heute wieder Nummer eins bei der Opiumproduktion. Und in Afghanistan selbst expandiert derweil die Produktion von Metamphetamin.


Wie dem auch sei: Ein erstes Anbauverbot durch die Taliban in den Jahren 2000/2001 hatte auf den Konsumentenmärkten keine Auswirkungen. Damals hatte man vermutet, die Taliban würden diese Maßnahme setzen, um auf der Grundlage voller Lagerbestände die Preise zu stabilisieren. Ob es ernst gemeint war, konnte man nicht mehr feststellen, denn Ende 2001 waren die Taliban durch die Operation „Enduring Freedom“ vertrieben und die Regierung Hamid Karzai auf der Petersberger Konferenz installiert. Der Opiumanbau war damals tatsächlich von 82.171 auf 7.606 Hektar gefallen. Aber 2002 hatte er bereits wieder alte Größenordnungen erreicht. Schlafmohn ist eine einjährige Pflanze. Zwischen Aussaat und Ernte liegen nur einige Monate. Weshalb also sollten die Taliban den dürren Halm kappen, an dem die Volkswirtschaft noch hängt? Aus religiösen Gründen, sagen sie heute wie damals. Vielleicht ist es einfach ein Versuch, mächtige Lokalfürsten und Warlords an die Kandare zu nehmen, die vom illegalen Geschäft profitier(t)en. Eine Frist erlaubte im letzten Jahr noch den Verkauf der Ernte 2022. Wie auch immer: Die Entscheidung ist problemlos reversibel.

von © Robert Lessmann Dr 26 Nov., 2023

Mit einer unerwartet deutlichen Mehrheit von 55,7 Prozent gewann der politische Newcomer Javier Milei die Stichwahl um das Präsidentenamt. Wenn der selbsternannte „Anarchokapitalist“ am 10. Dezember die Amtsgeschäfte in der Casa Rosada in Buenos Aires übernimmt, so ist zu befürchten, wird das Land am Rio de la Plata neben der wirtschaftlichen Dauerkrise noch den Höhepunkt einer politischen Krise erdulden müssen. Lateinamerikanische Bündnis- und Integrationssysteme werden wohl geschwächt.


Buenos Aires. Martín, ein cartonero , der bereits im Morgengrauen unterwegs ist, sammelt auf seinem Karren Papier und Kartons. ‚Nein‘, sagt er, Hoffnung habe er keine, dass es nach den Wahlen besser wird. Aber schlechter könne es ja auch nicht mehr werden.“ So hatte ich eine Reportage vor den letzten Wahlen 2019 begonnen. Martín hat sich leider getäuscht. Armut und Misere haben seither weiter zugenommen. Ich brauche hier eigentlich nur die Ziffern zu korrigieren: Die Inflation ist von damals 50 auf heute 143 Prozent geklettert, die offizielle Arbeitslosigkeit ist von damals 10 Prozent leicht gesunken, dafür liegt die verdeckte bei über 40 Prozent, und über 40 Prozent der Menschen gelten als arm. Der gemäßigt linke Präsident Alberto Fernández, Wahlsieger von 2019, konnte praktisch keines seiner Versprechen einlösen und trat aktuell gar nicht erst wieder an. Sein Wirtschaftsminister, Sergio Massa, ging mit dem Manko ins Rennen, dass er mit dem Niedergang identifiziert wird. Trotzdem war er überraschend als Sieger aus dem ersten Wahlgang hervorgegangen, konnte dann aber nicht mehr zulegen.


Argentinien in der Dauerkrise

„Wir rechnen in Dollars“, sagt Antonia, die eine kleine Reiseagentur betreibt. „Alles andere wäre verrückt bei dieser Inflation.“ Ein Dauerthema im Heimatland des Revolutionärs Ernesto „Che“ Guevara, der 1928 in der Industriestadt Rosario geboren wurde. Als der aufwuchs, zählte Argentinien zu den reichsten Ländern der Welt. Seine landwirtschaftlichen Exporte waren besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gefragt. Eine Diversifizierung der Wirtschaft blieb aber aus. Die Militärdiktatur (1976-83) häufte einen Schuldenberg an. Aus der Schuldenfalle kam man nie mehr heraus. Als in den 1980er Jahren die „Verschuldungskrise der Dritten Welt“ das internationale Bankensystem an den Rand des Zusammenbruchs brachte, gehörte Argentinien zusammen mit Brasilien zu den meistverschuldeten Ländern. Die Auslandsguthaben reicher Argentinier waren schon damals höher als die Rekordverschuldung des Landes. Daran hat sich im Wesentlichen nichts geändert und so taumelt Argentinien von einer Krise in die nächste. Das neue Jahrtausend begann bereits mit dem Zusammenbruch des Finanzsystems. Unter Néstor Kirchner folgten ab 2003 auf der Grundlage hoher Rohstoffpreise stabile Jahre mit Lohnerhöhungen, Sozialprogrammen und Politiken der Importsubstitution. Dem Peronisten gelang 2005 auch eine spektakuläre Umschuldung eines Teils der Verbindlichkeiten, wobei Anleihegläubiger auf rund zwei Drittel ihrer Forderungen verzichten mussten. Die Auslandschulden hatten damals ein Rekordniveau von fast 200 Milliarden US Dollar erreicht. Heute sind sie mehr als doppelt so hoch. Unter seiner Frau Cristina kam es 2010 zu einer Neuauflage dieser Umschuldung in kleinerem Maßstab. Doch ab 2011 wurden bei sinkenden Exporteinnahmen die Budget- und Handelsbilanzdefizite wieder chronisch und 2014 schrammte Argentinien abermals knapp an der Staatspleite vorbei.


Bis auf wenige Ausnahmen regierten die linkspopulistischen Peronisten, mit einem breiten Spektrum durchaus wandelbarer Positionen bis hin zum neoliberalen Carlos Menem (1989-1999). Ab Dezember 2015 war der konservative Unternehmer Mauricio Macri Staatspräsident. Unter ihm fielen Devisenkontrollen und andere Regulierungen, mit denen Steuerhinterziehung und Kapitalflucht verhindert werden sollten. Seine „boys“ sprachen dieselbe Sprache, trugen die gleichen Anzüge und hatten dieselben Universitäten besucht wie die Manager der Finanzzentren in Washington und London. Der Internationale Währungsfonds gewährte neue Kredite, 2018 in der Rekordhöhe von 50 Milliarden US Dollar. Mit fresh money sollte die Konjunktur Fahrt aufnehmen, argentinisches Auslandskapital zurück gelockt und im Land investiert werden. Doch die Erwartungen auf einen Investitionsboom erfüllten sich nicht. Vielmehr machten Zinserhöhungen in den USA Auslandsanlagen noch attraktiver und sinkende Rohstoffpreise plagen Argentinien wie andere Schwellenländer. Wieder setzte eine Abwärtsspirale ein. Die Staatsverschuldung liegt bei 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und auch wenn Argentinien regelmäßig seine Verpflichtungen nicht erfüllt (oder erfüllen kann) ist es für die Finanzwelt too big to fail. Die Verschuldungsspirale dürfte sich also fortsetzen. Nachdem die Bevölkerung auch von den Peronisten enttäuscht war, hatte man bereits 2019 befürchtet, dass die extreme Rechte zulegen könnte. Doch setzte sich der gemäßigt linke Peronist Alberto Fernández durch. Der recht unorganisierten extremen Rechten fehlten damals die konservativen Steigbügelhalter. Als „mugre“ – Dreck – bezeichnete mein Taxifahrer mit deutlich italienischem Akzent die bolivianischen Arbeitsmigranten, deren Hütten vor den Toren von Buenos Aires den Weg zum Flughafen säumen: „Ich hasse sie!“ In der Verzweiflung hat die Suche nach Sündenböcken auch im Einwandererland Argentinien Konjunktur.


Kettensägenpolitik

Nachdem der im ersten Wahlgang zweitplatzierte Javier Milei das Mitte-Rechts-Bündnis Juntos por el Cambio (JxC) deutlich hinter sich gelassen hatte, sprachen dessen Kandidatin Patricia Bullrich und Expräsident Mauricio Macri ihre Unterstützung für den politischen Newcomer aus, dem jedwede Regierungserfahrung fehlt. Diese Stimmen aus dem konservativen Milieu dürften mindestens ein Viertel der insgesamt 55,7 Prozent ausmachen und entscheidend gewesen sein. Schon vorher, so sehen es viele Beobachter, räumte das konservative Establishment Milei ungewohnt breiten medialen Raum ein, um den politischen Diskurs nach rechts zu verschieben. (Ein Phänomen, das man auch diesseits des Atlantiks zum Überdruss kennt und vor dem man nicht genug warnen kann.)


Ob ihre Rechnung nun aufgeht und sie den Chaoten einhegen können? Wenn ja, wird das Ergebnis ein radikaler Neoliberalismus ohne soziale Abfederung sein, wie er bereits in den 1990er Jahren in Regierungskollaps und Staatsbankrott mündete. Wenn nicht, dann ist es ein Kopfsprung ins Ungewisse. Milei ist erst vor fünf Jahren mit ultralibertären Slogans und Provokationen hervorgetreten. Seine „Bewegung“ verfügt kaum über Struktur und Fachpersonal, aber über Kontakte zur rechtsradikalen spanischen VOX. Wollte er ursprünglich „alles privatisieren“, die Bürokratie und öffentliche Ausgaben „mit der Kettensäge bescheiden“, den Dollar einführen und die „Zentralbank in die Luft sprengen“, so hat er sich in den Wochen vor der Stichwahl eine gewisse verbale Mäßigung auferlegt. Ungeachtet dessen reiht er sich unter die ultrarechten, nationalistischen Marktschreier à la Trump und Bolsonaro ein, die den frustrierten Menschen den Lautsprecher machen ohne Lösungen anzubieten. So beleidigte der Katholik Milei den Landsmann, Papst Franziskus. Lula da Silva, den Präsidenten des wichtigsten Handelspartners, Brasilien, hat er als „Kommunist“ und als „korrupt“ bezeichnet. Auch der zweitwichtigste Handelspartner, China, ist für Milei „kommunistisch“ und unberührbar. Da wird er in Kürze den wirtschaftspolitischen Realitäten ins Augen blicken müssen.


Aber die Befürchtung ist, dass er den Peso absichtlich weiter absacken lassen könnte, um „zur Rettung“, wie angekündigt, den Dollar einzuführen. Ganz sicher sind Wissenschaft und Kultur, Arbeits-, Frauen-, Menschen- und Minderheitenrechte sowie der Umweltschutz in Gefahr. Last but not least werden der Staatsterror und die Menschenrechtsverbrechen der argentinischen Militärdiktatur von Milei und seinen Gefolgsleuten als „gewisse Exzesse“ relativiert oder gar geleugnet. Die Medien, so kündigte Milei nach seinem Wahlsieg an, sollen als "Propagandainstrumente“ sogleich privatisiert werden. Den menschengemachten Klimawandel leugnet er. Als Partner für die Erreichung der Klimaziele dürfte Argentinien ausscheiden. Seine erste Auslandsreise will Milei folgerichtig nicht wie üblich ins Nachbarland Brasilien machen, sondern bereits vor der Amtseinführung in die USA. Das verheißt nichts Gutes für den gemeinsamen Wirtschaftsraum MERCOSUR an sich - und als potentieller Partner für Europa. Und auch nicht für die links regierten Nachbarländer Bolivien und Chile. Eine Lithiumachse der drei Länder dürfte damit unwahrscheinlicher werden. Besonders mit Chile gab es entlang der 4.000 Kilometer langen gemeinsamen Grenze in der Vergangenheit immer wieder Konflikte.


Politisches Erdbeben

Alberto Fernández rief zu einer gründlichen Aufarbeitung des Wahldebakels auf. Das Lager der klassisch Konservativen ist bereits gespalten, denn ein Teil von ihnen war nicht bereit, das politische Abenteuer der Macri- und Bullrich-Fraktion mitzumachen, darunter Horacio Rodríguez Larreta, der scheidende Bürgermeister von Buenos Aires, wo nahezu ein Drittel der 45 Millionen Argentinierinnen und Argentinier leben.


Milei hat im Parlament keine Mehrheit. Mit 39 Abgeordneten verfügt er nur über die drittstärkste Fraktion. Mehrheiten wird er sich zusammensuchen müssen oder per Dekret regieren, was seinem Naturell ohnehin besser entsprechen dürfte. In seinen Reden ist viel von Freiheit die Rede, aber nie von Demokratie. Ob Argentinien in die Unregierbarkeit taumelt? So oder so kann er mit starkem gewerkschaftlichem und zivilgesellschaftlichem Widerstand rechnen.

von © Robert Lessmann Dr 14 Nov., 2023

Zwei „Parteitage“, zwei Parlamentsfraktionen und – unausgesprochen – zwei Präsidentschaftskandidaten für die 2025 anstehenden Wahlen. Das ist das traurige Bild, das die MAS allen Aufrufen zur Einigkeit zum Trotz derzeit abgibt. Der innerparteiliche Streit paralysiert das Parlament. Die fragmentierte und inhaltsleere Rechtsopposition – einzelne ihrer Parteien sind ebenfalls gespalten – tritt so gut wie nicht in Erscheinung und braucht eigentlich nur abzuwarten. Der Streit innerhalb der Regierungspartei überlagert alles. Umfragen sehen die beiden MAS-Fraktionen derzeit, das heißt 22 Monate vor den Wahlen, bei jeweils etwa 20 Prozent der Stimmen. Das reicht für keines der Lager, würde aber im Fall ihrer Einigung der Opposition reichen. Ein solches Szenario liegt näher, als es vielleicht aussehen mag. Mehrfach wurden in der Vergangenheit unter tätiger Mithilfe ausländischer Vertretungen solche Bündnisse auch über ideologische und programmatische Differenzen hinweg geschmiedet, um progressive Regierungen zu verhindern. Man denke nur an die Megakoalition unter dem Exdiktator Hugo Banzer (1997-2001). Die Protagonisten der MAS-Spaltung scheint das freilich wenig zu kümmern.


Was ist die MAS?

Was steht auf dem Spiel? Die bolivianische Gesellschaft ist hochgradig organisiert und die MAS verstand sich in Abgrenzung zu den Altparteien als politisches Instrument der sozialen Bewegungen: MAS/IPSP – Movimiento al Socialismo/ Instrumento Pol ítico para la Soberanía de los Pueblos . Hervorgegangen ist sie in den 1990er Jahren aus den kampfstarken Gewerkschaften der Kokabauern, die sich gegen die von den Vereinigten Staaten forcierte Zwangsvernichtung ihrer Felder wehrten. Ihr wichtigster Anführer war Evo Morales. Mit der Participación Popular von 1994 bekamen die Gemeinden auf dem Lande erstmals eigenen Rechtsstatus und Budgethoheit. Bereits 1995 beschloss die 12. Nationalkonferenz der Kokabauern die Schaffung eines eigenen Instrumento Político. Man empfand es als unbefriedigend, auf den Listen kleiner Linksparteien zu kandidieren. Bei den ersten Wahlen zu den neuen Gemeindevertretungen gewannen im Jahr 1996 Mitglieder der Kokabauerngewerkschaft alle Rathäuser im Anbaugebiet des Chapare. Bei den Parlamentswahlen 1997 gewann die kleine Izquierda Unida vier Direktmandate. Alle im Chapare, darunter mit 69 Prozent für Evo Morales das landesweit stimmenstärkste. Zwei Gründungskongresse scheiterten, bevor die MAS/IPSP im Jahr 1999 offiziell registriert wurde. Ihr gelang die Verknüpfung der sozialen mit der indigenen Frage und der nationalen Souveränität. Im krisengeschüttelten Andenstaat entwickelte sich die MAS in enger Verbindung mit dem Gewerkschaftsbund COB und der Landarbeitergewerkschaft CSUTCB rasch zum Kristallisationspunkt der Unzufriedenen und stand daneben mit ihrer Galionsfigur Evo Morales für die Verteidigung der nationalen Souveränität gegen die von außen oktroyierte Politik der Kokavernichtung und sonstige Bevormundungen. Die MAS wurde auf demokratische und organische Weise von unten zu einer Art Einheitspartei der sozialen Bewegungen. Bei den Parlamentswahlen vom 30. Juni 2002 wurde die MAS auf Anhieb zweitstärkste Partei, nur ganz knapp hinter dem neoliberalen Wahlsieger „Goni“ Sánchez de Lozada (heute im US-Exil wegen Menschenrechtsverbrechen verurteilt) – und war mithin in der Stichwahl um das Präsidentenamt. „Goni“ gewann und ging mit der gemäßigten Linken eine Koalitionsregierung ein. Doch die Krise dauerte an. Nach drei Präsidentenrücktritten ging schließlich die MAS mit einem Erdrutschsieg aus den Wahlen vom 18. Dezember 2005 hervor. Noch spektakulärer als deren absolute Mehrheit war der Absturz der Altparteien, von denen nur eine einzige noch den Sprung über die Dreiprozentklausel schaffte. Im Januar 2006 wurde Evo Morales als Präsident vereidigt. Vizepräsident wurde der Linksintellektuelle Álvaro García Linera.


Das kleine Land im Herzen des Halbkontinents wurde zum vielbeachteten Hoffnungsträger. Könnte die Entwicklung dort ein Vorbild sein? Nichts weniger als die „Neugründung Boliviens“ hatte man sich vorgenommen. Eine Regierung der sozialen Bewegungen wollte man sein. Bereits sechs Wochen nach Amtsantritt wurde ein Einberufungsgesetz zu einer verfassunggebenden Versammlung verabschiedet. Die neue Verfassung wurde dann 2009 erstmals durch eine Volksabstimmung angenommen. Bolivien wurde durch sie zum „plurinationalen Staat“. Soziale Rechte, Indígena-Rechte und die Rechte der Pachamama wurden darin festgeschrieben. Indigene Sprachen wurden auch Amtssprachen und die bunte Wiphala-Fahne gleichwertig neben die rot-gelb-grüne Nationalflagge gestellt. Die Nationalisierung der Kohlenwasserstoffressourcen vom 1. Mai 2006 spülte bei günstiger Konjunktur Devisen in die Staatskasse, die für eine Umverteilungs- und Sozialpolitik verwendet wurden. Die Armutsquote sank deutlich, die durchschnittliche Lebenserwartung stieg um Jahre. Ein bedeutender Teil der Unterschicht stieg in die untere Mittelschicht auf. Deren Binnennachfrage stabilisierte die Wirtschaft, auch als die Exporteinnahmen nach 2015 einbrachen. Grundlage war der Extraktivismus, insbesondere die Exporte von Erdgas. Grundlegende Strukturreformen unterblieben. Die Präsidentschaft von Morales war von einer Serie von Wahlen und Abstimmungen begleitet, was manche Beobachter als referenditis bezeichneten. Er hat sie alle mit absoluter Mehrheit gewonnen: eine bis dato in Bolivien unbekannte politische Stabilität.


Bis zum Februar 2016, als Morales durch ein Referendum den Artikel 168 der Verfassung ändern lassen wollte, der nur zwei Amtsperioden in Folge zulässt. Das Referendum ging knapp verloren. Morales ignorierte das Resultat und kandidierte 2019 erneut. Viele Bolivianerinnen und Bolivianer sahen sich nun durch ihn um das einmalige Demokratieerlebnis betrogen, das er ihnen zuvor beschert hatte. Die zersplitterte und inhaltsleere Opposition witterte Morgenluft.


Anfang vom Ende?

Trotz herber Verluste von etwa 14 Prozent gewann die MAS auch die Wahlen vom 20. Oktober 2019 mit deutlicher (rund 47 Prozent), aber nicht mehr mit absoluter Mehrheit. Die Frage war nun, ob sie zehn Prozentpunkte vor dem Zweitplatzierten liegen würde, was nötig ist, um eine Stichwahl zu vermeiden. Man fürchtete, die Opposition würde in diesem Fall geschlossen auftreten. Als am Wahlabend die Schnellauszählung angehalten wurde (nicht die amtliche), rief die Opposition: „Wahlbetrug!“. Büros der Wahlbehörde in verschiedenen Departements wurden angezündet. Ein vorschneller Bericht der OAS-Wahlbeobachter unterstützte diese Sicht. Proteste weiteten sich aus. Schließlich meuterte die Polizei und der Armeechef legte Morales den Rücktritt nahe. Am 10. November floh dieser zusammen mit dem Vizepräsidenten ins Exil nach Mexiko. Zwei Tage später füllte eine selbsternannte „Interimsregierung“ der politischen Rechten das Vakuum, an dessen Entstehung sie tatkräftig mitgearbeitet hatte. Das geschah unter Missachtung des vorgesehenen Prozederes, ohne ordentlich einberufene Sitzung und ohne Quorum. Abgeordnete der MAS, die im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit verfügte, wurden am Betreten des Gebäudes gehindert. Einige junge MAS-Abgeordnete, darunter der nun amtierende Innenminister, versuchten es unter körperlichem Einsatz dennoch. Die junge Parlamentspräsidentin Eva Copa hielt das Fähnlein der MAS dann monatelang gegen die repressive de facto-Regierung hoch, sah sich aber zu Kompromissen gezwungen, was ihr später zum Vorwurf gemacht wurde.


Die „Interimsregierung“ Añez machte keine Anstalten, Neuwahlen abzuhalten, und war ein Desaster auf der ganzen Linie. Sie ist heute Gegenstand mehrerer Strafverfahren. Ihr Innenminister ist bereits wegen Korruption verurteilt – und zwar in den USA. Schließlich erkämpften die sozialen Bewegungen durch Straßenblockaden Neuwahlen, aus denen am 18. Oktober 2020 erneut die MAS mit 55 Prozent der Stimmen und fast 27 Prozentpunkten Vorsprung als Sieger hervorging. Morales hatte aus dem Exil die Spitzenkandidaten nominiert. Sein langjähriger Superminister für Wirtschaft und Finanzen, Luis Arce, wurde Präsident. Sein früherer Außenminister David Choquehuanca Vize. (Die Basis hätte Choquehuanca favorisiert, doch den hatte Morales Anfang 2017 abgesägt, weil er sich nach dem verlorenen Referendum von 2016 als Kandidat ins Spiel gebracht hatte.) Nach deren Amtsübernahme kehrte Morales im Triumphzug aus dem Exil zurück und blieb Parteichef. Als solcher versuchte er in gewohnter Manier, die Geschicke des Landes und seiner Regierung zu lenken. Das konnte nicht gutgehen. Schon die Regionalwahlen von Anfang 2021 wurden für die MAS zum Misserfolg. Stichwahlen wurden durch MAS-Dissidenten gewonnen, die Morales nicht genehm gewesen waren. Und Eva Copa, die keinen aussichtsreichen Platz für eine Kandidatur erhalten hatte, weil Morales ihr vorwarf, mit der Regierung Añez zusammengearbeitet zu haben, wurde auf der Liste einer anderen Partei mit einem Rekordergebnis zur Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt, El Alto, gewählt.


In dem Maße, wie die Kritik am Expräsidenten wuchs, der aus dem sicheren Exil heraus jene kritisiert hatte, die daheim für ihn den Kopf hinhielten, wurde Morales’ Kritik an „seiner“ Regierung immer direkter und schriller. Morales warf ihr einen Rechtsruck und Paktieren mit der Opposition vor, nachdem man sich auf ein Verfahren zur Volkszählung geeinigt hatte. Zwölf Abgeordnete wurden aus der Partei ausgeschlossen, jegliche Kritik als „Verrat“ diffamiert. Als sich der junge Innenminister Eduardo del Castillo (Bild) im Jänner 2022 „erdreistete“, Maximiliano Dávila zu verhaften, der unter Morales Chef der Spezialkräfte für den Kampf gegen den Drogenhandel gewesen war, nun aber von der DEA gesucht wurde und sich auf der Flucht nach Argentinien befand, wurde er neben Vizepräsident Choquehuanca und zusammen mit dem Justizminister zum Lieblingsfeind. Morales verlangte immer wieder deren Rücktritt. Man beschuldigte sich gegenseitig, mit dem Drogengeschäft unter einer Decke zu stecken. Als die MAS-Parlamentsfraktion mit der Opposition ein Amtsenthebungsverfahren gegen del Castillo durchsetzte, wurde er von Präsident Arce umgehend wieder berufen. Schließlich hatte er sich nicht nur aktiv gegen die Machtergreifung der Rechten gewehrt. Er hatte zusammen mit dem Justizminister auch dafür gesorgt, dass die maßgeblich Verantwortlichen vor Gericht gestellt wurden, darunter eine ganze Reihe hoher Militärs.


Spaltung um jeden Preis?

So spalteten sich die MAS-Fraktionen in Senat und Abgeordnetenkammer und Meinungsverschiedenheiten wurden auch mal mit den Fäusten ausgetragen. Gleiches gilt seit August dieses Jahres für die sozialen Bewegungen, wo es heute jeweils eine Fraktion von evistas beziehungsweise arcistas gibt, stets mit Alleinvertretungsanspruch. Ihre Kongresse führten teilweise zu Tumulten.


Am 3. und 4. Oktober fand ein Parteitag der MAS statt, der erneut Evo Morales zum Parteichef und Spitzenkandidaten für die Wahlen 2025 nominierte. Die Parteiführung hatte ihn in Llauca Ñ anberaumt, Morales’ Hochburg im Chapare. Vom Selbstausschluss von Präsident und Vizepräsident war dort die Rede. Der „lider indiscutible“, wie ihn seine Anhänger nennen, hatte bereits zwei Wochen vorher erklärt, dass er „auf Druck der Basis“ wieder kandidieren werde. Die regierungsnahen Teile der MAS und der sozialen Bewegungen wiederum hielten Mitte Oktober in El Alto, ein cabildo (Rat, kein Parteitag) ab, bei dem sie der Regierung von Präsident Arce ihre Unterstützung versicherten und ihm eine Liste von Forderungen übergaben. Der Parteitag von Llauca Ñ wurde für nichtig erklärt. Der Gewerkschaftsbund COB hatte bereits unmittelbar danach erklärt, dass er dessen Beschlüsse nicht anerkennen würde. Schon am 7. September hatte der „Einheitspakt“ der sozialen Bewegungen die Einladung dazu für nichtig erklärt. Inzwischen wurde er vom Obersten Wahlgerichtshof auch für ungültig erklärt, weil die Einladung nicht gemäß der Parteistatuten erfolgt sei.


Der ehemalige Vizepräsident Álvaro García Linera sagte in einem Interview, man solle die Regierung Arce arbeiten lassen und warnte vor „elektoralem Selbstmord“. Morales bezeichnete ihn daraufhin als „falschen Analytiker“, der sich die indigene Bewegung zunutze mache und als „neuen Feind“. Andere Analysten hatten schon vor einiger Zeit vorgeschlagen, dass die alte Garde das Feld einer neuen Generation überlassen solle, die 2019/20 vor Ort die Demokratie verteidigt hatte: Adriana Salvatierra, Eva Copa, Gabriela Montaño und Diego Pary sind Namen, die dabei fallen. Der Prominenteste von ihnen, Senatspräsident Andrónico Rodríguez, gilt als evista , ist aber stets eher zurückhaltend und ausgleichend aufgetreten. Auseinandersetzungen um seine Wiederwahl hatten wochenlang das Parlament blockiert – unter anderem die Verabschiedung des Budgets. Die arcistas hatten eine Gegenkandidatin nominiert, aus Gründen der Genderparität, wie es hieß. Nunmehr ist er mit den Stimmen der evistas und der Opposition wiedergewählt, wobei man als Gegenleistung eine Neun-Punkte-Agenda der Opposition angenommen hat. Schon vorher war das Parlament paralysiert, während draußen Bürgermeister die Verabschiedung ihres Budgets verlangten. Unter anderem blockierten Opposition und evistas Mitte September einen Gesetzesentwurf gegen sexuelle Gewalt, der als Reaktion auf den Missbrauchsskandal des verstorbenen Jesuiten Alfonso Pedrajas eingebracht worden war, der in seinen Aufzeichnugen dutzendfachen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zugegeben hatte. Eva Copa sprach schon damals von einem golpe legislativo (einem parlamentarischen Putsch). Hoffnungsträger und Vorbilder sehen anders aus. Die Geschichte Boliviens und Lateinamerikas ist voll von fortschrittlichen Projekten, die durch caudillismo und Sektierertum gescheitert sind. Ob sich die Akteure ihrer Verantwortung vor der Gesellschaft und der Geschichte bewusst sind?

von © Robert Lessmann Dr 21 Sept., 2023

Man muss diese Farben gesehen haben: El lago , der See: Gesprenkelt von 41 Inseln. Im Osten flankiert von der Königskordillere, aus der am östlichsten Zipfel des Titicaca der mächtige Ill ampú mit 6.368 Metern herausragt. El lago , wo der Himmel so nah ist, dass man die Wolken herunterpflücken zu können glaubt; wo im Morgen- und Abendlicht das Blau des Wassers und des Himmels, wo die Pastellfarben der umgebenden Landschaft die unglaublichsten Nuancierungen annehmen. Ist es ein Wunder, dass zwei Hochkulturen diesen Platz als Mittelpunkt der Welt angesehen haben? Hat nicht der Schöpfergott Huiracocha , aufgetaucht aus den Tiefen des Titicaca -Sees, von der Sonneninsel aus die Sonne und von der Mondinsel aus den Mond ans Firmament befohlen?


Mit 3.810 Metern höchster schiffbarer See der Erde; sechzehnmal so groß wie der Bodensee. Dürre Superlative für diesen Platz, der wohl die meiste huaca hat. Huaca bedeutet für die Andenvölker soviel wie spirituelle Kraft. Ihre Lebenswelt (Berge, Hügel, Seen, Flüsse) war und ist für sie von Ahnengeistern, Achachilas oder Apus beseelt, von denen ihr Schicksal abhängt, mit denen sie sich gut stellen und denen sie opfern müssen. Je größer, eigenartiger, exponierter der Berg, der See, der Fels, desto mächtiger auch der ihm innewohnende Apu .


Die Kosmovision der Andenvölker ist nicht nur von allgegenwärtigen Gegensatzpaaren gekennzeichnet männlich/ weiblich, Tag/ Nacht, Inti / Pachamama , sie ist auch eine reziproke. Für alles, was Pachamama, die mehr Naturgesamtheit als einfach nur Mutter Erde ist, gibt, muss sie auch etwas zurückbekommen: So geht zum Beispiel der erste Schluck des Getränks stets an sie.


Die Anden sind, zusammen mit dem Himalaya, die gewaltigste Wetterscheide der Erde. Berge herrschen über Regen und Trockenheit. Ihre Gletscher bringen das lebenswichtige Wasser (noch immer) auch während der Trockenzeit. In der Tat: Aufstieg und Niedergang der Hochkulturen des Andenhochlands verliefen in erstaunlichem Maße parallel zu klimatischen Phänomenen: Die Herausbildung einer Landwirtschaft ab etwa 1.500 v. Chr. fiel mit einer feuchteren Periode zusammen, der Niedergang der Hochkultur von Tiwanaku (ab 1.100) mit einer Trockenheit, die bis ins 15. Jahrhundert hinein anhielt und die deren intensiven, künstlich bewässerten Feldbau infrage stellte. Die Sonne, die Berge und der See bestimmten ihr Schicksal.


Auch heute noch: 8.372 qkm Wasserfläche hat der Titicaca , und sein Pegel schwankt je nach Jahreszeit und Niederschlagsmenge um bis zu sechs Meter. Er hat 25 Zuflüsse. Der einzige Abfluss, der Rio Desaguadero im Süden, ist nicht während des ganzen Jahres wasserführend und trägt nur 5 Prozent zur Entwässerung des Sees bei. Der Rest ist Verdunstung durch den trockenen Wind und die starke Höhensonne. So kommt es zu einer allmählichen Versalzung und zunehmenden Umweltproblemen. Das Wasser verdunstet, Schadstoffe bleiben im See.


Austrocknen dürfte der an manchen Stellen fast 300 Meter tiefe See nicht so bald. Doch wegen der ausbleibenden Niederschläge nähert sich der Pegel des Titicaca - Sees mit 3.808,19 Metern derzeit dem historischen Tiefststand von 3.808,10 Metern (1996) an und es könnte noch weniger werden. Betroffen sind rund zwei Millionen Menschen, für die der See als Trinkwasserreservoir dient. Auch Fischfang, Tourismus und die Landwirtschaft leiden. Die Quinoa-Ernte – ein besonders eiweißhaltiges Andengetreide, das auch in Reformhäusern in Übersee Absatz findet – ist nach Angaben der Handelskammer des peruanischen Departements Puno um 90 Prozent eingebrochen.


Die Großstadt Puno (130.000 Einwohner) liegt direkt am See. Mit Juliaca (218.000 Einwohner, 85 Kilometer) und den bolivianischen Metropolen El Alto (850.000) und La Paz (760.000 beide ca. 130 Kilometer) liegen weitere Ballungsräume im Einzugsbereich. Während der bolivianische Vizeminister für Wasser noch Anfang September beruhigte, die Reserven seien auf optimalem Niveau, lud der Bürgermeister von La Paz, Iván Arias am 15. September zu einem Wassergipfel ein und eine persönliche Nachschau der Bürgermeisterin von El Alto, Eva Copa, bei den beiden wichtigsten Trinkwasserspeichern ergab, dass diese nur zu 50 bzw. zu 23 Prozent gefüllt sind. Während sich neben der Klimakrise nun auch das periodisch auftretende Wetterphänomen El Niño ankündigt, das neben großer Trockenheit oft auch katastrophale Starkregen bringt, nimmt die Nervosität zu. Brauchwasser solle verstärkt zum Einsatz kommen. Nachts soll der Wasserdruck in El Alto vermindert werden. Sieben von neun bolivianischen Departements sind aktuell von Trockenheit betroffen, 71 Gemeinden haben den Wassernotstand ausgerufen.


In Potosí wird bereits rationiert. Neben ausbleibenden Niederschlägen ist es dort vor allem die Belastung mit giftigen Abwässern aus dem Bergbau, die zur Wasserkrise beiträgt. In der Tat sind die Probleme seit Jahren bekannt: "Der Titicaca-See" erstickt in Algen", stand bereits vor einem Vierteljahrhundert in einigen Zeitungen. Das Problem beschränkte sich damals auf die flache Bucht von Puno, in die sich die ungeklärten Abwässer der Großstadt ergossen. Kläranlagen sollten Abhilfe schaffen.


Bereits im Jahr 1955 unterzeichneten die Regierungen von Peru und Bolivien ein Abkommen über die gemeinsame Nutzung des Titicaca – Wassers, zwei Jahre später folgte eine Wirtschaftlichkeitsstudie. Am 20. Februar 1987 wurde eine Subcomisión Mixta para el Desarrollo de la Zona de Integración del Lago Titicaca (SUBCOMILAGO) gegründet. Verlust der umgebenden Vegetation durch Überweidung und Erosion, Reduzierung der Wasservegetation (Totora-Schilf), abnehmende Fischpopulationen, Kontaminierung der Bucht von Puno durch biologische Abwässer und des Lago Poopó durch Schwermetalle: Das waren die wesentlichen Problemfelder die die bolivianisch-peruanische Kommission, SUBCOMILAGO, auf der Grundlage von Studien bereits Anfang der 90er Jahre identifiziert hat. Mit Unterstützung der Europäischen Union versuchte die binationale Kommission den Problemen zu begegnen: Verbesserung der Lebensbedingungen der Anrainer und Ressourcenschutz, vernünftige Wasserregulierung durch Kleindämme am Desaguadero in Verbindung mit bewässerter Landwirtschaft.


Überweidung, Verlust der Bodenfruchtbarkeit, Desertifikation: Vergleichbare Probleme treten im ganzen Andenraum auf. 60 Prozent des peruanischen Berglandes waren nach Schätzung des PROAGUA-Projekts der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (damals GTZ, heute GIZ) von der "Verwüstung" bedroht. Neben der Einführung geeigneter Techniken der Bewässerung und des Wassermanagements ging es bei PROAGUA (2015-2023) nicht zuletzt auch um Bewusstseinsbildung. Die Erfolge sind überschaubar, die Probleme nehmen zu.


Der Titicaca -See ist Teil des 56.000 qkm großen Titicaca -Beckens. Der Rio Desaguadero mündet nach 400 Kilometern in den Lago Poopó , der wie der Titicaca und der Lago Uro Uro , ein Überbleibsel des ursprünglich (gegen Ende der letzten Eiszeit) sehr viel größeren Sees ist. An diesen beiden Seen kämpften die letzten Uros und Chipayas ums Überleben, indianische Völker, die sich vom Fischfang und Wasservögeln ernähren. Vergeblich! Ungeachtet des Pachamama - Diskurses und der Umweltrhetorik der Regierung. In diesen kleineren Seen nahe der bolivianischen Minenstadt Oruro, waren die Umweltprobleme noch viel markanter, nicht zuletzt durch die Schwermetallbelastungen aus den Goldminen der Umgebung. Der Poopó -See wurde bereits im Jahr 2015 für ausgetrocknet erklärt. Die Reste des Uro-Uro sind von Plastikabfällen bedeckt.



von © Robert Lessmann Dr 24 Juli, 2023

Dass der Gipfel nach acht Jahren Abstinenz überhaupt stattfand ist sicherlich ein Erfolg per se, der nicht zuletzt dem brasilianischen Präsidenten Lula da Silva, beziehungsweise der Abwahl seines Vorgängers Jair Bolsonaro, geschuldet ist. CELAC – die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños) wurde Anfang Dezember 2011 in Caracas offiziell gegründet, noch unter dem bereits an Krebs erkrankten venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez – und zwar ausdrücklich ohne die USA und Kanada, also als Gegengewicht zu der von Washington dominierten OAS (Organisation Amerikanischer Staaten). Manche Analysten sehen darin eine Reaktion auf den von Washington unterstützten „Pyjama-Putsch“ 2009 in Honduras. Die 33 Mitgliedstaaten haben zusammen fast 600 Millionen Einwohner. Dass Brüssel heute mit der CELAC verhandelt ist zunächst einmal Ausdruck ihrer historischen Emanzipation von Bevormundungen aus dem Norden.


Deutliche Meinungsverschiedenheiten traten wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zutage. Die Europäer hätten gerne eine Verurteilung Russlands gesehen. Stattdessen wurde tiefe Besorgnis über den anhaltenden Krieg konstatiert, eine friedliche Lösung gefordert und die Einhaltung des Völkerrechts angemahnt – immerhin. CELAC erklärte sich solidarisch mit den Opfern, verschiedene Redner stellten den Konflikt in eine Reihe mit anderen, zum Beispiel dem in Palästina. Russland wird im Abschlussdokument nicht genannt. Insbesondere Nicaragua, Venezuela und Kuba hatten sich gesträubt. Letztlich verweigerte aber nur Nicaragua die Unterschrift. Andererseits fand der chilenische Präsident Gabriel Boric klare Worte zum russischen Krieg gegen die Ukraine. Es gehe hier nicht um Sympathie oder Antipathie, sondern um einen Verstoß gegen das Völkerrecht, und zwar durch den Angreifer: Russland. Heute sei es die Ukraine, aber morgen könne es jeder von uns sein, sagte er an seine Kolleginnen und Kollegen gerichtet.


Aber alle zusammen sind es leid, nach der Pfeife des Westens zu tanzen. Schließlich ist man lange genug den Taktgebern aus Washington gefolgt. Und während sich auch Europa nach deren Rhythmus bewegte – seien es diverse Sanktionen oder die umgehende Anerkennung der gescheiterten Parallelregierung unter Juan Guaidó in Venezuela – hatte Moskau die sogenannten progressistischen Regierungen unterstützt. Der scheidende argentinische Präsident Alberto Fernández hatte auch die historische Schuld Europas an Sklavenhandel und Kolonialismus angesprochen. Angesichts der Diversität der Lateinamerikaner (von denen AMLO aus Mexiko fehlte und Daniel Ortega aus Nicaragua, ebenso „Interimspräsidentin“ Dina Boluarte aus Peru; anwesend war dagegen Miguel Díaz-Canel aus Kuba) sicherlich ein diplomatischer Kompromisserfolg. Der bolivianische Präsident Luis Arce erklärte anschließend seinen Landsleuten, dass es nicht einfach sei, zwischen 60 Delegationen (33 aus CELAC und 27 aus der EU) zu einem Konsens zu kommen. Dazu sei viel politische Reife nötig.


Die wurde freilich aus Europa mit der Ankündigung von Investitionen in Höhe von 45 Milliarden Euro (davon 9 allein von Pedro Sánchez aus Spanien) gefördert. Bei diesem Punkt blieb Arce, der Präsident des Landes mit den größten Lithium-Vorkommen, freilich sehr deutlich: Lithium gebe es für alle, die sich an die Regeln halten. In seinem Land müsse auf allen Ebenen der Staat in Gestalt des Staatsunternehmens Yacimiento de Litio Bolivianos beteiligt sein. Schließlich seien die Rohstoffe hier laut Verfassung Eigentum des Volkes, verwaltet vom Staat. Zur Erinnerung: Die Europäer hatten sich erst im November 2019 durch ihr (im besten Falle tollpatschig zu nennendes) Verhalten beim Sturz von Präsident Evo Morales und der kurzfristigen Machtergreifung der Rechten selbst aus der Pole-Position geschossen. Das Geschäft machen nun einmal mehr chinesische Investoren.


Der große weiße Elefant im Raum

Dass hierzulande die selbsternannten Anwältinnen und Anwälte der „Normaldenkenden“ auf Kriegsfuß mit Begrifflichkeiten stehen, dürfte hinreichend bekannt sein. Die Frage ist, ob sie tatsächlich so schlampig denken, wie sie sprechen. Kanzler Karl Nehammer jedenfalls ließ sich im Vorfeld des Gipfels vom ORF mit dem Hinweis zitieren, dass es ja ein Veto des Parlaments gegen MERCOSUR gebe. Das gibt es natürlich nicht. Gemeint dürfte er damit den Entwurf eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und dem MERCOSUR haben. Dieser südamerikanischen Freihandelszone gehören zwar nur vier der 33 CELAC– Staaten an, aber mit Brasilien und Argentinien (neben Paraguay und Uruguay) eben zwei politische und wirtschaftliche Schwergewichte. So wurde in Brüssel zwar nicht darüber verhandelt, doch das Thema war ständig präsent und es gab am Rande dazu einen Dialog der Außenminister.


Bereits seit 24 Jahren verhandelt die EU mit dem MERCOSUR über ein Freihandelsabkommen, das einen gemeinsamen Markt für mehr als 700 Millionen Menschen schaffen würde. Das Veto der österreichischen Parlamentsmehrheit gegen den vorliegenden Entwurf zeigt die vielen unterschiedlichen Interessen, die im Spiel sind: Einerseits geht es um den Schutz der heimischen Agrarlobby vor vermeintlichen Billigimporten, vor allem von Rindfleisch und Futtermitteln auf Soyabasis. Andererseits befürchten Umweltschützer eine weitere Abholzung der Regenwälder, die gerade zu deren Produktion nötig sei. Noch grundsätzlichere Kritik stellt überhaupt das dahinter stehende Wachstumsdenken in Frage: Stichwort Lithium für Elektroautos statt neuer Mobilitätskonzepte. Den Europäern gehe es bei ihrer Charmeoffensive in erster Linie um Rohstoffe. Nutznießer seien vor allem transnationale Automobil- und Agrarkonzerne. Die Südamerikaner wiederum wehren sich gegen Bevormundungen und wollen sich nicht auf den Status von Rohstoffexporteuren reduzieren lassen. Lula da Silva etwa will das Abkommen forcieren, nennt den vorliegenden Entwurf der EU vom März diesen Jahres aber „inakzeptabel“. Eine strategische Partnerschaft lasse sich nur mit Vertrauen aufbauen und nicht mit Sanktionsdrohungen. Gerade die sind aber Umweltschützern wichtig für den Fall einer erneuten Präsidentschaft von Politikern vom Zuschnitt Bolsonaros. Vor allem wegen dessen Umweltbilanz lagen die Verhandlungen seit 2009 auf Eis. Brasilien will nun einen verbesserten Entwurf vorlegen. Die Fortsetzung der Verhandlungen wird bereits für August erwartet.


Zwischenbilanz


In Lateinamerika fand der Gipfel große Aufmerksamkeit. Vielleicht weniger euphorisch als in Europa sieht man ihn auch dort als „Anfang von etwas Neuem“. Konkrete Ergebnisse habe man auch gar nicht erwartet. Viel sei von „Augenhöhe“ und von „Dialog unter Gleichen“ die Rede gewesen. Wie weit das trägt, ob es gar für den Bau einer „Brücke der Brüderlichkeit“ reicht, wie es der bolivianische Präsident Arce formulierte, wird an den Akteuren diesseits und jenseits des Atlantiks liegen. Dort erwartet man als Voraussetzung, dass dies auf der Basis der Anerkennung von Souveränität und Selbstbestimmung geschieht, und ein größerer Teil der Wertschöpfung in den Erzeugerländern verbleibt. Denn dass die europäische Charmeoffensive von der Suche nach Rohstoffsicherheit getrieben und die „Wiederentdeckung Lateinamerikas“ durch die geopolitische Zeitenwende bestimmt ist, blieb nicht verborgen. Doch auch die Lateinamerikaner wollen ihren Reichtum an Rohstoffen verwerten. In Kommentaren zum Gipfel wird gefragt ob es gelingt, CELAG zu einer artikulations- und handlungsfähigen Gemeinschaft zu verfestigen. Angesichts der Herausforderung, zu einer neuen Weltordnung zu finden, wird allseits das Bekenntnis zum Multilateralismus hervorgehoben, das vom Gipfel ausging.

Im letzten Jahrzehnt haben ausländische Direktinvestitionen in erneuerbare Energien in Lateinamerika jene in Kohlenwasserstoffe übertroffen. Tendenz steigend. Und 75 Prozent dieser Investitionen in erneuerbare Energien kamen aus Europa. Unter den vorhandenen Alternativen scheint die EU nicht die schlechteste, auch hinsichtlich eines überfälligen wirtschaftlichen Umbaus.


von @ Robert Lessmann Dr 31 Mai, 2023

Willkommen in Wien, Herr Padura. Sie werden hier zum Thema „Der Charme der Bücher“ sprechen. Worin besteht der?



Lesen erschließt die Möglichkeit zur Veränderung. Bücher haben nicht nur Personen verändert, sondern die Welt. Literatur kann Wissen und Erfahrung vermitteln, Formen, die Realität zu verstehen. Eine Form von Literatur ist der Roman. Und der Roman erlaubt außerdem, nicht nur die Realität zu verstehen, sondern versucht zu erklären, wie die Menschen sind, wie sie denken, was sie fühlen. Ich glaube, das ist der große Charme, den die Bücher haben können. Milan Kundera hat einmal gesagt, der Daseinszweck der Bücher sei die Erforschung des menschlichen Wesens. Und ich stimme dem voll und ganz zu.


Ihre Bücher handeln hauptsächlich von Kuba. Ist das die wichtigste Perspektive?


Meine Arbeit, meine Form, das Leben zu verstehen, mich mit den Menschen zu verbinden, ist von einer Kultur geprägt und das ist die kubanische Kultur, der ich angehöre. Vor 13 Jahren gab mir Spanien die Staatsbürgerschaft. Ich habe auch einen spanischen Pass, und einige Journalisten fragten mich: „Nun, wo Sie doppelte Nationalität haben…“ Und ich sagte: „Nein, ich habe doppelte Staatsbürgerschaft“. Staatsbürgerschaft ist eine juristische Kategorie. Die Nationalität ist eine Zugehörigkeit. Und ich gehöre zu einer Kultur, der kubanischen.


In meiner Literatur gibt es Episoden, die an anderen Schauplätzen stattfinden. „Der Mann, der Hunde liebte“ spielt in Russland, der Türkei, Frankreich, Norwegen, Mexiko und Kuba, aber alles fängt mit Kuba an und hört mit Kuba auf. Die Vision, die Perspektive dieses Romans ist von Kuba aus. Es gibt eine Person, die die Geschichte empfängt und aus einer kubanischen Perspektive weitererzählt.


Sie sind im Oktober 1955 geboren und haben das ganze Leben mit der kubanischen Revolution (1.1.1959) gelebt, einem Prozess mit verschiedenen Phasen, das halbe Leben in der Krise, der sogenannten „Spezialperiode“. Wie nehmen Sie diese Prozesse wahr?


Die ganze Zeit seit 1959 ist von einem revolutionären Prozess gekennzeichnet, der sehr tiefgreifend war, weil er die wirtschaftlichen und politischen Strukturen grundlegend veränderte. Das Land ist nach 1959 ein anderes geworden und das hat auch die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert. Wir sind durch verschiedene Etappen gegangen. In den 1960er Jahren gab es große Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen, eine neue Institutionalisierung des Landes, sehr nach sowjetischem Vorbild, Veränderungen einschließlich der Beziehungen zwischen den Personen. Und das rief verschiedene Reaktionen hervor. Zum Beispiel in der Kultur gab es in den 1970er Jahren eine große Repression, von der ich in meinem neuen Roman „Personas Decentes“ erzähle, der im kommenden Jahr auch auf Deutsch erscheinen wird. (Der Titel auf Deutsch steht noch nicht fest.)


In den 1980er Jahren erlebte das Land die besten Momente. Die Leute bekamen für ihren Lohn etwas zu kaufen. Aber am Ende des Jahrzehnts fiel die Berliner Mauer und die Sowjetunion bracht zusammen. Für uns begann damit eine kritische Zeit, die euphemistisch „Spezialperiode“ genannt wurde, die aber eine Krise aller Bereiche war. Für meine Generation zerschlugen sich viele Möglichkeiten und Hoffnungen.


Darauf folgte eine seltsame Epoche, wo die Wirtschaft sich nicht erholte und die Gesellschaft zunehmend gespalten wurde. Heutzutage leben die Menschen in Kuba je nach ihrem Zugang zu Geld, was nicht heißt, dass sie mit ihrer Arbeit zu Geld kämen. Manche ja, andere spekulieren – und wieder andere bekommen von ihrem Bruder aus den Vereinigten Staaten 500 Dollar und leben damit besser, weil ein durchchnittlicher Monatslohn bei umgerechnet 20 Dollar liegt. Wenn dir jemand 100 Dollar schenkt, sind das fünf Monatslöhne. Wir erleben einen Moment großer Hoffnungslosigkeit im Hinblick auf die Zukunft.


Da von handelt der neue Roman?


Es geht um zwei historische Momente. Um 1909/1910 herum, kurz nach der kubanischen Unabhängigkeit, passieren viele Dinge in der Gesellschaft. Es ist eine Zeit der Modernisierung, des wirtschaftlichen Aufschwungs, weil die Präsenz der USA sehr stark ist. Kuba geht aus dem Unabhängigkeitskrieg hervor und keine zehn Jahre später gibt es auf den Straßen von Havanna mehr Automobile als in Madrid und Barcelona zusammen. Havanna wächst, und im Zentrum dieser Geschichte steht eine berühmte Person auf die alle schauen, ein Zuhälter, eine reale Person: Alberto Yarini, der italienische Wurzeln hat, aber 100 Prozent Kubaner ist. Um diese Figur herum entwickelt sich die Geschichte, die von einem jungen Polizisten erzählt wird, der im damaligen Rotlichtviertel von Havanna ermittelt. Und es gibt eine zweite Ebene: Im Jahr 2016 ermittelt Mario Conde andere Fälle. Warum 2016? Weil das auch so ein Hoffnungsmoment war. Im Jahr 2016 wurden die Beziehungen zu den USA wieder angeknüpft. Obama besuchte Havanna, die Stones und Chanel kamen nach Kuba. Die Hauptfigur ist im Grunde Havanna und was in diesen Momenten dort passierte. Die Geschichte dreht sich um die Hoffnungen der Menschen, die sich später auflösen.


Die Figur Mario Conde wird von Kollegen als Romantiker beschrieben, mit Widersprüchen, mit enttäuschten Hoffnungen, nostalgisch. Trägt er autobiographische Züge?


Mario Conde ist eine fiktive Figur. Ursprünglich Polizist in den ersten vier Romanen. Dann hört er auf, handelt mit Büchern aus zweiter Hand und betätigt sich als Detektiv. Er ist ein Mann meiner Generation mit den Erfahrungen des Lebens meiner Generation in Kuba und einer Reihe von Zügen, die seine sind, die aber meinen nahe kommen: Sein Gefallen an der Literatur, an Büchern, sein Verhältnis zu Freunden – sehr kubanisch, aber mit charakteristischen Eigenheiten. Zu romantisch für seine Arbeit. Er hat einen pessimistischen Charakter in Bezug auf die Wirklichkeit und eine Art, sich durch Ironie gegen die Aggressionen der Welt zu verteidigen, die ihn umgibt. Vor allem teilt er mit mir die Sicht auf die kubanische Realität aus der Perspektive eines einfachen Mannes. Mario Conde ist kein Intellektueller, hat keine herausgehobene politische oder wirtschaftliche Stellung. Er ist ein normaler, einfacher Mann und aus dieser Perspektive schaut er auf die Realität.


Viele „Kubanologen“ sehen in Ihren Romanen die besten soziologischen Studien über die zeitgenössische kubanische Gesellschaft, denn solche Studien im eigentlichen Sinne gibt es ja nicht. „Die Durchlässigkeit der Zeit“ führt die Leserinnen und Leser in eine Halbwelt der Homosexuellen, der „Palestinos“ („Palästinenser“ – halblegale Zuwanderer aus dem Osten der Insel) und der illegalen Geschäfte mit Kunstwerken. Haben Sie Probleme mit den Behörden bekommen, wenn Sie solche Themen aufgreifen?


In gewisser Weise versuche ich, eine literarische Chronik des zeitgenössischen Lebens in Kuba zu schreiben – ich betone: von der Literatur aus. Es gibt viele Perspektiven, über die Wirklichkeit zu schreiben: Historisch, soziologisch, journalistisch. In meinem Fall ist es romanhaft. Ich versuche also, diese fiktive Chronik des zeitgenössischen Lebens in Kuba zu schreiben. Im Fall der Romane mit Mario Conde zum Beispiel bin ich mit ihm durch die Jahre 1989 bis 2016 gegangen, zuerst als Polizist und dann als Verkäufer von Büchern aus zweiter Hand. „Der Mann, der Hunde liebte“ handelt von der Wahrnehmung der egalitären Utopie des 20. Jahrhunderts und vom Stalinismus. Mein Diskurs ist dabei nicht derselbe wie der offizielle kubanische. Das hat dazu geführt, dass ich als Schriftsteller in Kuba eine sehr geringe Sichtbarkeit habe. Ich stehe nicht in der Zeitung, bin nicht im Fernsehen oder im Radio präsent. Meine Bücher werden in Kuba wenig und schlecht publiziert. Aber ich habe alle möglichen Preise bekommen, einschließlich des kubanischen Literaturpreises. Das kubanische System ist weniger kompakt als das der Sowjetunion. Aber ich lebe in Kuba, schreibe über Kuba – doch wo ich die geringste mediale Präsenz habe, das ist in Kuba.


Aber in kulturellen und intellektuellen Kreisen liest man Sie?


Ja, durchaus. Viele Leute lesen meine Bücher. Aber sie lesen sie über die elektronischen Medien. Mein jüngstes Buch, „Personas Decentes“, kam in Spanien am 28. August letzten Jahres heraus und am 1. September gab es schon eine Raubkopie in Kuba im Netz.


Ich möchte auf das Thema der großen Einkommensunterschiede zurückkommen. In „Die Durchlässigkeit der Zeit“ wird Mario Conde in ein Restaurant im Stadtteil „El V e dado“ von Havanna eingeladen, über das er dann sagt, seine Freunde und Kollegen hätten keine Vorstellung, dass es so etwas überhaupt gibt. Ich habe persönlich auch den Eindruck, dass hier eine Neob o urgeoisie entsteht.


Ja, ja.


Und die wächst. Das stellt doch eine Herausforderung für das System dar. Wohin führt diese Entwicklung?


Wie sich das in Zukunft entwickeln wird, weiß ich nicht. Es ist sehr schwierig, die Zukunft vorherzusagen. Überall auf der Welt. In Kuba ist es nahezu unmöglich, weil uns Information fehlt. Die kubanische Gesellschaft ist ja sehr wenig transparent. Das System generell und besonders das Finanzsystem ist derart deformiert, dass man nicht weiß, was etwas kostet. Man kann einen Artikel finden um 40 kubanische Pesos und am anderen Tag zahlt man 40 Dollar dafür. Und auch das Verhältnis des Peso zum Dollar schwankt stark. Mal entspricht der Peso dem Dollar, dann liegt der Dollar bei 24 Pesos und am Schwarzmarkt bei 200. Im Augenblick gibt es Leute, die wegen ihrer Beziehungen oder wegen ihrer Fähigkeiten private Unternehmen besitzen, und einige davon machen viel Geld. Das Problem ist die Ineffizienz der kubanischen Regierung. Es passieren viele undurchsichtige Dinge, aber was ich spüre ist: Da bewegt sich eine Menge Geld von der wir nicht wissen wo es herkommt und wo es hingeht.


Ihr letzter Roman, „Wie Staub im Wind“, handelt von einer Gruppe von Freunden aus einer desillusionierten Generation, die sich auseinanderlebt. Fast alle möchten Kuba verlassen. Doch die Geschichte handelt auch von der Liebe als Verbindendem, der untereinander und der Liebe zu Kuba. Haben die Kubaner ein besonderes Verhältnis zu ihrer Insel?


Ja. Ich glaube wir Kubaner haben ein besonders inniges Verhältnis zu dem Land, zu dem wir gehören. Wie überall, denke ich. Das Problem ist, wenn man beschließt, irgendwo anders zu leben, sagen wir in Südafrika oder Europa, dass dies mit Schwierigkeiten verbunden ist. Mal durfte man überhaupt nicht raus, mal nicht wieder zurück. Eine Schlüsselfigur in meinem Roman sagt an einer Stelle: „Die Gründe zu gehen, sind triftig. Die Gründe zu bleiben, sind es auch.“ Darum geht es. Beides sollte man respektieren.

von © Robert Lessmann Dr 18 Apr., 2023

Vom 13.-17. März fand in der Wiener UNO-City die 66. UN C o mmission on Narcotic Drugs (CND) statt. Zum ersten Mal seit der Pandemie trafen sich die Delegierten aus aller Welt wieder ohne Einschränkungen. Mit Abstand ranghöchster Vertreter war der bolivianische Vizepräsident David Choquehuanca.


Der Mann aus dem Volk der Aymara trägt einen roten Poncho als er mit bedächtigen Bewegungen ans Rednerpult tritt und sein Glas hebt: „Milch“, sagt er nach einer längeren rhetorischen Pause zum Erstaunen der Zuhörer. „Die Milch der Mutter Erde, von der wir alle leben. Wir sind alle Brüder und Schwestern, alle gleich, aber auch unterschiedlich. Und nicht nur wir leben von der Milch der Mutter Erde. Auch die Tiere und Pflanzen.“ Und dann spricht er von der Harmonie im Kosmos und vom Kokablatt, das diese Harmonie perfekt verkörpere und das für die Andenvölker heilig sei: „Im Jahr 1961 hat die UNO Drogenkonvention einen historischen Irrtum begangen, ein Attentat auf die ursprünglichen Völker, indem sie das Kokablatt innerhalb der nächsten 25 Jahre zum Aussterben verurteilte. Auf dieses Urteil antwortete das Kokablatt: ‚Ich bin Tausende von Jahren alt. Ich bin Ausdruck des Lebens in perfektem Gleichgewicht‘, sagte es zur Konvention. ‚Ich bin Gesundheit, ich bin Nahrung, ich bin tausendjährig, ich bin unzerstörbar.‘“ Am Ende seiner Rede erhält er standing ovations von den gut hundert bei diesem side-event anwesenden NGO-Vertretern und Diplomaten.


Am Vortag, bei seiner Rede vor dem Plenum, war es unspektakulärer. Auch hier trug der ranghohe Gast einen roten Poncho, trat ansonsten aber ohne Showeffekte auf, erschien pünktlich und hielt sich fast genau an die fünfminütige Redezeit. Im Mai will Bolivien offiziell einen Antrag an den UNO-Generalsekretär stellen: Das Kokablatt soll aus der Liste No. 1 der UNO-Drogenkonvention von 1961 gestrichen werden, wo es zusammen mit Substanzen wie Kokain und Heroin aufgelistet ist und dem strengsten Kontrollregime unterliegt. Dazu wird ein Expertenkomitee der Weltgesundheitsorganisation WHO ein Gutachten erstellen und die Mitgliedsstaaten haben dann 18 Monate Zeit zur Formulierung von Einwänden, bevor der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) eine Entscheidung trifft.


Bereits im Jahr 2009 war Präsident Evo Morales nach Wien gekommen. Eine neue Verfassung hatte das Kokablatt soeben in Artikel 384 zum schützenswerten „andinen Natur- und Kulturerbe“ erklärt. Ein Kokablatt zum Mund führend hatte er damals im Plenum den Chef des UNO-Drogenkontrollprogramms UNODC aufgefordert: „Und nun müssten Sie mich eigentlich anzeigen. Und deshalb bin ich gekommen: Damit die internationalen Bestimmungen in Einklang kommen mit der Kultur meines Landes – und nicht umgekehrt.“ Auch da hatte es Applaus eines Teils der Delegierten gegeben. Rappelvoll war der Saal. Alle wollten den jungen, feschen, indigenen Präsidenten aus ärmsten Verhältnissen und mit den radikalen Ansichten sehen, der mit Verspätung kam, herausfordernd-provokativ und seine Redezeit deutlich überzog. Indes: Damals machte Bolivien unmittelbar einen Rückzieher und beantragte nur die Streichung zweier Unterparagraphen (Art. 49/1c und 2e) aus der Konvention, die ein Verbot von Konsum und Anbau des Kokablattes verlangen. Selbst dies scheiterte damals am Widerspruch einer Reihe selbsterklärter „Freunde der Konvention“. In einem Akt einmaliger Präzedenz trat Bolivien daraufhin als erstes Land am 1. Februar 2013 aus der UNO-Drogenkonvention aus – und unter Vorbehalt gegen die Artikel 49/1c und 2e wieder bei, wodurch das Kokablatt dort quasi unter Hausarrest steht. Der Export bleibt verboten. Geändert hat das am Status quo im Grunde nichts, denn bereits die UN-Konvention von 1988 hatte Anbau und Konsum ausnahmsweise gestattet, wo sie historisch und kulturell nachgewiesen sind. Das gilt neben Bolivien auch für Peru und indigene Territorien Kolumbiens.


Im gleichen Jahr 2009 erklärte eine Lateinamerikanische Drogenkommission um die Expräsidenten Zedillo, Gavíria und Cardoso, die rasch zu einer Internationalen Drogenkommission mutierte, die internationale Drogenpolitik für gescheitert und forderte Reformen. Doch der bolivianische Vorstoß blieb isoliert und auf halben Wege stecken. Abgesehen vom Kokablatt betrieb Bolivien eine sehr konservative Drogenpolitik und beteiligte sich auch nicht an der Internationalen Drogenkommission, deren Initiative immerhin in eine Sondergeneralversammlung (UNGASS 2016) zum Thema Drogen mündete, die „erweiterte Interpretationsspielräume für die Konvention“ einräumte, um sie als Ganzes zu retten. Im Jahr des bolivianischen Aus- und Wiedereintritts 2013 schuf Uruguay als erster Nationalstaat einen regulierten und legalen Markt für Cannabis. Etliche US-Bundesstaaten waren dem vorausgegangen und seitdem folgte eine Reihe weiterer Länder, die mit unterschiedlichen Modellen ihre Drogenpolitik am Rande oder jenseits der Bestimmungen der Konvention gestalten. Den Cannabis-“Legalisierungen“ gilt heute die Hauptsorge des INCB ( International Narcotics Control Board ), der UNO Wächterorganisation über die Einhaltung der Konventionen, und die USA, die stets Hauptprotagonist des „Drogenkriegs“ waren, sind heute mit der Eindämmung der Fentanyl-Krise beschäftigt, die Opfer in bisher unbekanntem Ausmaß fordert.


Sind also heute die Chancen für eine Entkriminalisierung des Kokablattes größer? Einerseits hat die Welt ganz andere Sorgen. Andererseits ist die herkömmliche Drogenpolitik in Bausch und Bogen gescheitert. Nach einem halben Jahrhundert angebotsorientiertem „Drogenkrieg“ liegen die Kokain- und die Heroinproduktion auf Rekordniveau. Das gilt auch für deren pflanzliche Ausgangsprodukte Koka (Bolivien, Kolumbien und Peru) bzw. Schlafmohn (Afghanistan, Myanmar). Eine wachsende Zahl von Ländern hält Prävention und Therapie inzwischen für zielführender als deren Bekämpfung, die eine Menge negativer Begleiterscheinungen hatte. „Drogenkonsum kann töten“, sagte der UNO Hochkommissar für Menschenrechte, der Österreicher Volker Türk, in seinem Videostatement zum Auftakt der diesjährigen Kommission: „Drogenpolitik aber auch“. Er wandte sich damit insbesondere gegen die Todesstrafe im Zusammenhang mit Drogendelikten. Doch jahrzehntelang waren auch die Kokabauern der Andenländer Zielscheibe des „Drogenkriegs“. Kolumbien, das einen hohen Preis an Menschenleben und Bauernvertreibungen bezahlt hat, kündigte unter dem Motto „paz total“ eine neue Drogenpolitik an, die in den Friedensprozess eingebettet sein soll und insbesondere die Bauern aus der Schusslinie nehmen will. „Wir sind es leid, die Toten zu stellen“, sagte Delegationsleiterin Laura Gil. Bogotá unterstützte explizit den bolivianischen Vorschlag. Und auf Initiative des mexikanischen Präsidenten López Obrador soll es im August in Bogotá eine internationale Konferenz zur Koordination dieser Politiken geben. Man darf gespannt sein.


Andererseits sind den durchaus radikalen Ankündigungen von Präsident Gustavo Petro zwar noch kaum Veränderungen gefolgt, aber elf einschlägige US-Delegationen, die zwischen Juli und Dezember 2022 Bogotá besuchten. Unterdessen gingen die Zwangseradikationen von Kokafeldern weiter. Zwischen August und Dezember 2022 wurden 23.000 Hektar vernichtet, ein Rhythmus vergleichbar mit dem der Regierung Duque in ihrem letzten Semester. Und Pedros Offerte an die Chefin des US Southern Commands, Laura Richardson, Waldbrände im amazonischen Regenwald gemeinsam zu bekämpfen, mag in Brasilia, Caracas und La Paz womöglich ungläubiges Staunen verursacht haben. Dieselbe Generalin Richardson übrigens, die sich in jüngster Vergangenheit wiederholt aufsehenerregend um den schwindenden US-Einfluss im Lithiumdreieck (Argentinien, Bolivien und Chile) gesorgt hatte. Die Monroe-Doktrin lässt grüßen. Man darf also doppelt gespannt sein, inwieweit die internationalen Initiativen ernst gemeint sind oder inwieweit sie sich primär an das heimische Publikum richten. Die bolivianische Delegation in Wien wurde von Vizepräsident David Choquehuanca und Innenminister Eduardo del Castillo angeführt. Ersterer gilt als stärkster innerparteilicher Widersacher des Expräsidenten und Kokabauernführers Evo Morales, der wiederum fast im Wochenrhythmus den Rücktritt von Letzterem fordert. Sympathien bei Morales’ Kernbasis, den Kokabauern, zu gewinnen könnte also zumindest ein willkommener Nebeneffekt ihres Besuches in Wien gewesen sein.

von © Robert Lessmann Dr 16 Feb., 2023

Ende Januar schaffte es Peru in die Schlagzeilen und die Hauptabendnachrichten: „Proteste in Peru laufen aus dem Ruder“, titelte der ORF. Papst Franziskus schloss Peru in sein Angelus-Gebet ein und der UNO-Hochkommissar sandte endlich einen Sonderbeauftragten nach Lima, der Aufklärung über Menschenrechtsverletzungen verlangte und darüber, wie sie künftig verhindert werden könnten. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Zahl der Todesopfer bereits mit etwa 50 beziffert, bis auf wenige Ausnahmen Zivilisten und getötet mit Waffen, wie sie das Militär verwendet.


An jenem Wochenende um den 20.-22. Januar 2023 hatten Protestbewegungen aus dem ganzen Land zu einem Sternmarsch auf Lima aufgerufen unter dem Motto: „Toma de Lima“, die Hauptstadt sollte „eingenommen“ werden. Der Marsch war deklariert als „Marcha de los Suyus“ – eine klare Anspielung auf die indigene Protestkomponente, hatte sich doch das Inkareich bis zur Conquista 1532/33 als Tawantinsuyu verstanden, als Reich der vier Regionen: Chinchay Suyu im Norden bis ins heutige Ecuador, Kunti Suyu an der Pazifikküste im Westen, das Qolla Suyu im Andenhochland einschließlich des heutigen Bolivien und das Anti Suyu in Amazonien. Doch diesen Kontext hatte die hiesige Journalistik weder im Auge, noch im Kopf, als sie sich besonders um den Tourismus rund um die ehemalige Inkahauptstadt Cusco sorgte und um Besuchergruppen, die in Aguas Calientes unterhalb der Ruinen von Machu Picchu festsaßen, weil die Bahnverbindung unterbrochen war. Blockaden von Straßen- und Eisenbahnverbindungen sowie Versuche, Flughäfen zu besetzen, dauerten zu diesem Zeitpunkt bereits seit sechs Wochen an. Die Proteste hatten vor allem im südlichen Hochland ihren Ausgang genommen, in den Provinzen Arequipa, Cusco und Puno am Titicaca-See. Doch inzwischen war in einem Drittel der Provinzen der Ausnahmezustand verhängt worden. Die gewalttätige Repression der Staatsmacht hatte sie nur umso mehr befeuert. Sie sind getragen von Gewerkschaftsorganisationen, Bauern, indigenen Organisationen, zunehmend auch von Studenten. Die Mittelschichten fehlen weitgehend (noch). Im Gegensatz zur Behauptung der Regierung, sie seien von Drogenhändlern, illegalen Minenarbeitern, Extremisten des „Sendero Luminoso“ (der seit drei Jahrzehnten als zerschlagen gilt) und vom benachbarten Bolivien gesteuert, scheinen sie weitgehend spontan gewesen zu sein. Es ist keine klare Führung auszumachen und die Forderungen sind uneinheitlich: Rücktritt der „Interimspräsidentin“ Dina Boluarte und Neuwahlen, Freilassung des abgesetzten Präsidenten Pedro Castillo, Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung sind die wichtigsten darunter. Eine zunehmend größere Rolle spielt auch die Forderung nach Bestrafung der Verantwortlichen für die harte Repression. Darüber hinaus herrscht auch eine profunde Ablehnung des politischen Systems und seiner Repräsentanten, wie sie im allgegenwärtigen Slogan „que se vayan todos“ – sie sollen alle abhauen – zum Ausdruck kommt.


Auslöser der Proteste waren der Sturz und die Verhaftung des gewählten Präsidenten Pedro Castillo am 7. Dezember 2022 nach nur 16 Monaten im Amt. Pedro Castillo ist ein Grundschullehrer und Gewerkschafter aus einer Kleinstadt der Region Cajamarca im Norden. Der politische Newcomer gehörte der sich als marxistisch-leninistisch bezeichnenden Partei „Perú Libre“ an und setzte sich in der Stichwahl gegen die im politischen Establishment bestens vernetzte Tochter des autoritären und später zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilten Expräsidenten Alberto Fujimori ganz knapp durch. Beide, Pedro Castillo und Keiko Fujimori, hatten es im ersten Wahlgang nicht auf 20 Prozent der Stimmen gebracht. Unter dem Motto „keine Armen mehr im reichen Peru“ trat er am 7. Juli 2021 seine Präsidentschaft an.


Der Präsident vom Lande hatte keine Mehrheit im Kongress. Die städtischen Eliten standen ihm misstrauisch bis feindselig gegenüber und stellten, mit tätiger Mitwirkung der Medien, die sich in ihren Händen befinden, von Anbeginn seine Befähigung in Frage. Hautfarbe und Hochsprache, wie sie von den Eliten in Lima gesprochen wird, sind die zwei wichtigsten Kriterien für rassistische Stigmatisierung. Von Anfang an hatte er es mit teils offen rassistischen Anfeindungen, Korruptionsermittlungen und Amtsenthebungsverfahren zu tun. Dutzende Gesetzentwürfe wurden abgelehnt. Planlosigkeit, konfuse Entscheidungen, mangelnde Transparenz und die Berufung unfähiger Leute waren Wasser auf die Mühlen seiner Gegner. Wertkonservative bis reaktionäre Haltungen – etwa in Fragen der sexuellen Orientierung – brachten aber auch Sympathisanten zum Stirnrunzeln. Bereits nach einem Vierteljahr Amtszeit raubte das Parlament der Regierung mit dem Ley 31.355 vom Oktober 2021 die Möglichkeit, Verfassungsreformen durchzusetzen, den Kongress aufzulösen und Parlamentswahlen auszurufen. In 495 Amtstagen hatte Castillo fünf Kabinette mit 78 Ministern, überstand zwei Amtsenthebungsverfahren und unzählige politische Skandale.


Um einem dritten Amtsenthebungsverfahren zuvorzukommen, kündigte Castillo am 7. Dezember die Auflösung des Parlaments an. Unter den gegebenen Umständen politischer Selbstmord. Stattdessen wurde er unter dem Vorwurf eines versuchten Staatsstreichs und „moralischer Unfähigkeit“ vom Parlament abgesetzt und verhaftet. Nachfolgerin wurde Vizepräsidentin Dina Boluarte. Ebenfalls aus der Partei „Perú Libre“ stammend und politisch unerfahren, war sie von Pedro Castillo erst Anfang 2022 als Verlegenheitslösung zur Vizepräsidentin berufen worden, nachdem sein Wunschkandidat, der Mediziner Vladimir Cerrón Rojas, wegen juristischer Hindernisse ausgefallen war. Sie ist legitime, verfassungsmäßige Nachfolgerin, wird es aber schwer haben, sich mit der Verantwortung für so viele Tote zu behaupten. Drei ihrer Minister sind schon zurückgetreten. Schwer zu sagen, ob es einen Weg des Dialogs gegeben hätte, aber sie hat von Anfang an darauf gesetzt, lange im Amt zu bleiben und ihre Macht polizeilich-militärisch abzusichern. Wahlen sind erst für April 2024 angesetzt. Vorgezogene Neuwahlen – inzwischen auch von Boluarte selbst ins Spiel gebracht – wurden vom Parlament mehrmals verworfen, allerdings mit zunehmend schwindenden Mehrheiten. Eigentlich starker Mann ist ihr Verteidigungsminister Luis Alberto Otárola, der inzwischen zum Ministerpräsidenten aufgestiegen ist. Boluarte hat sich damit rechten Hardlinern ausgeliefert. Sollte auch sie zurücktreten, wäre mit Parlamentspräsident José Williams ein ultrarechter pensionierter Armeegeneral der verfassungsmäßige Nachfolger.


Es handelt sich um eine Dauerkrise. Peru hatte in fünf Jahren sechs Präsidenten. Alle schieden unfreiwillig aus dem Amt. Viele sind mit der Justiz konfrontiert und einer, Alan García, hat sich erschossen, um einem Korruptionsverfahren zu entgehen. Ungeachtet des politischen Chaos steht Peru mit soliden Wachstumsraten da. Aber mehr als 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden im Großraum Lima erwirtschaftet und ein großer Teil der Bevölkerung ist vom Wohlstand ausgeschlossen. Während der Pandemie ist die Armutsquote von 20 auf 30 Prozent angewachsen. Die Grenze zwischen Arm und Reich verläuft parallel zu der zwischen indigen und nicht-indigen. Lima und das Landesinnere, das sind zwei verschiedene Welten. Pedro Castillo, der für 36 Monate in Untersuchungshaft sitzt, ist – politisch möglicherweise unverdientermaßen – zu einer gewissen Identifikationsfigur für die Unterdrückten und Beleidigten (Dostojewski), die Bauern und Indigenen, die Armen und Marginalisierten geworden. Der Historiker Gustavo Montoya von der Universidad Nacional Mayor de San Marcos sieht die derzeitige Situation auch als historische Chance, darüber nachzudenken, welchen Staat Peru hat und in welchem Verhältnis Staat und Gesellschaft zueinander stehen. Vieles wird davon abhängen, inwieweit sich die spontanen Proteste weiter verstetigen, sich organisatorisch zusammenfügen und eine Führung finden.


Demokratie als u mkämpftes Terrain

Anders geartet, aber in frischer Erinnerung ist der Sturm auf die Regierungsgebäude in Brasilia nach dem Wahlsieg von Lula da Silva am 8. Januar, der nach ähnlichem Drehbuch abzulaufen schien, wie zwei Jahre zuvor der Sturm paramilitärisch organisierter Trump-Anhänger auf das Kapitol in Washington. In beiden Fällen geschah dies unter Vorwürfen von Wahlbetrug, den die Protagonisten jeweils schon vor der Wahl prophezeiten. In Brasilia richteten sie sich gegen einen Wahlsieger und frisch ins Amt eingeführten Präsidenten unter Mithilfe von Teilen der Sicherheitskräfte. In Washington wurden sie mutmaßlich von einem noch amtierenden Präsidenten gegen den Wahlsieger orchestriert. Die Parallelen scheinen weniger erstaunlich, wenn man weiß, dass die extreme Rechte weltweit gut vernetzt ist. Eduardo Bolsonaro, Sohn des abgewählten brasilianischen Präsidenten, ist beispielsweise Verbindungsmann von Trump-Berater Steve Bannon nach Südamerika. Zu diesen Netzwerken lohnen weitere Recherchen und Forschungen.


Schon im Herbst 2019 war ich zu einer Serie von Veranstaltungen eingeladen mit der Frage: „Flächenbrand in Lateinamerika?“ In Chile, Ecuador und Kolumbien waren damals Proteste gegen das neoliberale wirtschaftliche Modell eskaliert, die von Fahrpreiserhöhungen beziehungsweise Benzinpreissteigerungen ausgegangen waren. In Chile führten sie zu einem Linksruck, einem Regierungswechsel und einem Verfassungsprozess zur Ablösung der alten Pinochet-Verfassung. In Kolumbien wurde letztes Jahr mit Gustavo Petro zum ersten Mal ein Linker zum Präsidenten gewählt. In Bolivien wurde dagegen 2019 mit Evo Morales der Repräsentant eines Gegenmodells zum Neoliberalismus und Hoffnungsträger der Linken gestürzt, der bereits bei den Wahlen vom Oktober 2005 durch einen Erdrutschsieg an die Macht gekommen war, was auch als Revolution mit dem Stimmzettel bezeichnet wurde. Ein Jahr später, 2020, erzwangen die sozialen Bewegungen dort Neuwahlen, die wiederum die alte Regierungspartei MAS ( Movimiento al Socialismo ) mit absoluter Mehrheit gewann. Damit ist dort der Prozess des Wandels ( proceso de cambio ) zurück. Die MAS selbst ist allerdings heute von Spaltung bedroht. Statt von einer Wellenbewegung zwischen Links und Rechts, zwischen fortschrittlichen und regressiven Kräften, darf man also eher von einem permanenten Machtkampf sprechen.


Nach einer Epoche der Diktaturen in den 1960er bis 1980er Jahren und zwei bis drei Jahrzehnten Neoliberalismus und Rückkehr zur Demokratie steht der Halbkontinent makroökonomisch ganz gut da und formaldemokratisch leidlich stabil. Das ändert sich gerade mit den Folgen der Pandemie und der drohenden Rezession. Peru beispielsweise steht im H uman Development Index der Vereinten Nationen unmittelbar nach Kuba (83) auf Rang 84 vor Mexiko (86), Brasilien (87), Kolumbien (88) und Ecuador (95). Lateinamerika ist aber die Region mit der markantesten sozialen Ungleichheit, der höchsten Kriminalität und einem ausgeprägten Hang zu gewalttätigen Konfliktlösungen.


Seit einer Welle „progressistischer“ Regierungen tobt ein heftiger Machtkampf, nicht mehr so sehr mit dem Militär oder Guerillagruppen, sondern an der Grenze zum „ low intensity conflict “ mit Straßenprotesten, Blockaden und Prozessen ( lawfare statt warfare ). Den Anfang machte 1999 Hugo Chávez in Venezuela, gefolgt von Lula da Silva in Brasilien (2003), Néstor Kirchner in Argentinien (2003), Tabaré Vasquez in Uruguay (2005), Evo Morales in Bolivien (2006), Rafael Correa in Ecuador (2007). In Argentinien, Brasilien und Bolivien kam zwischenzeitlich die Rechte zurück – in Uruguay und Ecuador ist sie noch an der Regierung. In Chile und Kolumbien gibt es neuerdings mit Gabriel Boric und Gustavo Petro Linksregierungen, die vor großen Herausforderungen stehen. In Chile ist das Verfassungsprojekt der Regierung Boric zunächst im Referendum vom 4. September 2022 mit 62:38 Prozent krachend gescheitert. Auch sie verfügt über keine Mehrheit im Parlament und ist mit finanzkräftigen alten Eliten konfrontiert, die die Medien kontrollieren und vor einer „Venezolanisierung“ und dem Kommunismus warnen. Ein wichtiger Grund der Ablehnung des Verfassungsentwurfs war das plurinationale Staatsmodell, das heißt die Aufwertung der indigenen Völker. Nicht hilfreich war die fehlende Einheit der Linken im Allgemeinen und das allzu radikale Auftreten gewisser Gruppen im Besonderen.


Die genannten Präsidenten der ersten „Linkswelle“ – man könnte beispielsweise noch Michelle Bachelet in Chile (ab 2006) hinzufügen - verfolgten durchaus unterschiedliche politische Agenden, wie sie vage als „progressistisch“ bezeichnet werden. Sie alle waren aber mit steifem Gegenwind konfrontiert. Hugo Chávez, der 1998 mit 56 Prozent der Stimmen gewählt und im Jahr 2000 auf der Grundlage einer neuen Verfassung mit 60,3 Prozent bestätigt worden war, wurde im April 2002 mit Unterstützung Washingtons kurzfristig aus dem Amt geputscht. Er gewann übrigens alle Wahlen und Abstimmungen von 1998-2012, mit Ausnahme des Referendums um eine Verfassungsänderung 2007, dessen Ergebnis er respektierte. Zum Teil antworteten sie mit dem Rückgriff auf populistische und autoritäre Herrschaftstechniken bis zu einem Punkt, wo sie nicht mehr als Vorbild dienen, sondern als abschreckendes Beispiel. Wo sie konnten, nutzten sie die Konjunktur und stützten ihre Modelle auf den Verkauf nicht erneuerbarer Rohstoffe (Extraktivismus), wie Öl und Gas, um Sozialprogramme zu finanzieren – und verzichteten dabei auf strukturelle Veränderungen, wie wirtschaftliche Diversifizierung. „Progressistisches“ Regieren war nicht frei von Widersprüchen, persönlichen Ambitionen und Korruption. In Ecuador, wo unter Rafael Correa in einer neuen Verfassung umfänglich indigene Rechte und zum ersten Mal die Rechte der „Mutter Erde“ festgeschrieben wurden, hinkte die Umsetzung derart hinter dem Anspruch her, dass Correa 2017 ins Exil ging. Nachfolger Lenin Moreno fiel durch den Gegensatz von progressistischer Rhetorik und neoliberaler Politik auf. Im Herbst 2019 ließ er Proteste blutig niederschlagen. Die Beziehungen zwischen dem (ehemals) progressistischen und dem indigenen Lager waren schließlich derart zerrüttet, dass man im Jahr 2021 einen Wahlsieg quasi verschenkte. Während der „Correist“ Andrés Arauz den ersten Wahlgang mit 14 Prozentpunkten Vorsprung gewonnen hatte und Yaku Pérez (Pachakutik) das bislang beste Ergebnis für das indigene Lager holte, gewann der neoliberale Guillermo Lasso die Stichwahl, der im ersten Wahlgang nur 19,5 Prozent holen konnte. Statt ein Bündnis einzugehen, bekämpfte man sich.


Qollasuyu – andine Gemeinsamkeiten

Dina Boluarte und Jeanine Añez haben Vieles gemeinsam. Auch wenn die eine den Jahreswechsel auf dem Präsidentensessel des Palacio de Gobierno in Lima verbrachte und die andere hinter Gittern in La Paz. Beide kamen unverhofft zur Präsidentschaft. Beide wurden dazu eingeladen, nicht gewählt. Vizepräsidentin Boluarte wurde es dann durch die überraschende Entfernung ihres Vorgesetzten aus dem Präsidentenamt. Añez wurde durch eine Versammlung von Ex-Politikern, mehrheitlich aus dem Umfeld des Ex-Diktators Hugo Banzer, ausgewählt, die in der Universidad la Católica von La Paz tagten, nicht im Parlament. Keiner von ihnen hatte irgendein Mandat. Unter tätiger Mithilfe der Katholischen Kirche und des damaligen EU-Botschafters, León de la Torre, wollten sie ein Machtvakuum füllen, an dessen Entstehung sie regen Anteil hatten. Die Vorgänge sind Gegenstand laufender Gerichtsverfahren. Auch Evo Morales, der gewählte Amtsvorgänger von Frau Añez, wurde aus dem Amt entfernt, und zwar unter Vorwürfen des Wahlbetrugs. Schon im Vorfeld der Wahlen vom Oktober 2019 behauptete die Opposition, dass es Wahlbetrug geben würde und es gab gewalttätige Übergriffe auf Kundgebungen und Büros der Regierungspartei MAS. Organisiert wurden sie von sogenannten Zivilkomitees, besonders dem der größten Stadt Santa Cruz, dem Luis Fernando Camacho vorstand und unter Beteiligung paramilitärischer Schlägertrupps wie der Unión Juvenil Cruce ñ ista und der Resistencia Juvenil Cochala . Als es dann bei der Schnellauszählung am Wahlabend zu Unregelmäßigkeiten kam, die von Wahlbeobachtern der OAS vorschnell öffentlich gemacht wurden (wirklich bewiesen wurde ein Wahlbetrug bis heute nicht) eskalierten die Proteste. In sechs von neun Departementshauptstädten gingen die Büros der Wahlkommission in Flammen auf. Schlechtes Krisenmanagement der Regierung tat ein Übriges. Schließlich stand der Wahlsieg der MAS als solcher (mit rund 47 Prozentpunkten) trotz herber Verluste gar nicht in Zweifel. Es ging um 10 Prozentpunkte Abstand vor dem Zweitplatzierten, die laut Wahlgesetz nötig sind, um eine Stichwahl zu vermeiden. Als dann noch eine Polizeimeuterei ausbrach und die Militärführung Morales den Rücktritt nahelegte, flohen Präsident und Vizepräsident außer Landes. Weder hatten sie ihren Rücktritt offiziell eingereicht, noch war dieser vom Parlament angenommen worden, wie es die Verfassung vorschreibt. Auch wäre Frau Añez als zweite Vize-Präsidentin des Senats nicht an der von der Verfassung definierten Reihe der Nachfolger gewesen. Trotzdem wurde sie in den westlichen Hauptstädten genauso schnell anerkannt wie die legitime Nachfolgerin Boluarte in Peru. Wie Boluarte dachte auch Frau Añez rasch an mehr als nur eine Interimspräsidentschaft. Ein ums andere Mal wurde ein möglicher Wahltermin unter Hinweis auf die Pandemie verschoben und bereits nach zwei Monaten gab Añez bekannt, dass auch sie kandidieren wolle – sehr zur Empörung des Zweitplatzierten bei der umstrittenen Wahl, Carlos D. Mesa. Wie Boluarte ließ sie ihre Präsidentschaft polizeilich-militärisch absichern. Abgeordneten der Regierungspartei, die über die absolute Mehrheit verfügte, wurde an den entscheidenden Tagen ihrer Machtergreifung der Zugang zum Parlament verwehrt. Es kam zu Massakern gegen protestierende MAS-Anhänger.


Zwischen Castillo und Morales gibt es ebenfalls Gemeinsamkeiten. Auch die Regierung Morales war in der Anfangszeit von vielen handwerklichen Schwächen gekennzeichnet und auch sie stand von Anfang an unter immensem Druck. Die Verfassunggebende Versammlung (ab 2006) wurde sabotiert und behindert, sodass sie in eine Militärakademie ausweichen und schließlich in eine andere Stadt umziehen musste. Der Zivilputsch von Santa Cruz 2008 brachte das Land an den Rand einer Spaltung. Aber Morales hatte die absolute Mehrheit im Parlament und war – im Unterschied zu Castillo – von starken sozialen Bewegungen getragen, aus deren Reihen er hervorgegangen war. Er war also im Unterschied zu Castillo kampferprobt, nicht unerfahren. Doch auch seinem Sturz gingen eklatante Fehler voraus. Seine Präsidentschaft war von vielen Erfolgen begleitet. Eine neue Verfassung schrieb soziale Rechte, Indígena-Rechte und die Rechte der Pachamama fest. Bolivien wurde zum „Plurinationalen Staat“. Indigene Sprachen wurden auch Amtssprachen und die bunte Wip h ala -Fahne gleichwertig neben die rot-gelb-grüne Nationalflagge gestellt. Die Nationalisierung der Kohlenwasserstoffressourcen spülte bei günstiger Konjunktur Devisen in die Staatskasse, die für eine Umverteilungs- und Sozialpolitik verwendet wurden. Die Armutsquote sank deutlich, die Lebenserwartung wuchs um Jahre, ein bedeutender Teil der Unterschicht stieg in die Mittelschicht auf. Ihre Binnennachfrage stabilisierte die Wirtschaft, auch als die Exporteinnahmen nach 2015 einbrachen. Grundlage war auch hier der Extraktivismus, grundlegende Strukturreformen unterblieben. Die Präsidentschaft von Morales war von einer Serie von Wahlen und Abstimmungen begleitet, die manche Beobachter als „referenditis“ bezeichneten. Er hat sie alle mit absoluter Mehrheit gewonnen. Eine in Bolivien bis dahin unbekannte demokratische Stabilität.


Bis zum Februar 2016, als Morales durch ein Referendum den Artikel 168 der Verfassung ändern lassen wollte, der nur zwei Amtsperioden in Folge zulässt. Das Referendum ging knapp verloren. Morales ignorierte das Resultat und kandidierte 2019 erneut. Viele Bolivianerinnen und Bolivianer sahen sich nun durch ihn um das einmalige Demokratieerlebnis betrogen, das er ihnen zuvor beschert hatte. Die völlig zersplitterte und inhaltsleere Opposition witterte Morgenluft.


Am 28. Dezember 2022 wurde in Santa Cruz der nunmehrige Gobernador (Ministerpräsident) des Departements, Luis Fernando Camacho, festgenommen. Er hatte sich geweigert, vor Gericht zu den Vorgängen um die Machtergreifung von Jeanine Añez auszusagen. An den Treffen in der Universidad la Católica hatte er selbst nicht teilgenommen, aber einen Vertreter geschickt. Insbesondere hatte er sich öffentlich damit gebrüstet, dass sein Vater die Polizei geschmiert und zur Meuterei angestiftet, und es mit dem Militär „geregelt“ habe. Schon kurz nach seiner Inhaftierung bekam er Besuch von Vertretern des chilenischen Boric-Widersachers und Pinochet-Bewunderers José Antonio Kast sowie der rechtsextremen spanischen Partei VOX.


Etwa zur gleichen Zeit zog Peru seine Botschafterin aus La Paz ab und Evo Morales, inzwischen MAS-Parteichef, erhielt Einreiseverbot. Die Schuldzuweisungen an Bolivien für die Unruhen in Peru nahmen zu. Ende Januar bezeichnete der fujimoristische Abgeordnete Ernesto Bustamante die von den Protestierenden benutzte bunte Wip h ala -Fahne als „trapo“ (Fetzen), wie ihn auch der „Narcoterrorist Morales“ benutze. Bustamante forderte die Militarisierung der Grenze und ein Ultimatum an das Nachbarland. Wenn Bolivien nicht aufhöre, die Proteste in Peru anzustacheln und zu finanzieren, solle das Militär dort einmarschieren und Rohstofflager besetzen, damit man hinterher Reparationszahlungen geltend machen könne. Es gibt freilich keinerlei Beweise für eine Einmischung Boliviens in Peru. Vielmehr entstehen dem Binnenland Millionenschäden dadurch, dass Peru seine Probleme nicht geregelt bekommt und Hunderte von Lastwagen seit Wochen beiderseits der Grenze in Desaguadero festhängen.  Die Bevölkerung in den südlichen Provinzen Perus, von denen die Proteste ihren Ausgang nahmen, ist bäuerlich-indigen geprägt und arm. Bei Puno verläuft die Sprachgrenze zwischen Quetschwa und Aymara, das in der Gegend rund um den bolivianischen Regierungssitz La Paz gesprochen wird. Die Menschen dort haben vieles, was sie kulturell verbindet. Sie brauchen aber gewiss keine auswärtigen Anstifter um sich zu empören und zu protestieren. Was die absurden Anschuldigungen und die Beleidigungen gegen Symbole wie die Wip h ala -Fahne zeigen, ist vor allem, dass hier wie dort die gleichen Kämpfe um soziale Gerechtigkeit und Emanzipation geführt werden. Beim Einzug von Frau Añez in den Präsidentenpalast in La Paz wurden Wip h ala -Fahnen verbrannt und Gobernador Camacho hatte sich stets geweigert, sie zu hissen. Die siebenfarbigen Quadrate fanden sich auf Inka-Textilien. Ob es sich um eine Inka-Flagge handelte, ist nicht erwiesen. Doch im ganzen Andenraum und darüber hinaus gilt sie heute als indigenes Symbol. Sie zu missachten zeigt nur Unverständnis und rassistische Verachtung durch Eliten, die sich an die Macht und ein anachronistisches Herrschaftssystem klammern. Und genau darum geht es beim Kampf um die Demokratie.


Europa und die Wiederentdeckung Lateinamerikas

Diesseits des Atlantiks verhält man sich zu alledem bestenfalls eher nicht. Oft genug stand man auf der falschen Seite. Europa hat Lateinamerika sträflich vernachlässigt. Die Lateinamerika-Forschung an den Universitäten wurde ausgedünnt, auswärtige Ämter und Vertretungen quantitativ wie qualitativ unterbesetzt. Die Progressiven hat man bestenfalls distanziert mit der Pinzette angefasst, sich an US-Sanktionen beteiligt und beispielsweise die gescheiterte venezolanische Parallelregierung unter Juan Guaidó umgehend anerkannt. In Wien geschah dies damals auf der Grundlage eines Tweets des Lateinamerikaexperten Sebastian Kurz. Nebenbei führte das dort auch zu seltsamen Allianzen mit Ländern wie Belarus oder dem Iran nach dem Motto „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ - und weiterer Entfremdung. Nicht Europa, China hat das Vakuum gefüllt, das die Vereinigten Staaten auf dem Halbkontinent hinterlassen haben. Mit der geänderten geopolitischen Lage („Zeitenwende“) scheint man das nun korrigieren zu wollen. Wie willkommen die Kundfahrt des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz im Januar aufgenommen wurde, zeigte eine durchaus unübliche spontane Umarmung durch den brasilianischen Präsidenten Lula da Silva auf offener Bühne während einer gemeinsamen Pressekonferenz. Über die Ablehnung des Ansinnens von Waffenhilfe an die Ukraine brauchte man sich trotzdem nicht zu wundern. Wer mag Scholz da beraten haben? Moskau hatte – ob aus Altruismus oder aus geopolitischen Erwägungen - die „Progressisten“ unterstützt.


Neben Brasilien besuchte Scholz auch Argentinien und Chile, was medial als besonders weitsichtig hervorgehoben wurde. Handelt es sich doch um zwei der wichtigsten Lithiumproduzenten. Lithium ist für die geplante Energiewende von großer Bedeutung. Nicht besucht wurde das kleinere, angrenzende Bolivien, das über die größten Lithiumvorkommen der Welt verfügt. Dass darüber mit keinem Wort berichtet wurde, erstaunt erst auf den zweiten Blick, dann aber umso mehr: Am 12. Dezember 2018 war in Berlin im Beisein des bolivianischen Außenministers und des deutschen Wirtschaftsministers Peter Altmaier ein Joint Venture zur Lithiumgewinnung gegründet worden. Bis zum November 2019 saß der beteiligte baden-württembergische Mittelständler auf unterschriftsreifen Verträgen, die dann auf Eis gelegt wurden, was zu Spekulationen über eine Beteiligung von Mitkonkurrenten am Sturz der Regierung Morales Anlass gab, zumal Tesla-Chef Elon Musk in seiner bekannt flapsigen Art, darauf angesprochen später sagte: „Wir stürzen wen wir wollen.“ Zweifellos hätte er die finanziellen Mittel dazu. Sicher ist, dass es Widerstand der umliegenden Gemeinden gegen das Projekt gab, die um ihr knappes Grundwasser fürchten. Und das betroffene Departement Potosí lehnte die Verträge ab, weil es eine höhere Gewinnbeteiligung wollte. Der damalige Chef des dortigen Zivilkomitees COMCIPO, Marco Pumari, war deshalb während des Wahlkampfes 2019 sogar in einen zwölftägigen Hungerstreik getreten. Pumari war übrigens einer der engsten Verbündeten von Luis Fernando Camacho bei den Unruhen, die zum Sturz von Morales führten, und im Wahlkampf 2020 dessen Kandidat für die Vizepräsidentschaft.


Wie auch immer: Als die MAS erneut an die Regierung gewählt und diesbezügliche Verhandlungen wieder aufgenommen wurden, standen fünf potenzielle Partner zur Auswahl. Kein Unternehmen aus Europa war mehr darunter. Den Zuschlag erhielt ein chinesisches Konsortium und bereits in der zweiten Jahreshälfte 2023 soll die Produktion von Lithiumkarbonat industrielle Dimensionen annehmen. Man rechnet dann mit Einnahmen in Höhe von 576 Millionen USD (gegenüber 37,8 in der Pilotphase 2022). Langfristig sollen es 30 Milliarden pro Jahr werden. Bolivien verfügt über rund ein Viertel der bekannten Reserven. Ob das nicht einen Bericht wert gewesen wäre?


Es mag eine Reihe von Gründen dafür geben, dass Europa nicht mehr im Rennen ist. Aber man darf wohl davon ausgehen, dass die fragwürdige Rolle des seinerzeitigen EU-Botschafters bei der Machtergreifung der Rechten im November 2019 das Vertrauen in europäische Partner zumindest nicht gestärkt hat. Ob ihm ein Vorwurf zu machen ist? Das wenigste was man sagen kann: Er spricht zumindest Spanisch. Der Mann war vormals spanischer Botschafter in Nicaragua. Zeitgleich zur Rückkehr der MAS an die Regierung wurde er als EU-Botschafter nach Santiago de Chile versetzt.




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von © Robert Lessmann Dr 06 Apr., 2024

Wien im März 2024. Die kolumbianische Botschafterin war in ihrem Schlusswort sehr klar: „Als ich vor einem Jahr erstmals hier sprach, stellte ich mich mit den Worten vor: ‚Ich heiße Laura Gil. Ich komme aus Kolumbien und ich bin müde.‘“ Müde von der Gewalt, den Toten, den leeren Versprechungen. Ein Jahr später müsse sie sagen: „Wir sind heute 60 Länder und wir sind es leid!“


Laura Gil sprach auf einem so genannten side event im Rahmen der 67. UN Commission on Narcotic Drugs.(1) Obwohl eine Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen (UNGASS) zum Thema Drogen im Jahr 2016 eine flexiblere Auslegung der einschlägigen Konventionen versprochen hatte, sei in der Praxis alles so starr und bürokratisch geblieben wie eh und je, sagte Gil, die zuletzt als Vize-Außenministerin ihres Landes für multilaterale Beziehungen zuständig war. UNGASS 2016 war auf Initiative Mexikos, Kolumbiens und Guatemalas einberufen worden: Eine Überarbeitung des bisherigen Ansatzes der internationalen Gemeinschaft gegenüber Drogen könne nicht länger aufgeschoben werden, hieß es bereits in einer gemeinsamen Erklärung vom 1. Oktober 2012. Dabei müssten die Vereinten Nationen eine Führungsrolle übernehmen, um „alle Optionen zu analysieren, einschließlich regulierender – oder Marktmechanismen, um ein neues Paradigma zu etablieren, das den Ressourcenfluss zu Gruppen organisierter Kriminalität verhindert.“ Herausgekommen ist das Versprechen größerer Flexibilität. In der Tat wurden seither Entkriminalisierungs- und Regulierungsmodelle bei Cannabis toleriert.


Neustart als Rohrkrepierer

Zu einer energischen Schwerpunktsetzung beim Kampf gegen die organisierte (Gewalt-) Kriminalität und die Geldwäsche – wie es die Lateinamerikaner gefordert hatten – kam es jedoch nicht. Im Jahr 2011 hatte das Büro für Drogen und Verbrechensbekämpfung der Vereinten Nationen (UNODC) eine bahnbrechende Studie über Geldwäsche vorgelegt. Demnach lag deren jährliches Volumen damals zwischen 1,2 und 1,6 Billionen US Dollar. Der größte Anteil entfalle mit 350 Mrd. auf den Drogenhandel und dabei wiederum auf den mit Kokain, der besser organisiert und zentralisierter sei als der mit anderen illegalen Substanzen. Zum Vergleich: Der aktuelle Budgetentwurf der deutschen Bundesregierung liegt bei 470 Mrd. €. Der illegale Drogenhandel sei gewissermaßen das Rückgrat der internationalen organisierten Kriminalität, hieß es damals in UNODC-Papieren. Indes: Eine längst überfällige Aktualisierung dieser Studie ist nicht in Sicht. Unter dem damaligen Exekutivdirektor des UNODC, Antonio Maria Costa (2002-2010 - ein Banker übrigens), habe man sich dieses heiklen Themas angenommen. Seither fehle der politische Wille dazu, ist aus dem UNODC zu vernehmen.


Dabei wäre es sechs Jahrzehnte nach der Verabschiedung der maßgeblichen UNO Drogenkonvention und einem halben Jahrhundert von Washingtons federführendem „War on Drugs“ höchste Zeit, neue und innovative Wege einzuschlagen. Die Zahl der Drogenkonsumenten befindet sich auf Rekordniveau und wächst schnell weiter. Schneller noch wachsen die Opferzahlen, vor allem durch neue, im Labor hergestellte psychoaktive Substanzen. Überdosen mit dem künstlichen Opioid Fentanyl sind heute die häufigste Todesursache für Männer zwischen 18 und 45 Jahren in Nordamerika. Die Produktion der klassischen, pflanzengestützten Drogen Kokain (Grundstoff sind die Blätter des Kokabusches aus Bolivien, Kolumbien und Peru) und Heroin (Schlafmohn/Opium aus Afghanistan, Myanmar und Mexiko) befindet sich jeweils auf Rekordniveau. Sogenannte Neue Psychoaktive Substanzen drängen mit einer Schnelligkeit und Vielfalt auf den Markt, die schon ihre Erfassung und damit das Kontrollsystem der Drogenkonventionen über Listen kontrollierter Substanzen überfordert. Zusammen mit einer wachsenden Rolle des Darknet beim Handel schränkt das die Zugriffsmöglichkeiten der Exekutive drastisch ein. Therapie und Prävention scheinen die wesentlich effektiveren Instrumente zu sein. Doch in der Praxis dominiert allenthalben noch immer der repressive Ansatz über das Strafrecht.


Diese konventionelle Politik ist in Bausch und Bogen gescheitert. Es gab allenfalls regionale Schwerpunktverlagerungen. Inwieweit ein Anbauverbot der Taliban für Schlafmohn in Afghanistan vom April 2022 nachhaltig sein wird, bleibt vor dem Hintergrund voller Lagerbestände abzuwarten. Ein ebensolches Verbot vom Jahr 2000/2001 war es jedenfalls nicht. Immerhin ist aktuell ein Rückgang der dortigen Opiumproduktion um 95 Prozent zu verzeichnen. Zwanzig Jahre westlicher Sicherheitskooperation waren dagegen von einem stetigen Anwachsen des Anbaus in Afghanistan begleitet. Schon nimmt der Anbau beim vormals wichtigsten Schlafmohnproduzenten, Myanmar, rapide zu.


Das Epizentrum des Kokaanbaus verlagerte sich bereits in den 1990er Jahren aus den traditionellen Anbauländern Bolivien und Peru nach Kolumbien (ohne dort zu verschwinden oder auch nur nachhaltig vermindert zu sein) und zwischenzeitlich auch wieder zurück. Man spricht vom Ballon Effekt; Druck an einer Stelle führt zur Ausdehnung anderenorts. Heute befinden sich 204.300 Hektar Anbaufläche (von insgesamt 296.000) in Kolumbien (2). Die Schaltzentralen des Kokaingeschäfts verlagerten sich von Kolumbien nach Mexiko, doch produziert wird nach wie vor in Kolumbien, wo rund zwei Drittel der Kokainlabors entdeckt und zerstört werden. Mehr als von einer Verlagerung muss man also von einer Ausbreitung des illegalen Drogengeschäfts und der mit ihm verbundenen Probleme sprechen.


Ecuador, Kolumbien und der War on Drugs

Jüngstes Beispiel dafür ist Ecuador, das in einer Welle von Gewalt versinkt, wie die deutsche Tagesschau am 11. Januar 2024 titelte. Ecuador, dabei dachte man an Galapagos, den 6.263 Meter hohen Chimborazo, Charles Darwin und Alexander von Humboldt, ein stark von seiner indigenen Bevölkerung geprägtes Land und jenes mit der wahrscheinlich größten Artenvielfalt. Doch heute ist Ecuador ein wichtiges Transitland für Kokain geworden. Aus dem friedlichen und aufstrebenden Ecuador wurde eines der gefährlichsten Länder Lateinamerikas.


Wie kam es dazu? Ecuador hat mit Guayaquil einen großen Seehafen und eine fast 600 Kilometer lange Grenze zum Nachbarland Kolumbien, wo seit vielen Jahren etwa zwei Drittel des auf den illegalen Weltmärkten erhältlichen Kokains erzeugt werden. Ein halbes Jahrhundert War on Drugs , Milliarden von Dollars, US- Militärbasen und Sprühflugzeuge mit Glyphosat gegen Kokafelder haben daran nichts geändert. Älteren Leserinnen und Lesern sind die Namen Pablo Escobar, Carlos Lehder, die Ochoa-Familie und die Rodríguez-Orejuela in Erinnerung, das Cali- und das Medellín-Kartell (der völlig falsche Ausdruck übrigens, aber von der Journaille so eingebürgert) in Erinnerung, die Ende der 1980er, Anfang der 90er Jahre gegen ein Auslieferungsabkommen mit den USA anbombten. Allein drei Präsidentschaftskandidaten starben, dutzende Richter, Staatsanwälte, Journalisten wurden damals ermordet. Nach der Zerschlagung der mächtigen „Kartelle“ übernahmen Dutzende kleinere Organisationen das unvermindert boomende Geschäft, die nicht mehr über die Kontakte in die Anbauregionen in Bolivien und Kolumbien verfügten. Ungeachtet einer einsetzenden Besprühungskampagne mit Pflanzengift aus der Luft wurde Kolumbien in der zweiten Hälfte der 90er selbst zum wichtigsten Grundstoffproduzenten. Wirtschaftswissenschaftler nennen das Importsubstitution. Der Kokaanbau in Kolumbien verdreifachte sich. Und er breitete sich aus: Waren es zu Beginn der Besprühungen sechs Provinzen, so wurde zur Jahrtausendwende Koka in 23 der 33 kolumbianischen Departments angebaut.


Kokaanbau historisch in Hektar

        1986     1995     2000

Bolivien    25.800   48.600   14.600

Kolumbien   24.400   50.900   163.300

Peru     150.400   115.300    43.400

Total      200.440   214.800   221.300

Quelle: UNODCCP Global Illicit Drug Trends bzw. UNODC World Drug Reports


Washington hatte Mitte der 90er den Präsidenten Ernesto Samper mit Korruptionsvorwürfen unter Druck gesetzt und zur Einwilligung in die Besprühungskampagne genötigt. Mit einer Operation Airbridge hatte man zudem versucht, den Import des Zwischenprodukts, der Pasta B ásica de Cocaína , aus Bolivien und Peru einzudämmen. Nicht identifizierte Kleinflugzeuge wurden zur Landung gezwungen oder abgeschossen, bis der Kongress dieses Vorgehen stoppte. Wegen eines Kommunikationsfehlers zwischen dem amerikanischen Aufklärer und dem peruanischen Jäger hatte man versehentlich die Cessna einer US-Missionarsfamilie abgeschossen.


Zunehmend bemächtigten sich nun auch bereits seit 1964 in Kolumbien operierende Guerrillagruppen des illegalen Geschäfts, und stärker noch die rechtsextremen Paramilitärs, die gegen die Guerrilla kämpften. Teilweise hatten diese Gruppen zigtausende Kämpfer unter Waffen, die alle verköstigt, eingekleidet und bewaffnet werden mussten. Hatte die Guerrilla anfangs nur die Kokabauern besteuert und Gebühren für die klandestinen Landepisten der Drogenhändler in den Anbaugebieten erhoben, so wurde das illegale Geschäft zunehmend zum Selbstzweck und verschiedene ihrer frentes stiegen immer tiefer ein. Ab der Jahrtausendwende hielt Washington mit dem Plan Colombia dagegen. Milliarden wurden ausgegeben, sieben Militärbasen in Kolumbien errichtet, Spezialkräfte ausgebildet und die Besprühung mit Glyphosat noch einmal ausgeweitet. Der W ar on D rugs verschmolz mit dem W ar on T error. Nur Weltpolizist Uncle Sam verfügt über eine Abteilung für internationale Drogen- und Gesetzesvollzugsangelegenheiten (INL(3)) im Außenministerium. Ende des vorletzten Jahrzehnts (FY 2010) gingen mehr als 50 Prozent des INL-Budgets in Höhe von insgesamt 878,9 Mio. USD nach Afghanistan und Kolumbien – zwei Schlüsselländer im Krieg gegen den Terror. Zum Vergleich: Das Gesamtbudget des UNODC war nicht einmal halb so hoch.


Nachhaltigkeitsdesaster und Bürgerkrieg

Besprüht wurde nun vor allem in den Guerrilla-Hochburgen im Süden des Landes. Im Laufe der Jahre will man laut Statistik deutlich mehr als das Zehnfache dessen an Feldern vernichtet haben, was jemals als maximale Anbaufläche vorhanden war. Ein Nachhaltigkeitsdesaster. Die Bauern zogen weiter, legten neue Kokafelder an – teilweise schon prophylaktisch. Die Politik der Kokavernichtung ohne Nachhaltigkeit dürfte damit enorme Flächen tropischen Regenwaldes gekostet haben.(4) Doch nicht nur das: Durch die zur Weiterverarbeitung notwendigen Chemikalien wurden immer neue Böden und Gewässer vergiftet. Und Kolumbien war lange noch vor Syrien das Land mit der höchsten Zahl von Binnenflüchtlingen (8 von insgesamt 50 Millionen Einwohnern), wofür hauptsächlich der Guerrillakrieg, aber eben auch Bauernvertreibung durch Kokaeradikation verantwortlich war.


Die Umsetzung des Plan Colombia hieß in Kolumbien unter Präsident Álvaro Uríbe (2002-2010) S eguridad D emocrática und verfolgte das Ziel, illegale bewaffnete Gruppen von ihrer Finanzierung abzuschneiden. Gesprüht wurde nun insbesondere in den Hochburgen der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) im Süden des Landes in den Departments Caquetá und Putumayo. Landesweite Kokareduzierungen um 80.000 Hektar zwischen 2000 und 2004 wurden praktisch ausschließlich dort erzielt.


Im Jahr 2015 wurden die Besprühungen eingestellt, im Jahr 2016 ein Friedensabkommen mit den FARC unterzeichnet. Der Krieg mit der ältesten (seit 1964) und größten Guerrilla war zu Ende. Präsident Juan Manuel Santos erhielt dafür den Friedensnobelpreis. Mehr als 13.000 Kämpfer wurden demobilisiert, Hunderte davon später ermordet. Nachfolger Iván Duque hielt nichts von dem Abkommen und das ehrgeizige Programm zur Schaffung von Alternativen für die Bauern wurde praktisch nicht vollzogen. Duque setzte die Zwangseradikation von Kokafeldern fort und wollte sogar zu einer Besprühung der Felder aus der Luft zurückkehren. Es ist nicht gelungen, das Machtvakuum, das durch den Abzug der Guerrilla entstand, durch staatliche Institutionen zu füllen. Stattdessen geben dort nun FARC-Dissidenten (5.500 Kämpfer), Kämpfer des Ejercito de la Lib e ración Nacional (ELN 2.200) und Angehörige krimineller Banden (8.350 nach offiziellen Zahlen) den Ton an. Bei seinem Amtsantritt im Jahr 2018 gab es in Kolumbien 169.000 Hektar Koka und Duque strebte bis 2023 eine Halbierung an. In einem Working-Paper von 2020/21 für das deutsch-kolumbianische Friedensinstitut Capaz ( www.instituto-capaz.org ) schrieb der Autor dieser Zeilen damals: „Nichts deutet darauf hin, dass die Zielvorgaben heute realistischer sind als vor 10 oder 20 Jahren. Es ist vielmehr zu erwarten, dass die neuerliche Eradikationsoffensive auch diesmal nicht nachhaltig sein wird und es besteht die Gefahr, dass damit die Unsicherheit der Lebensumstände in den betroffenen Gebieten vergrößert wird.“


Heute kämpft die Regierung des Präsidenten Gustavo Petro unter dem Slogan Paz Total gegen verbrannte Erde an. Die Bauern sind einmal mehr vom Staat enttäuscht und desillusioniert. Statt der angestrebten Halbierung ist die Kokaanbaufläche um gut ein Drittel weiter angewachsen und liegt heute (2022) bei 230.028 Hektar, fast die Hälfte davon in den südlichen Departments Putumayo und Nariño im Grenzgebiet zu Ecuador (5). Und damit nicht genug. Durch bessere Sorten und Anbaumethoden soll die Ernte pro Hektar nach Berechnungen des UNODC um durchschnittlich 24 Prozent angestiegen sein und durch Optimierung der Weiterverarbeitung auch der Kokainertrag. Solche neuen Hochproduktivitätszonen befinden sich unter Kontrolle sogenannter narcoparamil i tares, FARC-Dissidenten bzw . der ELN . Alle zusammen werden sie Grupos Armados Ilegales (GAI) genannt. 35 Prozent der Kokaanbauflächen Kolumbiens befinden sich in Zonen, in denen eine oder mehrere GAI präsent sind. Diese arbeiten fallweise zusammen oder bekriegen sich. Aber alle sind um eine strikte Kontrolle des Produktionsprozesses bemüht. Im Department Putumayo lassen sich sechs Gruppen identifizieren, die nahezu umfassende Kontrolle ausüben. Die größten sind ehemalige frentes der FARC, das Comando Frontera und die Frente Carolina Ramírez und sie bekämpfen sich gegenseitig. Gemeinsam ist ihnen allen der Vektor des Kokainabsatzes: der Rio Putumayo. Interessanterweise befindet sich auch auf der südlichen, der peruanischen Seite des Grenzflusses im Departement Loreto ein Koka-Kokain-Nukleus. Auf ihm oder an ihm entlang gelangt die heiße Ware nach Ecuador.


Ecuador: Neoliberalismus und Drogentransit

Immer wieder tauchten in den letzten Jahren in Supermärkten Kokainpäckchen in Bananen- oder Schnittblumenlieferungen aus Ecuador auf, die von den Adressaten übersehen worden waren. Ecuador ist selbst kein Anbauland in nennenswertem Umfang, doch wurde es für den Drogenhandel nicht nur wegen des Pazifikhafens Guayaquil interessant. Kokainbeschlagnahmungen sind dort von 88 Tonnen (2019) auf 201 Tonnen (2022) kontinuierlich angestiegen. Neben dem Seehafen und der langen Landesgrenze zu den wichtigsten Kokain-Produktionszentren verfügt Ecuador noch über weitere, politisch-hausgemachte „Standortvorteile“. Das notorisch exportabhängige Land – vor allem Erdöl mit seinen schwankenden Weltmarktpreisen – befindet sich seit langem in einer wirtschaftlichen Dauerkrise, unterbrochen nur durch einen Boom im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends. Zur Jahrtausendwende wurde daher die Wirtschaft „dollarisiert“, was Außenhandelsgeschäfte ebenso erleichtert wie die Geldwäsche. Sie soll bei etwa 3,5 Mrd. USD jährlich liegen, was etwa 3 Prozent des BIP entspricht, Geld, das zu 75 Prozent im Land selbst in legale Wirtschaftskreisläufe eingespeist werde. Kolumbianische Wirtschaftswissenschaftler bezeichneten solcherlei Verhältnisse für ihr Land schon von mehr dreißig Jahren als „Verschmutzung der Wirtschaft“ ( la economía se ensucia ) und sprachen von einer „bewilligten Illegalität“ ( ilegalidad consentida ) (6), die der Gesetzgeber billigend in Kauf nehme.


Ecuador war mit seiner neuen Verfassung von 2008 und einer zunächst stärkeren Akzentuierung der Sozial-, Indigena- und Umweltpolitik unter Präsident Rafael Correa einer der Hoffnungsträger der progressistischen Welle in Lateinamerika. Doch eine Abkehr vom Extraktivismus, eine Überwindung der Abhängigkeit vom Erdöl gelang nicht und Correa ging 2017 unter Korruptionsvorwürfen ins französische Exil. Sein Nachfolger, Lenin Moreno, fiel nurmehr durch den scharfen Gegensatz zwischen progressiver Rhetorik und neoliberaler Praxis auf. Proteste ließ er im Jahr 2019 blutig niederschlagen. Das Verhältnis zwischen dem indigenen und dem „progressistischen“ Lage ist so zerrüttet, dass man 2021 den Wahlsieg quasi verschenkte. Während der „Correist“ Andrés Arauz den ersten Wahlgang mit 14 Prozentpunkten Vorsprung gewonnen hatte und Yaku Pérez das historisch beste Ergebnis für das indigene Lager erzielte, gewann der neoliberale Kandidat Guillermo Lasso die Stichwahl, der im ersten Wahlgang nur 19,5 Prozent der Stimmen bekommen hatte. Statt ein Bündnis einzugehen, bekämpften sich die progressiven Kräfte. Während der 900 Tage seiner Amtszeit soll das Vermögen von Guillermo Lasso um 21 Mio. USD angewachsen sein. Speziell seit der Pandemie wurde unter Moreno und Lasso eine extreme Sparpolitik betrieben, um Auslandsschulden begleichen zu können – nicht zuletzt auch im Sicherheitsbereich. Gerade Lasso war in der Sicherheitspolitik gleichzeitig aber ein Verfechter der „harten Hand“. Das in ganz Lateinamerika notorisch prekäre und hier nun noch einmal besonders vernachlässigte Gefängnissystem wurde mit Kleinkriminellen überfüllt. Vor dem Hintergrund allgegenwärtiger Korruption entwickelten sich die Haftanstalten geradezu zu Hauptquartieren krimineller Banden.


Deren wichtigste, die „Choneros“ arbeiten mit der mexikanischen Sinaloa-Gruppe zusammen, „Los Lobos“ mit der ebenfalls mexikanischen „Jalisco Nueva Generación“. Beide Gruppen bekämpfen sich. Ein Fanal war die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio, dessen Hauptthemen der Kampf gegen die Korruption und den illegalen Drogenhandel waren, auf einer Kundgebung in Quito im August 2023. Eine Komplizenschaft aus den Reihen der Sicherheitskräfte wird vermutet. Die Hauptverdächtigen wurden später in zwei verschiedenen Gefängnissen ihrerseits ermordet. Ein zweites Fanal war der Ausbruch des Anführers der „Choneros“, Adolfo „Fito“ Macias, Anfang Januar 2024, nachdem er in ein anderes Gefängnis verlegt werden sollte, sowie die bewaffnete Besetzung eines Fernsehstudios während einer Livesendung. Inzwischen hatte der heute 36-jährige, in Miami geborene und steinreiche Unternehmer Daniel Noboa die Wahlen gewonnen. Nach nur wenigen Wochen im Amt, sprach er am 9. Januar von einem „internen bewaffneten Konflikt“ und rief einen 60-tägigen Notstand aus. In kurzer Zeit wurden mehr als 9.000 Menschen verhaftet. Es wird sogar über eine Wiedereröffnung der US-Luftwaffenbasis Manta diskutiert, die im Kontext des Plan Colombia 1999 als sogenannte Forward Operation Location zur Luftraumüberwachung (AWACS) eröffnet worden war. Insgesamt 500 Mann US-Personal genossen damals quasi diplomatische Immunität und Bewegungsfreiheit in ganz Ecuador. Sie war 2008/2009 unter Rafael Correa geschlossen worden und eine Wiedereröffnung würde heute gegen die neue Verfassung verstoßen.


Der Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta, der unter anderem in Köln studiert hat, war in den Jahren 2007 und 2008 Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors und im ersten Halbjahr 2007 Minister für Energie und Bergbau im Kabinett von Rafael Correa. Er hat Zweifel am Erfolg dieser Politik der Militarisierung: Die Nationalpolizei werde zum Erfüllungsgehilfen des Militärs degradiert. Er spricht vom grundlegenden Problem einer Koexistenz zwischen dem Staat und einigen kriminellen Banden, die nach und nach die staatlichen Institutionen übernahmen. Der Grad der Durchdringung des organisierten Verbrechens sei so groß, dass seine Infiltration fast aller staatlichen Instanzen, der Justiz, der Sicherheitskräfte, des Privatsektors und sogar des Sports öffentlich anerkannt werde.


Vor anderthalb Jahrzehnten reagierte das Kokaingeschäft auf stärkere Kontrollen der europäischen Seehäfen mit dem Absatz über Venezuela und Westafrika entlang des 10. Breitengrades, der die kürzeste Verbindung zwischen Lateinamerika und Westafrika darstellt. Fahnder sprachen damals vom Highway Number 10. Einige der ärmsten Länder der Welt waren nun plötzlich mit einem Millionengeschäft konfrontiert. In der Wüste Malis wurde im Jahr 2009 das Wrack einer aufgelassenen Boeing 727 gefunden, mit der 10 Tonnen Kokain transportiert worden waren: die Air Cocaine. Der Weitertransport durch die Sahara zum Mittelmeer erfolgte über dieselben Routen und durch dieselben Organisationen, die auch im Schleppergeschäft aktiv sind, unter anderem Al Qaeda . Ab 2011 erhielten sie üppige Bewaffnung aus Beständen des gestürzten Diktators Muhammar al Gaddhafi. Und während neuerdings Ecuador die Aufmerksamkeit erregt, zeichnet sich bereits eine Wiederbelebung des Highway Number 10 ab. Wie auch immer die Routen sich ändern: Die Fahnder laufen hinterher.


Drogenbekämpfung und Menschenrechte: ein neuer Anlauf

Zurück nach Wien und zur Commission on Narcotic Drugs. Der War on Drugs sei gescheitert, sagt Volker Türk, der UNO Hochkommissar für Menschenrechte: gescheitert Leben zu retten; gescheitert die Würde, Gesundheit und Zukunft von weltweit 296 Millionen Drogennutzern zu schützen; gescheitert, den Politikwechsel herbeizuführen, den wir dringend brauchen, um weitere Rückschläge bei den Menschenrechten abzuwenden. Die gegenwärtige Drogenpolitik mit ihrem strafenden Ansatz und ihren repressiven Politiken, so Türk, hatte verheerende Folgen für die Menschenrechte auf allen Ebenen. „Drogen töten und zerstören Leben und Gemeinschaften. Aber unterdrückerische und rückwärtsgewandte Politiken tun das auch.“ (Übers. aus dem Englischen R.L.)


Seit der Vorbereitung der UNGASS Konferenz von 2016 werden andere UNO-Organisationen (wie UNAIDS oder das Hochkommissariat für Menschenrechte mit Sitz in Genf) sowie NGO’s in die Drogendebatte einbezogen, die bis dato von den in Wien ansässigen UN „Drogenorganisationen“ dominiert, wenn nicht monopolisiert gewesen war. Drogenpolitik wurde in den Kontext der nachhaltigen UN-Entwicklungsziele (oder Agenda 2030) gestellt – zumindest in den Debatten. Im August 2023 legte das Büro des Menschenrechts-Hochkommissars einen Bericht über Herausforderungen für die Menschenrechte bei der Drogenbekämpfung vor. Der kolumbianische Außenminister Murillo erkannte auf dem genannten side event sofort, den Gegensatz zwischen Wien und Genf. Und die frühere Bundespräsidentin der Schweiz, Ruth Dreyfuss, plädierte für eine dringend notwendige „Kommunion“ der Ansätze , wie sie es formulierte. Es ist hohe Zeit, dass daraus Wirklichkeit wird. Nicht nur in den Diskursen, sondern in der Praxis.


(1) Auf der alljährlich in Wien stattfindenden „Commission“ kommen die Delegierten der Mitgliedsländer zusammen, um die internationale Drogenpolitik zu diskutieren und zu gestalten. Das erwähnte side event (Human rights in global drug policy and the case of the current classification of coca leaf in the 1961 single convention: A debate on the implementation and effectiveness of the international drug control regime) fand am 14. März 2024 statt. Am Podium saßen neben Laura Gil, der bolivianische Vizepräsident David Choquehuanca, der kolumbianische Außenminister Luis Gilberto Murillo, die ehemalige Bundespräsidentin der Schweiz, Ruth Dreyfuss (als Mitglied der Global Commission on Drug Policy) sowie der UN Hochkommissar für Menschenrechte, der Österreicher Volker Türk.

(2) Der World Drug Report 2023 des UNODC nennt für Bolivien 30.500 Hektar und für Peru 80.681 Hektar, was zusammengenommen 315.481 Hektar ergibt. Die Zahlen sind von daher inkonsistent bzw. die Addition fehlerhaft.

(3) Das Bureau for International Narcotics Matters and Law Enforcement Affairs (INL) im State Department wurde 1978 gegründet und 1995 zum heutigen Namen umbenannt. Insgesamt ist das Anti-Drogen-Budget der USA noch erheblich höher und in seinen internationalen Aspekten auf State Department (INL und USAID), Justiz- (DEA) und Verteidigungsministerium verteilt.

(4) Eine auch methodologische Auseinandersetzung mit dem Thema stellt fest: „...that coca cultivation area, number of cattle, and municipality area are the top three drivers of deforestation…“ und die Gewichtung dieser Faktoren sei „highly context-specific“. (Ganzenmüller/Sylvester/Castro-Nuñez: „What Peace Means for Deforestation: An Analysis of Local Deforestation Dynamics in Times of Conflict and Peace in Colombia“ in: Frontiers in Environmental Science Vol. 10, Bucharest, 21.2.2022

(5) UNODC: Monitoreo de los territorios con presencia de cultivos de coca 2022, Bogotá/ Viena, Septiembre 2023.

(6) Arrieta/ Orejuela/ Sarmiento Palacio/ Tokatlián: „Narcotráfico en Colombia“, Bogotá, 1990.


Volker Türks bemerkenswerte Rede auf dem erwähnten side event : www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2024/03/war-drugs-has-failed-says-high-commissioner

Sein Statement vor dem Plenum:

www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2024/03/turk-urges-transformative-change-global-drug-policy


Foto: Verurteilte Drogenkurierin, Frauengefängnis Bogotá 1990. Noch immer werden Haftanstalten mit Kleinkriminellen vollgestopft. 

© Robert Lessmann


Weitere Beiträge zum Thema weiter unten in diesem Blog, insbesondere:

www.robert-lessmann.com/proceso-de-paz-y-guerra-contra-las-drogas-en-colombia-sostenibilidad-y-alter...

www.robert-lessmann.com/kolumbien-drogenbekaempfung-und-friedensprozess

www.robert-lessmann.com/drogenpolitik-augen-zu-und-weiter-so

von © Robert Lessmann Dr 12 März, 2024

Álvaro García Linera kennt die politische Realität Lateinamerikas aus Theorie und Praxis. Er wurde 1962 in Cochabamba/ Bolivien geboren. Soziologie studierte der gelernte Mathematiker als Autodidakt während einer fünfjährigen Untersuchungshaft, die er ab 1992 als Mitglied des Ejército Guerillero Túpac Katari (EGTC) verbüßte. Für sein politisches Denken war neben Karl Marx und Antonio Gramsci auch der Vordenker des bolivianischen „Indianismus“ Fausto Reinaga von großer Bedeutung. Nachdem er ohne Urteilsspruch entlassen wurde, arbeitete er als Hochschullehrer und wurde einer der gefragtesten Talkshowgäste und politischen Analytiker. Zentral für sein politisches Denken blieb stets die Frage der indigenen Emanzipation. Im Jahr 2005 wurde er an der Seite von Evo Morales zum Vizepräsidenten seines Landes gewählt, ein Amt, das er bis zu beider Sturz im November 2019 innehatte. (Bild von der Amtseinführung im Januar 2006.) Gemeinsam wurden sie ins Exil gezwungen. Nach der Rückkehr der Regierungspartei Movimiento al Socialismo (MAS) an die Macht, kehrte auch er nach Bolivien zurück, hält sich aber im Gegensatz zu Evo Morales aus der Tagespolitik heraus.


García Linera sieht Lateinamerika – und die Welt – in einer Übergangsphase. Sie sei von Unklarheit und Instabilität gekennzeichnet, wo eine „monströse Rechte“ die Bühne betrete, was wiederum in gewisser Weise eine Folge der Defizite progressiver Kräfte sei. Er nennt diese Zeit „tiempo liminar“. Andere Autoren sprechen vom Kampf zwischen progresismo und Regression. Die Linke, so García Linera, müsse kühner sein und einerseits mit historischer Verantwortung Antworten auf die profunden Fragen an der Basis des sozialen Zusammenhalts geben und andererseits die Sirenengesänge der neuen Rechten neutralisieren. Sie müsse bei grundlegenden Reformen zu Fragen der Eigentumsverhältnisse weiterkommen, bei Steuern, bei der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung des Wohlstands und der Wiedergewinnung der Ressourcen zum Wohle der Gesellschaft. Nur so werde man, ausgehend von den grundlegendsten Forderungen der Gesellschaft und realen Fortschritten bei der Demokratisierung, die Ultrarechten in die Schranken weisen.


Politische Schubumkehr

Das Jahrhundert hatte mit einer Dominanz progressiver Regierungen begonnen. Mit dem Wahlsieg von Mauricio Macri in Argentinien habe 2015 gewissermaßen eine Schubumkehr in Lateinamerika eingesetzt. Andere Länder, wie Brasilien und Honduras, folgten. Teilweise wurden diese Rechtsregierungen inzwischen wieder von progressiven ersetzt. García Linera sieht das als Ausdruck einer Umbruchphase des zeitgenössischen Kapitalismus – Gramsci hatte von „Interregnum“ gesprochen –, wo sich Wellen und Gegenwellen ablösen ohne dass sich eine Tendenz durchsetzt. Lateinamerika habe damit eine Entwicklung vorweggenommen, die wir heute auf der ganzen Welt beobachten können. Der Halbkontinent erlebte eine intensive progressive Welle, die von einer konservativen Gegenbewegung gefolgt wurde und dann von einer neuerlichen progressiven. Möglicherweise, so García Linera, werden wir sehen, dass sich eine solche Abfolge kurzfristiger Wechsel noch fünf bis zehn Jahre fortsetzt, bis sich ein neues Modell der Akkumulation und Legitimation durchsetzt, das neue Stabilität für Lateinamerika und die Welt bringt. Insoweit das nicht geschieht, werden wir in einem Wirbel der Zeit des Interregnums feststecken. Man erlebe progressive Wellen, ihre Erschöpfung, konservative Gegenreformen, neue progressive Wellen. Und jede dieser Wellen sei verschieden von der anderen. „Milei ist unterschiedlich zu Macri, obwohl er manches von ihm übernimmt. Alberto Fernández, Gustavo Petro und Manuel López Obrador unterscheiden sich auch von ihren Vorgängern, obwohl sie einen Teil von deren Erbe übernehmen“, stellt García Linera fest: „Und so wird es weiter gehen bis sich eines Tages eine neue Weltordnung definiert, denn diese Instabilität und dieses Leid können nicht endlos sein“, meint er. Im Grunde würden wir einen zyklischen Niedergang des Akkumulationsmodells sehen, wie wir das bereits nach der liberalen Phase des Kapitalismus (1870-1920), der staatskapitalistischen (1940-1980) und der neoliberalen (1980-2010) gesehen haben, argumentiert er in Anlehnung an Nicolai Kondratiews Theorie der Wirtschaftszyklen. Das Chaos sei Ausdruck des historischen Niedergangs und des Kampfes um ein neues und dauerhaftes Modell der Akkumulation, das wieder Wachstum und sozialen Zusammenhalt bringt.


Polarisierung

Die Rechte verwende dabei Praktiken, die man glaubte überwunden zu haben, wie Putsche, politische Verfolgung, Mordversuche. Zu dieser Übergangszeit gehöre, dass die politischen Eliten auseinanderdriften. Wenn die Dinge gut liefen, wie etwa bis zur Jahrtausendwende, fänden sie sich um ein Akkumulations- und Legitimationsmodell zusammen. Die Linke mäßigt sich, „neoliberalisiert“ sich, obwohl es immer eine radikale Linke ohne Publikum geben wird. Die Rechten streiten unter sich. Wenn der Niedergang beginnt, tauche die extreme Rechte auf und werde stärker. Die extreme Rechte fresse die moderate Rechte auf, und die radikale Linke trete aus ihrer Marginalität und politischen Bedeutungslosigkeit. Sie gewinne an Resonanz und Publikum. Sie wachse. „Im Interregnum ist das Auseinanderdriften der politischen Projekte die Regel, weil es bei der Suche nach Lösungen für die Krise der alten Ordnung Dissidenten auf beiden Seiten gibt“, konstatiert er. Die rechte Mitte, die den Halbkontinent und die Welt über 30 oder 40 Jahre regiert hat, finde keine Antworten mehr auf die deutlichen Fehler des globalisierten, neoliberalen Kapitalismus und die Zweifel und Ängste der Menschen. Es tauche eine extreme Rechte auf, die weiter das Kapital verteidigt, die aber glaubt, dass die alten Rezepte nicht mehr genügen und man die Gesetze des Marktes mit Gewalt durchsetzen müsse. Sie will die Menschen domestizieren, wenn nötig mit Gewalt, um zu einem reinen, ursprünglichen freien Markt ohne Zugeständnisse und Doppelbödigkeiten zurückzukehren. Sie konsolidiert sich, indem sie von Autorität, von Schocktherapie des freien Marktes und Reduzierung des Staates spricht. Und wenn es dagegen soziale Widerstände gibt, müsse man dem mit Stärke und Zwang begegnen, und wenn nötig auch mit Staatsstreich und Massakern, um die Widerspenstigen, die sich der Rückkehr zur guten Gewohnheit des freien Unternehmertums und des zivilisierten Lebens widersetzen, zu disziplinieren: mit den Frauen am Herd, den Männern, die befehlen, den Chefs, die entscheiden und den Arbeitern, die schweigend ihre Arbeit tun. Ein weiteres Symptom des liberalen Verfalls tritt zu Tage, wenn sie nicht mehr überzeugen und verführen können, sondern Zwang brauchen, was bedeutet, dass sie bereits dem Untergang geweiht sind. Nichtsdestoweniger bleiben sie gefährlich.


Angesichts dessen könnten die progressiven Kräfte und die Linke nicht nachgiebig sein und versuchen, es allen sozialen Sektoren und Fraktionen recht zu machen. Die Linke tritt in der Übergangszeit aus ihrer Marginalität heraus, indem sie sich als Alternative zum wirtschaftlichen Desaster präsentiert, das vom unternehmerischen Neoliberalismus verursacht wird. Ihre Funktion könne es nicht sein, einen Neoliberalismus „mit menschlichem Antlitz“ einzuführen, einen grünen oder progressiven Neoliberalismus. „Die Menschen gehen nicht auf die Straße oder wählen die Linke, um den Neoliberalismus zu verzieren. Sie mobilisieren sich und wechseln radikal ihre alten politischen Bindungen, weil sie ihn satt haben und ihn loswerden wollen, weil er nur einige wenige Familien und Unternehmen reich gemacht hat. Und wenn die Linke es nicht schafft, sich als Alternative zu präsentieren, ist es unausweichlich, dass die Menschen sich der extremen Rechten mit ihren (illusorischen) Auswegen aus der allgemeinen Misere zuwenden“, fürchtet García Linera. Dazu müsse die Linke, wenn sie die Rechte aus dem Feld schlagen will, Antworten auf die drängenden Fragen geben. Sie muss die Armut der Gesellschaft bekämpfen, die Ungleichheit, die Unsicherheit der Dienstleistungen, Bildung, Gesundheit, Wohnen. Und um die materiellen Bedingungen dafür zu schaffen, muss sie radikal sein in ihren Reformen zu Fragen des Eigentums, der Steuerpolitik, der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung des Wohlstands, der Wiedergewinnung der gemeinsamen Ressourcen zum Wohle der Gesellschaft. Zurückhaltung dabei wird die sozialen Krisen vergrößern. Angesichts des Ausmaßes der Krise wird moderates Vorgehen die Extreme stärken. Wenn es die Rechten tun, stärken sie die Linken und umgekehrt. Worum es geht, sind wirtschaftliche und politische Reformen, die zu sichtbaren und dauerhaften materiellen Verbesserungen der Lebensbedingungen für die gesellschaftliche Mehrheit führen, zu einer größeren Demokratisierung der Entscheidungen, einer größeren Demokratisierung des Reichtums und der Eigentumsverhältnisse. Die Eindämmung der extremen Rechten wird nicht einfach ein Diskurs sein, sondern in einer Reihe von praktischen Maßnahmen zur Verteilung des Reichtums bestehen, die es erlauben, die wichtigsten Ängste und Forderungen der Bevölkerung anzugehen: Armut, Inflation, Unsicherheit, Ungleichheit. Man darf nicht vergessen, dass das Erscheinen der extremen Rechten ja eine pervertierte Antwort auf diese Ängste ist. „Je mehr du den Reichtum verteilst, desto mehr betrifft das die Privilegien der Mächtigen, aber die bleiben bei deren wütender Verteidigung in der Minderheit, während sich die Linke in dem Maße konsolidiert, wie sie sich um die grundlegenden Bedürfnisse des Volkes kümmert“, sagt der Exvizepräsident.


Analyse statt Etikettierung

Was ist nun neu an der neuen Rechten? Soll man sie faschistisch nennen oder was sonst? Bauen sie an einem postdemokratischen Labor, nicht zuletzt in den USA? Ohne Zweifel tendiere die liberale Demokratie – als bloßer Austausch der Eliten durch das Volk – zu autoritären Formen. Wenn sie manchmal Früchte einer sozialen Demokratisierung hervorgebracht habe, so war es durch das Wirken anderer demokratischer Formen von unten, wie Gewerkschaften, landwirtschaftlichen Organisationen, Stadtteilkomitees, unterstreicht der Soziologe. Wenn man aber die liberale Demokratie sich selbst überlasse, als bloße Auswahl der Regierenden, tendiere sie zur Konzentration von Entscheidungen, zu dem, was der Nationalökonom Josef Schumpeter ‚Demokratie als bloße Auswahl der Regierenden, die über die Gesellschaft entscheiden‘ nannte und was eine autoritäre Form der Konzentration von Entscheidungen ist. Und dieses Monopol autoritärer Entscheidungen, fallweise auch ohne die Auswahl aus den Eliten ist es, was die extreme Rechte auszeichnet. Daher gibt es keinen Antagonismus zwischen der liberalen Demokratie und der extremen Rechten. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass sie durch Wahlen an die Macht kommt. „Was die liberale Demokratie am Rande und lustlos erlaubt, die extreme Rechte aber offen ablehnt, sind andere Formen der Demokratisierung von unten, wie Gewerkschaften, Stadtteilversammlungen, ländliche Organisationen, kollektive Aktionen. In diesem Sinne sind die extremen Rechten antidemokratisch“, sagt García Linera. Sie erlauben nur, dass man aus ihren Reihen jemanden wählt, der regiert, lehnen aber andere Formen der Teilhabe und der Demokratisierung des Reichtums ab, die sie als Beleidigung ansehen, als Absurdität, die man mit der Ordnungsmacht und Zwangsdisziplinierung bekämpfen muss. Ist das Faschismus? „Schwer zu sagen,“ meint García Linera. Es gebe dazu eine akademische Debatte, aber die politischen Auswirkungen sind eher klein. Die Generation über 60 in Lateinamerika erinnere sich vielleicht noch an die faschistischen Militärdiktaturen, aber der jüngeren Generation sage es nicht viel, vom Faschismus zu reden. Er ist nicht gegen diese Debatte, sieht sie aber nicht als sehr nützlich an. Der soziale Erfolg oder die Ablehnung von Forderungen der extremen Rechten hänge schließlich nicht von alten Symbolen ab, sondern von der Antwort auf die sozialen Ängste. Problematisch sei es indessen, sie als faschistisch zu bezeichnen ohne zu bedenken, auf welche kollektiven Forderungen sie antworten oder vor dem Hintergrund welchen Scheiterns sie auftauchen. Bevor man ihnen Etikette umhängt, sei es besser über die sozialen Bedingungen für ihr Auftauchen nachzudenken. Persönlich spricht er lieber von der extremen oder der autoritären Rechten.


Ob man Milei einen Faschisten nennen soll? Zuerst solle man sich fragen, warum er gewonnen hat, wer ihn gewählt hat, als Reaktion auf welche Sorgen. Ihm ein Etikett umzuhängen, erlaubt moralische Ablehnung, aber es hilft nicht, die Realität zu verstehen oder zu verändern. Wenn die Antwort ist, dass Milei sich auf die Ängste einer verarmten Gesellschaft beruft, dann ist klar, dass Armut das Thema ist. Darauf muss der p rogresismo und die Linke eine Antwort geben und die extreme Rechte oder (wenn man so will) den Faschismus stoppen. Man muss die Probleme erkennen, mit denen die extreme Rechte in der Gesellschaft Anklang findet, denn ihr Anwachsen ist auch ein Symptom für das Scheitern der Linken und der Progressiven. Sie tauchen nicht aus dem Nichts auf, nachdem die Progressiven nicht sahen, nicht bereit waren, konnten oder wollten, die Frage der Klasse, der prekären Jugend, die Bedeutung der Armut, der Wirtschaft zu verstehen und über jene des Rechts auf Identität zu stellen. Man müsse verstehen, dass das Grundproblem die Wirtschaft ist, die Inflation, „das Geld, das dir in der Tasche schmilzt“. Man dürfe nicht vergessen, dass auch die Identität eine Dimension der wirtschaftlichen und politischen Macht hat, die sie an Unterordnung bindet. In Bolivien eroberte beispielsweise die indigene Identität Anerkennung zunächst durch die Übernahme der politischen Macht und dann schrittweise wirtschaftlicher Macht innerhalb der Gesellschaft.


Schlüsselfrage Informalität

Das grundlegende soziale Verhältnis der modernen Welt ist Geld, entfremdet, aber immer noch fundamental, das, wenn es dir wegschmilzt, auch deinen Glauben und deine Treue auflöst. Das ist das Problem, das die Linke zuerst lösen muss. Dann komme der Rest, befindet García Linera. Wir befinden uns in einer historischen Zeit, wo der p rogresismo auftaucht und die extreme Rechte. Die klassische, neoliberale, universalistische Rechte verfällt, und zwar wegen der Wirtschaft. Aber die Gesellschaft, deren wirtschaftliche Probleme die alte Linke der 50er und 60er Jahre und der p rogresismo der ersten Welle (im neuen Jahrtausend) anging, hat sich verändert. Die Linke hat sich immer um die formale, entlohnte, arbeitende Klasse gekümmert. Heute ist die informelle arbeitende Klasse für den p rogresismo eine große Unbekannte. Die Welt der Informalität, die man auch unter dem Begriff „la economía popular“ versteht, ist für die Linke ein schwarzes Loch. Dafür hat sie keine produktiven Vorschläge. In Lateinamerika umfasst dieser Sektor aber bis zu 60 Prozent der Bevölkerung. Und es handelt sich nicht um eine vorübergehende Erscheinung, die bald in der formellen Wirtschaft aufgehen würde. Nein, die gesellschaftliche Zukunft wird eine mit Informalität sein, mit diesen kleinen Arbeitern, diesen kleinen Bauern, diesen kleinen Unternehmern, verbunden durch familiäre Bindungen und kuriose lokale und regionale Wurzeln, wo die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit nicht so klar sind wie im formellen Unternehmen. Diese Welt wird noch in den nächsten 50 Jahren existieren und sie schließt in Lateinamerika die Mehrheit der Bevölkerung ein. „Was sagst Du diesen Menschen? In welcher Weise kümmerst du dich um ihr Leben, ihr Einkommen, ihre Lebensbedingungen, ihren Konsum? Das sind die Schlüsselthemen für die Progressiven und die zeitgenössische Linke in Lateinamerika. Was bedeutet das? Mit welchen Werkzeugen macht man das?“, fragt der Politiker und Soziologe. Natürlich mit Enteignungen, Nationalisierungen, mit Umverteilung des Reichtums, Erweiterung der Rechte. Das sind die Werkzeuge, aber das Ziel muss die Verbesserung der Lebensbedingungen dieser 80 Prozent der Bevölkerung sein, gewerkschaftlich organisiert oder nicht, formell oder informell, die „lo popular“ in Lateinamerika darstellen, meint García Linera. Und das außerdem mit einer größeren Beteiligung an den Entscheidungen. Die Leute wollen gehört werden, wollen teilnehmen. Das vierte Thema ist die Umwelt, Umweltgerechtigkeit mit sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit, nie getrennt und nie vorweg.


Kolumbien als Vorreiter

Zur Frage nach dem Kontext und der Rolle des Gastlandes, Kolumbien, sagt García Linera: „Wenn man sich die Vorgeschichte Kolumbiens ansieht, wo wenigstens zwei Generationen von Aktivisten und Kämpfern für soziale Gerechtigkeit von Ermordung bedroht waren und ins Exil gehen mussten, wo Formen legaler kollektiver Aktionen vom Paramilitarismus in die Enge getrieben wurden und wo die USA versuchten, nicht nur aus dem Staat eine Militärbasis zu machen, sondern das Land auch kulturell zu vereinnahmen, ist es nur heroisch zu nennen, dass ein Kandidat der Linken hier an die Regierung gewählt worden ist. Und klar, wenn man das machtvolle Sediment des ‚tiefen Kolumbien‘ (colombia profunda) erfühlt, das in den Gemeinschaften und den Stadtteilen keimt, versteht man die soziale Explosion von 2021 und das „Warum“ dieses Wahlsiegs.“ Dass ihm kollektive soziale Mobilisierungen vorausgingen, habe einen gesellschaftlichen Raum für Reformen geschaffen. Daher sei die Regierung von Präsident Gustavo Petro heute die radikalste dieser zweiten progressistischen Welle auf dem Halbkontinent.


Zwei Aktionen machen die Regierung von Gustavo Petro zur Vorhut: Eine Steuerreform mit progressivem Charakter, womit jene, die mehr haben auch höhere Steuern bezahlen. In der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten ist die wichtigste Steuer die Mehrwertsteuer, die eine höhere Last für die darstellt, die am wenigsten haben. An zweiter Stelle steht die Energiewende. Kein Land auf der Welt, schon gar nicht die, die sie am meisten kontaminieren – die USA, Europa, China – hat über Nacht die fossilen Brennstoffe aufgegeben. Man hat sich vielmehr Jahrzehnte zum Übergang vorgenommen und will immer noch einige Jahre lang mit einer Rekordproduktion dieser Brennstoffe leben. Kolumbien gehört zusammen mit Dänemark, Spanien und Irland zu den einzigen Ländern auf der Welt, die neue Exploration von Erdöl verbieten. Im Fall Kolumbiens ist es besonders relevant, weil Erdölexporte mehr als die Hälfte des Exportvolumens ausmachen, was diese Entscheidung zu einer sehr kühnen und weltweit sehr fortschrittlichen macht. „Es handelt sich um Reformen, die dem Leben verpflichtet sind und die den Weg ausleuchten, den andere Progressive über kurz oder lang auch gehen müssen.“ Man dürfe jedoch die kontinuierliche Verbesserung der Einkommen der kolumbianischen Unterschichten nicht aus dem Blick verlieren, weil jede Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit nichts als liberale Umwelttümelei sei. Das verlange eine millimetergenaue Abstimmung zwischen dem, was die Regierung in den nächsten Jahren an Einkommen verlieren wird, und der Erschließung neuer Einkommen, sei es durch andere Exporte, höhere Steuern für die Reichen und spürbaren Verbesserungen der Lebensbedingungen für die Mehrheit des Volkes.


Was die Rolle Lateinamerikas und der Karibik in der Welt betrifft, meint García Linera: Am Beginn des 21. Jahrhunderts habe Lateinamerika den ersten Gongschlag für die Erschöpfung des neoliberalen Zyklus gegeben. Hier lag der Beginn der Suche nach einer hybriden Mischung aus Protektionismus und Freihandel. „Heute ist die Welt im Wandel hin zu einem Regime der Akkumulation und der Legitimation, das den neoliberalen Globalismus ablöst – trotz der melancholischen Rückfälle in einen Paleo-Neoliberalismus wie in Brasilien unter Bolsonaro und in Argentinien unter Milei.“ Trotzdem sei der Halbkontinent heute etwas zu erschöpft. Es scheint, als müsse der postneoliberale Übergang erst im globalen Maßstab voranschreiten, damit Lateinamerika seine Kräfte erneuert, um den ursprünglichen Antrieb wieder aufzunehmen. Die Möglichkeit postneoliberaler Strukturreformen der zweiten Generation – oder noch radikalerer – die die transformatorische Kraft auf dem Kontinent wiedererlangen, wird auf größeren Wandel in der Welt warten müssen, und natürlich auf eine Welle kollektiver Aktionen von unten, die das Feld der denkbaren und der möglichen Transformationen verändern. Soweit dies nicht geschieht, würde Lateinamerika ein Szenario von Pendelschläge zwischen kurzfristigen Siegen des Volkes und kurzfristigen Siegen der Konservativen, zwischen kurzfristigen Niederlagen des Volkes und solcher der Oligarchien sein.


Das ursprüngliche Interview führte die kolumbianische Politologin, Feministin und Aktivistin Tamara Ospina Posse. Übersetzung und Zusammenfassung: Robert Lessmann

Zahlreiche Beiträge zur politischen Situation in Bolivien, dem Heimatland von García Linera, finden sich weiter unten in diesem Blog.

von © Robert Lessmann Dr 07 Jan., 2024

Es war Anfang des letzten Jahrzehnts in der Wiener UNO City. Juri Fedotow, ehemaliger Vizeaußenminister Russlands und diplomatisches Schwergewicht, war unlängst Chef des Drogenkontrollprogramms der Vereinten Nationen (UNODC – United Nations Office on Drugs and Crime) geworden, ein Posten, den er von 2010 bis 2020 innehatte. Als solcher leitete er höchstpersönlich eine Pressekonferenz, auf der eine internationale Initiative zur Drogenbekämpfung in Afghanistan vorgestellt wurde. Mit 123.000 Hektar war das Land am Hindukusch zum mit Abstand größten Produzenten geworden. Mit einem ausgewogenen Ansatz („balanced approach“) sollten unter anderem die Bauern vom Schlafmohn weg zur Produktion legaler Alternativen geleitet werden. Vielversprechend war vor allem die Beteiligung der Nachbarländer an Kontrollmaßnahmen und Fahndung, denn Afghanistan ist ein Binnenland. Der Weg auf die lukrativen Absatzmärkte führt über die Grenzen. Von den wichtigsten Anbauregionen im Süden (Provinzen Helmand und Kandahar) wurde der Export zu etwa zwei Dritteln nach Westen in den Iran und die Türkei abgewickelt, und dann über die Balkanroute nach Europa. Zu etwa einem Drittel  ging die illegale Ware über Hunderte von Kilometern auf einem prekären, gleichwohl aber übersichtlichen Straßensystem (Dschungel gibt es keinen) und über eine Handvoll Grenzübergänge in die ehemaligen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan nach Norden. Ehemalige Ostblockländer – allen voran Russland – waren inzwischen ebenfalls zu wichtigen Absatzmärkten vor allem für minderwertige Ware („Kompott“) geworden. Kein Vergleich also zu südamerikanischen Kokainspediteuren, die mit Flugzeugen, Hubschraubern und U-Booten operieren. Doch nicht einmal dies zu unterbinden gelang: Beschlagnahmungen in Afghanistan gingen gegen Null und Korruption spielte eine wesentliche Rolle dabei.


Fundamentales Scheitern

Zurück zur Pressekonferenz, an deren Ende niemand eine Frage stellte. Um das peinliche Schweigen zu durchbrechen, fragte ich, wer sich denn mit welchen Summen der Initiative angeschlossen habe - und vergrößerte damit die Verlegenheit. Bislang hatte die neue Strategie nämlich noch keinerlei zählbare Unterstützung verbuchen können.


Dass die westliche Sicherheitskooperation fundamental scheitern würde, hatte man im Drogenbereich lange vor der „überraschenden“ Machtübernahme durch die Taliban im Sommer 2021 sehen können. Als Juri Fedotow den Chefsessel des UNODC übernahm, war Afghanistan mit 123.000 Hektar bereits der mit Abstand wichtigste Schlafmohnproduzent. Und während die legale (Land-) Wirtschaft keinerlei Dynamik­ entfaltete, kletterte der Anbau weiter von einem Rekord zum nächsten, gebremst nur durch Marktsättigung und gelegentliche Missernten, etwa durch Trockenheit, wie in den Jahren nach dem Allzeithoch von 2017.


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Schlafmohnproduktion in Afghanistan (Hektar in ausgewählten Jahren)

1995  2000  2001 2002    2010     2017    2020   2022  2023

55.759 82.171 7.606  74.100   123.000   328.000  224.000 233.000 10.800

Quelle: UNODC: World Drug Report, Vienna, verschiedene Jahrgänge und UNODC: Afghanistan Opium survey 2023.

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Heute wirbt das UNODC abermals um Unterstützung für Afghanistans Bauern, um den drogenpolitischen Erfolg zu stabilisieren. Beides hat freilich nur geringe Aussichten auf Erfolg, denn das Emirat der Taliban ist Schlusslicht bei allen Menschenrechtsstandards, bekanntermaßen insbesondere was die Lage der Frauen betrifft, und wird von Gebern gemieden. Ihr Dekret „Prohibition of Poppy Cultivation and All Types of Narcotics“ vom 3. April 2022 umfasst nicht nur Anbau, sondern auch Konsum, Transport, Verarbeitung, Handel, Import und Export – und zwar aller Drogen. Am 8. März 2023 wurde es durch ein explizites Cannabis-Verbot noch einmal bekräftigt. Ein solches Verbot galt zwar auch schon vorher unter westlicher Aufsicht. Offenbar aber verfügten die Machthaber damals über geringe Autorität, Legitimität oder politischen Willen. Jedenfalls sind nach dem Dekret der Taliban die Anbauflächen von 233.000 Hektar (2022) auf 10.800 Hektar (2023) zurückgegangen. Umgerechnet in Opium entspricht das einem Rückgang von 6.200 Tonnen auf 333 Tonnen, in Heroin rein rechnerisch von 350-480 Tonnen auf 24-38 Tonnen (bei einer durchschnittlichen Reinheit der Exportware von 50-70 Prozent).


Für die leidgeprüften Menschen und die kollabierte Volkswirtschaft bedeutet das eine riesige Herausforderung. Schon vor der abermaligen Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war die Hälfte der Bevölkerung auf externe Hilfe angewiesen, und die Nahrungsmittelimporte waren genauso hoch wie die Eigenproduktion. Doch für diese Importe fehlt nun das Geld. Afghanistans Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist während der Herrschaft der Taliban gesunken: Um 20,7 Prozent im Jahr 2021 und um weitere 3,6 Prozent in 2022. Fast 80 Prozent der Bevölkerung leben von der Landwirtschaft, die in den letzten Jahren auch noch von Wasserknappheit betroffen war. Man durchlebt dort gerade einen weiteren Hungerwinter. Die Vereinten Nationen schätzen, dass der Rückgang der Schlafmohnproduktion für die bäuerlichen Produzenten Einkommenseinbußen von 1.360 Mio. US Dollar (USD – 2022) auf nunmehr 110 Mio. USD (2023) bedeutet. Eine schnelle Umstellung auf Weizen wäre problemlos möglich, für die defizitäre Nahrungsmittelversorgung wichtig und lässt sich in der Tat auch vielfach beobachten, brächte aber Einkommenseinbußen von rund 1 Mrd. USD mit sich. Im Jahr 2022 machten die Einkommen aus dem Opiumanbau 29 Prozent des gesamten Agrarsektors aus. Für die krisengeschüttelte afghanische Volkswirtschaft lagen die Exporterlöse des Opiumsektors stets über denen der legalen Exporte von Gütern und Dienstleistungen. Im Jahr 2021 betrugen sie schätzungsweise zwischen 1,4-2,7 Mrd. USD, was 9-14 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts entsprach, heute liegen sie bei 190-260 Mio. USD. Ob sich diese Einbußen auf Dauer verkraften lassen? Bei einer Gesamtbevölkerung von rund 40 Millionen Menschen stellt die Abschiebung von 4,4 Millionen aus Pakistan in ihr Heimatland eine zusätzliche Herausforderung dar. Und nun will auch der Iran afghanische Flüchtlinge loswerden. Das Opiumgeschäft war Afghanistans wichtigster und sicherster Wirtschaftszweig und fungierte so auch als Kreditsicherheit. Die Vereinten Nationen berichten, dass Bauern nun eine im Rahmen der „Alternativen Entwicklung“ geplante Umstellung auf einträglichere Produkte als Weizen, wie zum Beispiel Granatapfel, Mandeln, Pistazien und Asant, mangels Liquidität nicht mehr schaffen, denn die erfordert Investitionen und Geduld.


Unklare Konsequenzen

Bei der verbleibenden Schlafmohnproduktion im Land, vor allem in der Provinz Kandahar, lässt sich ein Trend zu kleineren, versteckten Flächen beobachten. In den vergangenen Jahren wurden 40-60 Prozent der Ernte in Form von Rohopium exportiert. Über die Qualität der Weiterverarbeitung zu Heroin im Lande selbst ist wenig bekannt. Sie dürfte stark variieren. Während die Herstellung von Heroin in Afghanistan allem Anschein nach zurückgeht, deutet vieles darauf hin, dass Händler nun Lagerbestände verkaufen – und die dürften nach Ansicht des UNODC nach mehreren aufeinanderfolgenden Rekordernten beträchtlich sein. Die allermeisten Bauern verkaufen ihre Ernte aber direkt und nur wenige verfügen über solche Bestände. Die Verknappung dürfte also nicht zuletzt größeren Produzenten und Drogenhändlern zugute kommen. In der Tat waren die farmgate-Preise für ein Kilogramm getrocknetes Opium im August 2023 mit 408 USD fünfmal höher als zwei Jahre vor der Machtübernahme durch die Taliban, als die Preise aufgrund immer neuer Rekordernten relativ niedrig waren.


Um die Auswirkungen auf den internationalen Drogenmärkten abzuschätzen sei es noch zu früh, sagt das UNODC. Normalerweise braucht es ein bis zwei Jahre, bis die Opiate zu den Konsumentenmärkten gelangen. Und auf dem Weg dorthin, dürfte es reichhaltige Lagerbestände geben. Theoretisch wäre eine Angebotsverknappung, ein Preisanstieg und sinkende Reinheit der Ware denkbar. Auch eine Hinwendung der Konsumenten zu billigeren und potenteren synthetischen Ersatzdrogen wie Fentalyl wäre zu befürchten. Fentanyl ist 100 Mal potenter als Morphin und wird häufig dem Heroin auch beigemischt. Fentanyl-Überdosen sind heute die häufigste Todesursache für US-Amerikaner zwischen 18 und 45 Jahren. Europa ist davon weit entfernt, doch Probleme mit Fentanyl nehmen auch hier zu.


Schließlich könnten mittelfristig andere Anbaugebiete die Lücke füllen. Bevor afghanische Mudschaheddin-Gruppen in den 1980er Jahren Opium als probates Produkt zur Finanzierung ihres Kampfes gegen die sowjetischen Besatzer entdeckten – und der Westen dies augenzwinkernd tolerierte – hatte der Anbau von Schlafmohn dort keine Rolle gespielt. Als die Taliban 1996 zum ersten Mal in Kabul einmarschierten erzeugte Afghanistan bereits zwei Drittel des Weltopiums. Beim vormaligen Marktführer Myanmar bröckelt heute die Herrschaft der Militärdiktatur. So erfreulich das ist, ein Machtvakuum würde ideale Bedingungen für eine mögliche Rückkehr der Drogenwirtschaft zu alter Größe dort schaffen. Myanmar ist schon heute wieder Nummer eins bei der Opiumproduktion. Und in Afghanistan selbst expandiert derweil die Produktion von Metamphetamin.


Wie dem auch sei: Ein erstes Anbauverbot durch die Taliban in den Jahren 2000/2001 hatte auf den Konsumentenmärkten keine Auswirkungen. Damals hatte man vermutet, die Taliban würden diese Maßnahme setzen, um auf der Grundlage voller Lagerbestände die Preise zu stabilisieren. Ob es ernst gemeint war, konnte man nicht mehr feststellen, denn Ende 2001 waren die Taliban durch die Operation „Enduring Freedom“ vertrieben und die Regierung Hamid Karzai auf der Petersberger Konferenz installiert. Der Opiumanbau war damals tatsächlich von 82.171 auf 7.606 Hektar gefallen. Aber 2002 hatte er bereits wieder alte Größenordnungen erreicht. Schlafmohn ist eine einjährige Pflanze. Zwischen Aussaat und Ernte liegen nur einige Monate. Weshalb also sollten die Taliban den dürren Halm kappen, an dem die Volkswirtschaft noch hängt? Aus religiösen Gründen, sagen sie heute wie damals. Vielleicht ist es einfach ein Versuch, mächtige Lokalfürsten und Warlords an die Kandare zu nehmen, die vom illegalen Geschäft profitier(t)en. Eine Frist erlaubte im letzten Jahr noch den Verkauf der Ernte 2022. Wie auch immer: Die Entscheidung ist problemlos reversibel.

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Blog

von © Robert Lessmann Dr 06 Apr., 2024

Wien im März 2024. Die kolumbianische Botschafterin war in ihrem Schlusswort sehr klar: „Als ich vor einem Jahr erstmals hier sprach, stellte ich mich mit den Worten vor: ‚Ich heiße Laura Gil. Ich komme aus Kolumbien und ich bin müde.‘“ Müde von der Gewalt, den Toten, den leeren Versprechungen. Ein Jahr später müsse sie sagen: „Wir sind heute 60 Länder und wir sind es leid!“


Laura Gil sprach auf einem so genannten side event im Rahmen der 67. UN Commission on Narcotic Drugs.(1) Obwohl eine Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen (UNGASS) zum Thema Drogen im Jahr 2016 eine flexiblere Auslegung der einschlägigen Konventionen versprochen hatte, sei in der Praxis alles so starr und bürokratisch geblieben wie eh und je, sagte Gil, die zuletzt als Vize-Außenministerin ihres Landes für multilaterale Beziehungen zuständig war. UNGASS 2016 war auf Initiative Mexikos, Kolumbiens und Guatemalas einberufen worden: Eine Überarbeitung des bisherigen Ansatzes der internationalen Gemeinschaft gegenüber Drogen könne nicht länger aufgeschoben werden, hieß es bereits in einer gemeinsamen Erklärung vom 1. Oktober 2012. Dabei müssten die Vereinten Nationen eine Führungsrolle übernehmen, um „alle Optionen zu analysieren, einschließlich regulierender – oder Marktmechanismen, um ein neues Paradigma zu etablieren, das den Ressourcenfluss zu Gruppen organisierter Kriminalität verhindert.“ Herausgekommen ist das Versprechen größerer Flexibilität. In der Tat wurden seither Entkriminalisierungs- und Regulierungsmodelle bei Cannabis toleriert.


Neustart als Rohrkrepierer

Zu einer energischen Schwerpunktsetzung beim Kampf gegen die organisierte (Gewalt-) Kriminalität und die Geldwäsche – wie es die Lateinamerikaner gefordert hatten – kam es jedoch nicht. Im Jahr 2011 hatte das Büro für Drogen und Verbrechensbekämpfung der Vereinten Nationen (UNODC) eine bahnbrechende Studie über Geldwäsche vorgelegt. Demnach lag deren jährliches Volumen damals zwischen 1,2 und 1,6 Billionen US Dollar. Der größte Anteil entfalle mit 350 Mrd. auf den Drogenhandel und dabei wiederum auf den mit Kokain, der besser organisiert und zentralisierter sei als der mit anderen illegalen Substanzen. Zum Vergleich: Der aktuelle Budgetentwurf der deutschen Bundesregierung liegt bei 470 Mrd. €. Der illegale Drogenhandel sei gewissermaßen das Rückgrat der internationalen organisierten Kriminalität, hieß es damals in UNODC-Papieren. Indes: Eine längst überfällige Aktualisierung dieser Studie ist nicht in Sicht. Unter dem damaligen Exekutivdirektor des UNODC, Antonio Maria Costa (2002-2010 - ein Banker übrigens), habe man sich dieses heiklen Themas angenommen. Seither fehle der politische Wille dazu, ist aus dem UNODC zu vernehmen.


Dabei wäre es sechs Jahrzehnte nach der Verabschiedung der maßgeblichen UNO Drogenkonvention und einem halben Jahrhundert von Washingtons federführendem „War on Drugs“ höchste Zeit, neue und innovative Wege einzuschlagen. Die Zahl der Drogenkonsumenten befindet sich auf Rekordniveau und wächst schnell weiter. Schneller noch wachsen die Opferzahlen, vor allem durch neue, im Labor hergestellte psychoaktive Substanzen. Überdosen mit dem künstlichen Opioid Fentanyl sind heute die häufigste Todesursache für Männer zwischen 18 und 45 Jahren in Nordamerika. Die Produktion der klassischen, pflanzengestützten Drogen Kokain (Grundstoff sind die Blätter des Kokabusches aus Bolivien, Kolumbien und Peru) und Heroin (Schlafmohn/Opium aus Afghanistan, Myanmar und Mexiko) befindet sich jeweils auf Rekordniveau. Sogenannte Neue Psychoaktive Substanzen drängen mit einer Schnelligkeit und Vielfalt auf den Markt, die schon ihre Erfassung und damit das Kontrollsystem der Drogenkonventionen über Listen kontrollierter Substanzen überfordert. Zusammen mit einer wachsenden Rolle des Darknet beim Handel schränkt das die Zugriffsmöglichkeiten der Exekutive drastisch ein. Therapie und Prävention scheinen die wesentlich effektiveren Instrumente zu sein. Doch in der Praxis dominiert allenthalben noch immer der repressive Ansatz über das Strafrecht.


Diese konventionelle Politik ist in Bausch und Bogen gescheitert. Es gab allenfalls regionale Schwerpunktverlagerungen. Inwieweit ein Anbauverbot der Taliban für Schlafmohn in Afghanistan vom April 2022 nachhaltig sein wird, bleibt vor dem Hintergrund voller Lagerbestände abzuwarten. Ein ebensolches Verbot vom Jahr 2000/2001 war es jedenfalls nicht. Immerhin ist aktuell ein Rückgang der dortigen Opiumproduktion um 95 Prozent zu verzeichnen. Zwanzig Jahre westlicher Sicherheitskooperation waren dagegen von einem stetigen Anwachsen des Anbaus in Afghanistan begleitet. Schon nimmt der Anbau beim vormals wichtigsten Schlafmohnproduzenten, Myanmar, rapide zu.


Das Epizentrum des Kokaanbaus verlagerte sich bereits in den 1990er Jahren aus den traditionellen Anbauländern Bolivien und Peru nach Kolumbien (ohne dort zu verschwinden oder auch nur nachhaltig vermindert zu sein) und zwischenzeitlich auch wieder zurück. Man spricht vom Ballon Effekt; Druck an einer Stelle führt zur Ausdehnung anderenorts. Heute befinden sich 204.300 Hektar Anbaufläche (von insgesamt 296.000) in Kolumbien (2). Die Schaltzentralen des Kokaingeschäfts verlagerten sich von Kolumbien nach Mexiko, doch produziert wird nach wie vor in Kolumbien, wo rund zwei Drittel der Kokainlabors entdeckt und zerstört werden. Mehr als von einer Verlagerung muss man also von einer Ausbreitung des illegalen Drogengeschäfts und der mit ihm verbundenen Probleme sprechen.


Ecuador, Kolumbien und der War on Drugs

Jüngstes Beispiel dafür ist Ecuador, das in einer Welle von Gewalt versinkt, wie die deutsche Tagesschau am 11. Januar 2024 titelte. Ecuador, dabei dachte man an Galapagos, den 6.263 Meter hohen Chimborazo, Charles Darwin und Alexander von Humboldt, ein stark von seiner indigenen Bevölkerung geprägtes Land und jenes mit der wahrscheinlich größten Artenvielfalt. Doch heute ist Ecuador ein wichtiges Transitland für Kokain geworden. Aus dem friedlichen und aufstrebenden Ecuador wurde eines der gefährlichsten Länder Lateinamerikas.


Wie kam es dazu? Ecuador hat mit Guayaquil einen großen Seehafen und eine fast 600 Kilometer lange Grenze zum Nachbarland Kolumbien, wo seit vielen Jahren etwa zwei Drittel des auf den illegalen Weltmärkten erhältlichen Kokains erzeugt werden. Ein halbes Jahrhundert War on Drugs , Milliarden von Dollars, US- Militärbasen und Sprühflugzeuge mit Glyphosat gegen Kokafelder haben daran nichts geändert. Älteren Leserinnen und Lesern sind die Namen Pablo Escobar, Carlos Lehder, die Ochoa-Familie und die Rodríguez-Orejuela in Erinnerung, das Cali- und das Medellín-Kartell (der völlig falsche Ausdruck übrigens, aber von der Journaille so eingebürgert) in Erinnerung, die Ende der 1980er, Anfang der 90er Jahre gegen ein Auslieferungsabkommen mit den USA anbombten. Allein drei Präsidentschaftskandidaten starben, dutzende Richter, Staatsanwälte, Journalisten wurden damals ermordet. Nach der Zerschlagung der mächtigen „Kartelle“ übernahmen Dutzende kleinere Organisationen das unvermindert boomende Geschäft, die nicht mehr über die Kontakte in die Anbauregionen in Bolivien und Kolumbien verfügten. Ungeachtet einer einsetzenden Besprühungskampagne mit Pflanzengift aus der Luft wurde Kolumbien in der zweiten Hälfte der 90er selbst zum wichtigsten Grundstoffproduzenten. Wirtschaftswissenschaftler nennen das Importsubstitution. Der Kokaanbau in Kolumbien verdreifachte sich. Und er breitete sich aus: Waren es zu Beginn der Besprühungen sechs Provinzen, so wurde zur Jahrtausendwende Koka in 23 der 33 kolumbianischen Departments angebaut.


Kokaanbau historisch in Hektar

        1986     1995     2000

Bolivien    25.800   48.600   14.600

Kolumbien   24.400   50.900   163.300

Peru     150.400   115.300    43.400

Total      200.440   214.800   221.300

Quelle: UNODCCP Global Illicit Drug Trends bzw. UNODC World Drug Reports


Washington hatte Mitte der 90er den Präsidenten Ernesto Samper mit Korruptionsvorwürfen unter Druck gesetzt und zur Einwilligung in die Besprühungskampagne genötigt. Mit einer Operation Airbridge hatte man zudem versucht, den Import des Zwischenprodukts, der Pasta B ásica de Cocaína , aus Bolivien und Peru einzudämmen. Nicht identifizierte Kleinflugzeuge wurden zur Landung gezwungen oder abgeschossen, bis der Kongress dieses Vorgehen stoppte. Wegen eines Kommunikationsfehlers zwischen dem amerikanischen Aufklärer und dem peruanischen Jäger hatte man versehentlich die Cessna einer US-Missionarsfamilie abgeschossen.


Zunehmend bemächtigten sich nun auch bereits seit 1964 in Kolumbien operierende Guerrillagruppen des illegalen Geschäfts, und stärker noch die rechtsextremen Paramilitärs, die gegen die Guerrilla kämpften. Teilweise hatten diese Gruppen zigtausende Kämpfer unter Waffen, die alle verköstigt, eingekleidet und bewaffnet werden mussten. Hatte die Guerrilla anfangs nur die Kokabauern besteuert und Gebühren für die klandestinen Landepisten der Drogenhändler in den Anbaugebieten erhoben, so wurde das illegale Geschäft zunehmend zum Selbstzweck und verschiedene ihrer frentes stiegen immer tiefer ein. Ab der Jahrtausendwende hielt Washington mit dem Plan Colombia dagegen. Milliarden wurden ausgegeben, sieben Militärbasen in Kolumbien errichtet, Spezialkräfte ausgebildet und die Besprühung mit Glyphosat noch einmal ausgeweitet. Der W ar on D rugs verschmolz mit dem W ar on T error. Nur Weltpolizist Uncle Sam verfügt über eine Abteilung für internationale Drogen- und Gesetzesvollzugsangelegenheiten (INL(3)) im Außenministerium. Ende des vorletzten Jahrzehnts (FY 2010) gingen mehr als 50 Prozent des INL-Budgets in Höhe von insgesamt 878,9 Mio. USD nach Afghanistan und Kolumbien – zwei Schlüsselländer im Krieg gegen den Terror. Zum Vergleich: Das Gesamtbudget des UNODC war nicht einmal halb so hoch.


Nachhaltigkeitsdesaster und Bürgerkrieg

Besprüht wurde nun vor allem in den Guerrilla-Hochburgen im Süden des Landes. Im Laufe der Jahre will man laut Statistik deutlich mehr als das Zehnfache dessen an Feldern vernichtet haben, was jemals als maximale Anbaufläche vorhanden war. Ein Nachhaltigkeitsdesaster. Die Bauern zogen weiter, legten neue Kokafelder an – teilweise schon prophylaktisch. Die Politik der Kokavernichtung ohne Nachhaltigkeit dürfte damit enorme Flächen tropischen Regenwaldes gekostet haben.(4) Doch nicht nur das: Durch die zur Weiterverarbeitung notwendigen Chemikalien wurden immer neue Böden und Gewässer vergiftet. Und Kolumbien war lange noch vor Syrien das Land mit der höchsten Zahl von Binnenflüchtlingen (8 von insgesamt 50 Millionen Einwohnern), wofür hauptsächlich der Guerrillakrieg, aber eben auch Bauernvertreibung durch Kokaeradikation verantwortlich war.


Die Umsetzung des Plan Colombia hieß in Kolumbien unter Präsident Álvaro Uríbe (2002-2010) S eguridad D emocrática und verfolgte das Ziel, illegale bewaffnete Gruppen von ihrer Finanzierung abzuschneiden. Gesprüht wurde nun insbesondere in den Hochburgen der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) im Süden des Landes in den Departments Caquetá und Putumayo. Landesweite Kokareduzierungen um 80.000 Hektar zwischen 2000 und 2004 wurden praktisch ausschließlich dort erzielt.


Im Jahr 2015 wurden die Besprühungen eingestellt, im Jahr 2016 ein Friedensabkommen mit den FARC unterzeichnet. Der Krieg mit der ältesten (seit 1964) und größten Guerrilla war zu Ende. Präsident Juan Manuel Santos erhielt dafür den Friedensnobelpreis. Mehr als 13.000 Kämpfer wurden demobilisiert, Hunderte davon später ermordet. Nachfolger Iván Duque hielt nichts von dem Abkommen und das ehrgeizige Programm zur Schaffung von Alternativen für die Bauern wurde praktisch nicht vollzogen. Duque setzte die Zwangseradikation von Kokafeldern fort und wollte sogar zu einer Besprühung der Felder aus der Luft zurückkehren. Es ist nicht gelungen, das Machtvakuum, das durch den Abzug der Guerrilla entstand, durch staatliche Institutionen zu füllen. Stattdessen geben dort nun FARC-Dissidenten (5.500 Kämpfer), Kämpfer des Ejercito de la Lib e ración Nacional (ELN 2.200) und Angehörige krimineller Banden (8.350 nach offiziellen Zahlen) den Ton an. Bei seinem Amtsantritt im Jahr 2018 gab es in Kolumbien 169.000 Hektar Koka und Duque strebte bis 2023 eine Halbierung an. In einem Working-Paper von 2020/21 für das deutsch-kolumbianische Friedensinstitut Capaz ( www.instituto-capaz.org ) schrieb der Autor dieser Zeilen damals: „Nichts deutet darauf hin, dass die Zielvorgaben heute realistischer sind als vor 10 oder 20 Jahren. Es ist vielmehr zu erwarten, dass die neuerliche Eradikationsoffensive auch diesmal nicht nachhaltig sein wird und es besteht die Gefahr, dass damit die Unsicherheit der Lebensumstände in den betroffenen Gebieten vergrößert wird.“


Heute kämpft die Regierung des Präsidenten Gustavo Petro unter dem Slogan Paz Total gegen verbrannte Erde an. Die Bauern sind einmal mehr vom Staat enttäuscht und desillusioniert. Statt der angestrebten Halbierung ist die Kokaanbaufläche um gut ein Drittel weiter angewachsen und liegt heute (2022) bei 230.028 Hektar, fast die Hälfte davon in den südlichen Departments Putumayo und Nariño im Grenzgebiet zu Ecuador (5). Und damit nicht genug. Durch bessere Sorten und Anbaumethoden soll die Ernte pro Hektar nach Berechnungen des UNODC um durchschnittlich 24 Prozent angestiegen sein und durch Optimierung der Weiterverarbeitung auch der Kokainertrag. Solche neuen Hochproduktivitätszonen befinden sich unter Kontrolle sogenannter narcoparamil i tares, FARC-Dissidenten bzw . der ELN . Alle zusammen werden sie Grupos Armados Ilegales (GAI) genannt. 35 Prozent der Kokaanbauflächen Kolumbiens befinden sich in Zonen, in denen eine oder mehrere GAI präsent sind. Diese arbeiten fallweise zusammen oder bekriegen sich. Aber alle sind um eine strikte Kontrolle des Produktionsprozesses bemüht. Im Department Putumayo lassen sich sechs Gruppen identifizieren, die nahezu umfassende Kontrolle ausüben. Die größten sind ehemalige frentes der FARC, das Comando Frontera und die Frente Carolina Ramírez und sie bekämpfen sich gegenseitig. Gemeinsam ist ihnen allen der Vektor des Kokainabsatzes: der Rio Putumayo. Interessanterweise befindet sich auch auf der südlichen, der peruanischen Seite des Grenzflusses im Departement Loreto ein Koka-Kokain-Nukleus. Auf ihm oder an ihm entlang gelangt die heiße Ware nach Ecuador.


Ecuador: Neoliberalismus und Drogentransit

Immer wieder tauchten in den letzten Jahren in Supermärkten Kokainpäckchen in Bananen- oder Schnittblumenlieferungen aus Ecuador auf, die von den Adressaten übersehen worden waren. Ecuador ist selbst kein Anbauland in nennenswertem Umfang, doch wurde es für den Drogenhandel nicht nur wegen des Pazifikhafens Guayaquil interessant. Kokainbeschlagnahmungen sind dort von 88 Tonnen (2019) auf 201 Tonnen (2022) kontinuierlich angestiegen. Neben dem Seehafen und der langen Landesgrenze zu den wichtigsten Kokain-Produktionszentren verfügt Ecuador noch über weitere, politisch-hausgemachte „Standortvorteile“. Das notorisch exportabhängige Land – vor allem Erdöl mit seinen schwankenden Weltmarktpreisen – befindet sich seit langem in einer wirtschaftlichen Dauerkrise, unterbrochen nur durch einen Boom im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends. Zur Jahrtausendwende wurde daher die Wirtschaft „dollarisiert“, was Außenhandelsgeschäfte ebenso erleichtert wie die Geldwäsche. Sie soll bei etwa 3,5 Mrd. USD jährlich liegen, was etwa 3 Prozent des BIP entspricht, Geld, das zu 75 Prozent im Land selbst in legale Wirtschaftskreisläufe eingespeist werde. Kolumbianische Wirtschaftswissenschaftler bezeichneten solcherlei Verhältnisse für ihr Land schon von mehr dreißig Jahren als „Verschmutzung der Wirtschaft“ ( la economía se ensucia ) und sprachen von einer „bewilligten Illegalität“ ( ilegalidad consentida ) (6), die der Gesetzgeber billigend in Kauf nehme.


Ecuador war mit seiner neuen Verfassung von 2008 und einer zunächst stärkeren Akzentuierung der Sozial-, Indigena- und Umweltpolitik unter Präsident Rafael Correa einer der Hoffnungsträger der progressistischen Welle in Lateinamerika. Doch eine Abkehr vom Extraktivismus, eine Überwindung der Abhängigkeit vom Erdöl gelang nicht und Correa ging 2017 unter Korruptionsvorwürfen ins französische Exil. Sein Nachfolger, Lenin Moreno, fiel nurmehr durch den scharfen Gegensatz zwischen progressiver Rhetorik und neoliberaler Praxis auf. Proteste ließ er im Jahr 2019 blutig niederschlagen. Das Verhältnis zwischen dem indigenen und dem „progressistischen“ Lage ist so zerrüttet, dass man 2021 den Wahlsieg quasi verschenkte. Während der „Correist“ Andrés Arauz den ersten Wahlgang mit 14 Prozentpunkten Vorsprung gewonnen hatte und Yaku Pérez das historisch beste Ergebnis für das indigene Lager erzielte, gewann der neoliberale Kandidat Guillermo Lasso die Stichwahl, der im ersten Wahlgang nur 19,5 Prozent der Stimmen bekommen hatte. Statt ein Bündnis einzugehen, bekämpften sich die progressiven Kräfte. Während der 900 Tage seiner Amtszeit soll das Vermögen von Guillermo Lasso um 21 Mio. USD angewachsen sein. Speziell seit der Pandemie wurde unter Moreno und Lasso eine extreme Sparpolitik betrieben, um Auslandsschulden begleichen zu können – nicht zuletzt auch im Sicherheitsbereich. Gerade Lasso war in der Sicherheitspolitik gleichzeitig aber ein Verfechter der „harten Hand“. Das in ganz Lateinamerika notorisch prekäre und hier nun noch einmal besonders vernachlässigte Gefängnissystem wurde mit Kleinkriminellen überfüllt. Vor dem Hintergrund allgegenwärtiger Korruption entwickelten sich die Haftanstalten geradezu zu Hauptquartieren krimineller Banden.


Deren wichtigste, die „Choneros“ arbeiten mit der mexikanischen Sinaloa-Gruppe zusammen, „Los Lobos“ mit der ebenfalls mexikanischen „Jalisco Nueva Generación“. Beide Gruppen bekämpfen sich. Ein Fanal war die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio, dessen Hauptthemen der Kampf gegen die Korruption und den illegalen Drogenhandel waren, auf einer Kundgebung in Quito im August 2023. Eine Komplizenschaft aus den Reihen der Sicherheitskräfte wird vermutet. Die Hauptverdächtigen wurden später in zwei verschiedenen Gefängnissen ihrerseits ermordet. Ein zweites Fanal war der Ausbruch des Anführers der „Choneros“, Adolfo „Fito“ Macias, Anfang Januar 2024, nachdem er in ein anderes Gefängnis verlegt werden sollte, sowie die bewaffnete Besetzung eines Fernsehstudios während einer Livesendung. Inzwischen hatte der heute 36-jährige, in Miami geborene und steinreiche Unternehmer Daniel Noboa die Wahlen gewonnen. Nach nur wenigen Wochen im Amt, sprach er am 9. Januar von einem „internen bewaffneten Konflikt“ und rief einen 60-tägigen Notstand aus. In kurzer Zeit wurden mehr als 9.000 Menschen verhaftet. Es wird sogar über eine Wiedereröffnung der US-Luftwaffenbasis Manta diskutiert, die im Kontext des Plan Colombia 1999 als sogenannte Forward Operation Location zur Luftraumüberwachung (AWACS) eröffnet worden war. Insgesamt 500 Mann US-Personal genossen damals quasi diplomatische Immunität und Bewegungsfreiheit in ganz Ecuador. Sie war 2008/2009 unter Rafael Correa geschlossen worden und eine Wiedereröffnung würde heute gegen die neue Verfassung verstoßen.


Der Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta, der unter anderem in Köln studiert hat, war in den Jahren 2007 und 2008 Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors und im ersten Halbjahr 2007 Minister für Energie und Bergbau im Kabinett von Rafael Correa. Er hat Zweifel am Erfolg dieser Politik der Militarisierung: Die Nationalpolizei werde zum Erfüllungsgehilfen des Militärs degradiert. Er spricht vom grundlegenden Problem einer Koexistenz zwischen dem Staat und einigen kriminellen Banden, die nach und nach die staatlichen Institutionen übernahmen. Der Grad der Durchdringung des organisierten Verbrechens sei so groß, dass seine Infiltration fast aller staatlichen Instanzen, der Justiz, der Sicherheitskräfte, des Privatsektors und sogar des Sports öffentlich anerkannt werde.


Vor anderthalb Jahrzehnten reagierte das Kokaingeschäft auf stärkere Kontrollen der europäischen Seehäfen mit dem Absatz über Venezuela und Westafrika entlang des 10. Breitengrades, der die kürzeste Verbindung zwischen Lateinamerika und Westafrika darstellt. Fahnder sprachen damals vom Highway Number 10. Einige der ärmsten Länder der Welt waren nun plötzlich mit einem Millionengeschäft konfrontiert. In der Wüste Malis wurde im Jahr 2009 das Wrack einer aufgelassenen Boeing 727 gefunden, mit der 10 Tonnen Kokain transportiert worden waren: die Air Cocaine. Der Weitertransport durch die Sahara zum Mittelmeer erfolgte über dieselben Routen und durch dieselben Organisationen, die auch im Schleppergeschäft aktiv sind, unter anderem Al Qaeda . Ab 2011 erhielten sie üppige Bewaffnung aus Beständen des gestürzten Diktators Muhammar al Gaddhafi. Und während neuerdings Ecuador die Aufmerksamkeit erregt, zeichnet sich bereits eine Wiederbelebung des Highway Number 10 ab. Wie auch immer die Routen sich ändern: Die Fahnder laufen hinterher.


Drogenbekämpfung und Menschenrechte: ein neuer Anlauf

Zurück nach Wien und zur Commission on Narcotic Drugs. Der War on Drugs sei gescheitert, sagt Volker Türk, der UNO Hochkommissar für Menschenrechte: gescheitert Leben zu retten; gescheitert die Würde, Gesundheit und Zukunft von weltweit 296 Millionen Drogennutzern zu schützen; gescheitert, den Politikwechsel herbeizuführen, den wir dringend brauchen, um weitere Rückschläge bei den Menschenrechten abzuwenden. Die gegenwärtige Drogenpolitik mit ihrem strafenden Ansatz und ihren repressiven Politiken, so Türk, hatte verheerende Folgen für die Menschenrechte auf allen Ebenen. „Drogen töten und zerstören Leben und Gemeinschaften. Aber unterdrückerische und rückwärtsgewandte Politiken tun das auch.“ (Übers. aus dem Englischen R.L.)


Seit der Vorbereitung der UNGASS Konferenz von 2016 werden andere UNO-Organisationen (wie UNAIDS oder das Hochkommissariat für Menschenrechte mit Sitz in Genf) sowie NGO’s in die Drogendebatte einbezogen, die bis dato von den in Wien ansässigen UN „Drogenorganisationen“ dominiert, wenn nicht monopolisiert gewesen war. Drogenpolitik wurde in den Kontext der nachhaltigen UN-Entwicklungsziele (oder Agenda 2030) gestellt – zumindest in den Debatten. Im August 2023 legte das Büro des Menschenrechts-Hochkommissars einen Bericht über Herausforderungen für die Menschenrechte bei der Drogenbekämpfung vor. Der kolumbianische Außenminister Murillo erkannte auf dem genannten side event sofort, den Gegensatz zwischen Wien und Genf. Und die frühere Bundespräsidentin der Schweiz, Ruth Dreyfuss, plädierte für eine dringend notwendige „Kommunion“ der Ansätze , wie sie es formulierte. Es ist hohe Zeit, dass daraus Wirklichkeit wird. Nicht nur in den Diskursen, sondern in der Praxis.


(1) Auf der alljährlich in Wien stattfindenden „Commission“ kommen die Delegierten der Mitgliedsländer zusammen, um die internationale Drogenpolitik zu diskutieren und zu gestalten. Das erwähnte side event (Human rights in global drug policy and the case of the current classification of coca leaf in the 1961 single convention: A debate on the implementation and effectiveness of the international drug control regime) fand am 14. März 2024 statt. Am Podium saßen neben Laura Gil, der bolivianische Vizepräsident David Choquehuanca, der kolumbianische Außenminister Luis Gilberto Murillo, die ehemalige Bundespräsidentin der Schweiz, Ruth Dreyfuss (als Mitglied der Global Commission on Drug Policy) sowie der UN Hochkommissar für Menschenrechte, der Österreicher Volker Türk.

(2) Der World Drug Report 2023 des UNODC nennt für Bolivien 30.500 Hektar und für Peru 80.681 Hektar, was zusammengenommen 315.481 Hektar ergibt. Die Zahlen sind von daher inkonsistent bzw. die Addition fehlerhaft.

(3) Das Bureau for International Narcotics Matters and Law Enforcement Affairs (INL) im State Department wurde 1978 gegründet und 1995 zum heutigen Namen umbenannt. Insgesamt ist das Anti-Drogen-Budget der USA noch erheblich höher und in seinen internationalen Aspekten auf State Department (INL und USAID), Justiz- (DEA) und Verteidigungsministerium verteilt.

(4) Eine auch methodologische Auseinandersetzung mit dem Thema stellt fest: „...that coca cultivation area, number of cattle, and municipality area are the top three drivers of deforestation…“ und die Gewichtung dieser Faktoren sei „highly context-specific“. (Ganzenmüller/Sylvester/Castro-Nuñez: „What Peace Means for Deforestation: An Analysis of Local Deforestation Dynamics in Times of Conflict and Peace in Colombia“ in: Frontiers in Environmental Science Vol. 10, Bucharest, 21.2.2022

(5) UNODC: Monitoreo de los territorios con presencia de cultivos de coca 2022, Bogotá/ Viena, Septiembre 2023.

(6) Arrieta/ Orejuela/ Sarmiento Palacio/ Tokatlián: „Narcotráfico en Colombia“, Bogotá, 1990.


Volker Türks bemerkenswerte Rede auf dem erwähnten side event : www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2024/03/war-drugs-has-failed-says-high-commissioner

Sein Statement vor dem Plenum:

www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2024/03/turk-urges-transformative-change-global-drug-policy


Foto: Verurteilte Drogenkurierin, Frauengefängnis Bogotá 1990. Noch immer werden Haftanstalten mit Kleinkriminellen vollgestopft. 

© Robert Lessmann


Weitere Beiträge zum Thema weiter unten in diesem Blog, insbesondere:

www.robert-lessmann.com/proceso-de-paz-y-guerra-contra-las-drogas-en-colombia-sostenibilidad-y-alter...

www.robert-lessmann.com/kolumbien-drogenbekaempfung-und-friedensprozess

www.robert-lessmann.com/drogenpolitik-augen-zu-und-weiter-so

von © Robert Lessmann Dr 12 März, 2024

Álvaro García Linera kennt die politische Realität Lateinamerikas aus Theorie und Praxis. Er wurde 1962 in Cochabamba/ Bolivien geboren. Soziologie studierte der gelernte Mathematiker als Autodidakt während einer fünfjährigen Untersuchungshaft, die er ab 1992 als Mitglied des Ejército Guerillero Túpac Katari (EGTC) verbüßte. Für sein politisches Denken war neben Karl Marx und Antonio Gramsci auch der Vordenker des bolivianischen „Indianismus“ Fausto Reinaga von großer Bedeutung. Nachdem er ohne Urteilsspruch entlassen wurde, arbeitete er als Hochschullehrer und wurde einer der gefragtesten Talkshowgäste und politischen Analytiker. Zentral für sein politisches Denken blieb stets die Frage der indigenen Emanzipation. Im Jahr 2005 wurde er an der Seite von Evo Morales zum Vizepräsidenten seines Landes gewählt, ein Amt, das er bis zu beider Sturz im November 2019 innehatte. (Bild von der Amtseinführung im Januar 2006.) Gemeinsam wurden sie ins Exil gezwungen. Nach der Rückkehr der Regierungspartei Movimiento al Socialismo (MAS) an die Macht, kehrte auch er nach Bolivien zurück, hält sich aber im Gegensatz zu Evo Morales aus der Tagespolitik heraus.


García Linera sieht Lateinamerika – und die Welt – in einer Übergangsphase. Sie sei von Unklarheit und Instabilität gekennzeichnet, wo eine „monströse Rechte“ die Bühne betrete, was wiederum in gewisser Weise eine Folge der Defizite progressiver Kräfte sei. Er nennt diese Zeit „tiempo liminar“. Andere Autoren sprechen vom Kampf zwischen progresismo und Regression. Die Linke, so García Linera, müsse kühner sein und einerseits mit historischer Verantwortung Antworten auf die profunden Fragen an der Basis des sozialen Zusammenhalts geben und andererseits die Sirenengesänge der neuen Rechten neutralisieren. Sie müsse bei grundlegenden Reformen zu Fragen der Eigentumsverhältnisse weiterkommen, bei Steuern, bei der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung des Wohlstands und der Wiedergewinnung der Ressourcen zum Wohle der Gesellschaft. Nur so werde man, ausgehend von den grundlegendsten Forderungen der Gesellschaft und realen Fortschritten bei der Demokratisierung, die Ultrarechten in die Schranken weisen.


Politische Schubumkehr

Das Jahrhundert hatte mit einer Dominanz progressiver Regierungen begonnen. Mit dem Wahlsieg von Mauricio Macri in Argentinien habe 2015 gewissermaßen eine Schubumkehr in Lateinamerika eingesetzt. Andere Länder, wie Brasilien und Honduras, folgten. Teilweise wurden diese Rechtsregierungen inzwischen wieder von progressiven ersetzt. García Linera sieht das als Ausdruck einer Umbruchphase des zeitgenössischen Kapitalismus – Gramsci hatte von „Interregnum“ gesprochen –, wo sich Wellen und Gegenwellen ablösen ohne dass sich eine Tendenz durchsetzt. Lateinamerika habe damit eine Entwicklung vorweggenommen, die wir heute auf der ganzen Welt beobachten können. Der Halbkontinent erlebte eine intensive progressive Welle, die von einer konservativen Gegenbewegung gefolgt wurde und dann von einer neuerlichen progressiven. Möglicherweise, so García Linera, werden wir sehen, dass sich eine solche Abfolge kurzfristiger Wechsel noch fünf bis zehn Jahre fortsetzt, bis sich ein neues Modell der Akkumulation und Legitimation durchsetzt, das neue Stabilität für Lateinamerika und die Welt bringt. Insoweit das nicht geschieht, werden wir in einem Wirbel der Zeit des Interregnums feststecken. Man erlebe progressive Wellen, ihre Erschöpfung, konservative Gegenreformen, neue progressive Wellen. Und jede dieser Wellen sei verschieden von der anderen. „Milei ist unterschiedlich zu Macri, obwohl er manches von ihm übernimmt. Alberto Fernández, Gustavo Petro und Manuel López Obrador unterscheiden sich auch von ihren Vorgängern, obwohl sie einen Teil von deren Erbe übernehmen“, stellt García Linera fest: „Und so wird es weiter gehen bis sich eines Tages eine neue Weltordnung definiert, denn diese Instabilität und dieses Leid können nicht endlos sein“, meint er. Im Grunde würden wir einen zyklischen Niedergang des Akkumulationsmodells sehen, wie wir das bereits nach der liberalen Phase des Kapitalismus (1870-1920), der staatskapitalistischen (1940-1980) und der neoliberalen (1980-2010) gesehen haben, argumentiert er in Anlehnung an Nicolai Kondratiews Theorie der Wirtschaftszyklen. Das Chaos sei Ausdruck des historischen Niedergangs und des Kampfes um ein neues und dauerhaftes Modell der Akkumulation, das wieder Wachstum und sozialen Zusammenhalt bringt.


Polarisierung

Die Rechte verwende dabei Praktiken, die man glaubte überwunden zu haben, wie Putsche, politische Verfolgung, Mordversuche. Zu dieser Übergangszeit gehöre, dass die politischen Eliten auseinanderdriften. Wenn die Dinge gut liefen, wie etwa bis zur Jahrtausendwende, fänden sie sich um ein Akkumulations- und Legitimationsmodell zusammen. Die Linke mäßigt sich, „neoliberalisiert“ sich, obwohl es immer eine radikale Linke ohne Publikum geben wird. Die Rechten streiten unter sich. Wenn der Niedergang beginnt, tauche die extreme Rechte auf und werde stärker. Die extreme Rechte fresse die moderate Rechte auf, und die radikale Linke trete aus ihrer Marginalität und politischen Bedeutungslosigkeit. Sie gewinne an Resonanz und Publikum. Sie wachse. „Im Interregnum ist das Auseinanderdriften der politischen Projekte die Regel, weil es bei der Suche nach Lösungen für die Krise der alten Ordnung Dissidenten auf beiden Seiten gibt“, konstatiert er. Die rechte Mitte, die den Halbkontinent und die Welt über 30 oder 40 Jahre regiert hat, finde keine Antworten mehr auf die deutlichen Fehler des globalisierten, neoliberalen Kapitalismus und die Zweifel und Ängste der Menschen. Es tauche eine extreme Rechte auf, die weiter das Kapital verteidigt, die aber glaubt, dass die alten Rezepte nicht mehr genügen und man die Gesetze des Marktes mit Gewalt durchsetzen müsse. Sie will die Menschen domestizieren, wenn nötig mit Gewalt, um zu einem reinen, ursprünglichen freien Markt ohne Zugeständnisse und Doppelbödigkeiten zurückzukehren. Sie konsolidiert sich, indem sie von Autorität, von Schocktherapie des freien Marktes und Reduzierung des Staates spricht. Und wenn es dagegen soziale Widerstände gibt, müsse man dem mit Stärke und Zwang begegnen, und wenn nötig auch mit Staatsstreich und Massakern, um die Widerspenstigen, die sich der Rückkehr zur guten Gewohnheit des freien Unternehmertums und des zivilisierten Lebens widersetzen, zu disziplinieren: mit den Frauen am Herd, den Männern, die befehlen, den Chefs, die entscheiden und den Arbeitern, die schweigend ihre Arbeit tun. Ein weiteres Symptom des liberalen Verfalls tritt zu Tage, wenn sie nicht mehr überzeugen und verführen können, sondern Zwang brauchen, was bedeutet, dass sie bereits dem Untergang geweiht sind. Nichtsdestoweniger bleiben sie gefährlich.


Angesichts dessen könnten die progressiven Kräfte und die Linke nicht nachgiebig sein und versuchen, es allen sozialen Sektoren und Fraktionen recht zu machen. Die Linke tritt in der Übergangszeit aus ihrer Marginalität heraus, indem sie sich als Alternative zum wirtschaftlichen Desaster präsentiert, das vom unternehmerischen Neoliberalismus verursacht wird. Ihre Funktion könne es nicht sein, einen Neoliberalismus „mit menschlichem Antlitz“ einzuführen, einen grünen oder progressiven Neoliberalismus. „Die Menschen gehen nicht auf die Straße oder wählen die Linke, um den Neoliberalismus zu verzieren. Sie mobilisieren sich und wechseln radikal ihre alten politischen Bindungen, weil sie ihn satt haben und ihn loswerden wollen, weil er nur einige wenige Familien und Unternehmen reich gemacht hat. Und wenn die Linke es nicht schafft, sich als Alternative zu präsentieren, ist es unausweichlich, dass die Menschen sich der extremen Rechten mit ihren (illusorischen) Auswegen aus der allgemeinen Misere zuwenden“, fürchtet García Linera. Dazu müsse die Linke, wenn sie die Rechte aus dem Feld schlagen will, Antworten auf die drängenden Fragen geben. Sie muss die Armut der Gesellschaft bekämpfen, die Ungleichheit, die Unsicherheit der Dienstleistungen, Bildung, Gesundheit, Wohnen. Und um die materiellen Bedingungen dafür zu schaffen, muss sie radikal sein in ihren Reformen zu Fragen des Eigentums, der Steuerpolitik, der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung des Wohlstands, der Wiedergewinnung der gemeinsamen Ressourcen zum Wohle der Gesellschaft. Zurückhaltung dabei wird die sozialen Krisen vergrößern. Angesichts des Ausmaßes der Krise wird moderates Vorgehen die Extreme stärken. Wenn es die Rechten tun, stärken sie die Linken und umgekehrt. Worum es geht, sind wirtschaftliche und politische Reformen, die zu sichtbaren und dauerhaften materiellen Verbesserungen der Lebensbedingungen für die gesellschaftliche Mehrheit führen, zu einer größeren Demokratisierung der Entscheidungen, einer größeren Demokratisierung des Reichtums und der Eigentumsverhältnisse. Die Eindämmung der extremen Rechten wird nicht einfach ein Diskurs sein, sondern in einer Reihe von praktischen Maßnahmen zur Verteilung des Reichtums bestehen, die es erlauben, die wichtigsten Ängste und Forderungen der Bevölkerung anzugehen: Armut, Inflation, Unsicherheit, Ungleichheit. Man darf nicht vergessen, dass das Erscheinen der extremen Rechten ja eine pervertierte Antwort auf diese Ängste ist. „Je mehr du den Reichtum verteilst, desto mehr betrifft das die Privilegien der Mächtigen, aber die bleiben bei deren wütender Verteidigung in der Minderheit, während sich die Linke in dem Maße konsolidiert, wie sie sich um die grundlegenden Bedürfnisse des Volkes kümmert“, sagt der Exvizepräsident.


Analyse statt Etikettierung

Was ist nun neu an der neuen Rechten? Soll man sie faschistisch nennen oder was sonst? Bauen sie an einem postdemokratischen Labor, nicht zuletzt in den USA? Ohne Zweifel tendiere die liberale Demokratie – als bloßer Austausch der Eliten durch das Volk – zu autoritären Formen. Wenn sie manchmal Früchte einer sozialen Demokratisierung hervorgebracht habe, so war es durch das Wirken anderer demokratischer Formen von unten, wie Gewerkschaften, landwirtschaftlichen Organisationen, Stadtteilkomitees, unterstreicht der Soziologe. Wenn man aber die liberale Demokratie sich selbst überlasse, als bloße Auswahl der Regierenden, tendiere sie zur Konzentration von Entscheidungen, zu dem, was der Nationalökonom Josef Schumpeter ‚Demokratie als bloße Auswahl der Regierenden, die über die Gesellschaft entscheiden‘ nannte und was eine autoritäre Form der Konzentration von Entscheidungen ist. Und dieses Monopol autoritärer Entscheidungen, fallweise auch ohne die Auswahl aus den Eliten ist es, was die extreme Rechte auszeichnet. Daher gibt es keinen Antagonismus zwischen der liberalen Demokratie und der extremen Rechten. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass sie durch Wahlen an die Macht kommt. „Was die liberale Demokratie am Rande und lustlos erlaubt, die extreme Rechte aber offen ablehnt, sind andere Formen der Demokratisierung von unten, wie Gewerkschaften, Stadtteilversammlungen, ländliche Organisationen, kollektive Aktionen. In diesem Sinne sind die extremen Rechten antidemokratisch“, sagt García Linera. Sie erlauben nur, dass man aus ihren Reihen jemanden wählt, der regiert, lehnen aber andere Formen der Teilhabe und der Demokratisierung des Reichtums ab, die sie als Beleidigung ansehen, als Absurdität, die man mit der Ordnungsmacht und Zwangsdisziplinierung bekämpfen muss. Ist das Faschismus? „Schwer zu sagen,“ meint García Linera. Es gebe dazu eine akademische Debatte, aber die politischen Auswirkungen sind eher klein. Die Generation über 60 in Lateinamerika erinnere sich vielleicht noch an die faschistischen Militärdiktaturen, aber der jüngeren Generation sage es nicht viel, vom Faschismus zu reden. Er ist nicht gegen diese Debatte, sieht sie aber nicht als sehr nützlich an. Der soziale Erfolg oder die Ablehnung von Forderungen der extremen Rechten hänge schließlich nicht von alten Symbolen ab, sondern von der Antwort auf die sozialen Ängste. Problematisch sei es indessen, sie als faschistisch zu bezeichnen ohne zu bedenken, auf welche kollektiven Forderungen sie antworten oder vor dem Hintergrund welchen Scheiterns sie auftauchen. Bevor man ihnen Etikette umhängt, sei es besser über die sozialen Bedingungen für ihr Auftauchen nachzudenken. Persönlich spricht er lieber von der extremen oder der autoritären Rechten.


Ob man Milei einen Faschisten nennen soll? Zuerst solle man sich fragen, warum er gewonnen hat, wer ihn gewählt hat, als Reaktion auf welche Sorgen. Ihm ein Etikett umzuhängen, erlaubt moralische Ablehnung, aber es hilft nicht, die Realität zu verstehen oder zu verändern. Wenn die Antwort ist, dass Milei sich auf die Ängste einer verarmten Gesellschaft beruft, dann ist klar, dass Armut das Thema ist. Darauf muss der p rogresismo und die Linke eine Antwort geben und die extreme Rechte oder (wenn man so will) den Faschismus stoppen. Man muss die Probleme erkennen, mit denen die extreme Rechte in der Gesellschaft Anklang findet, denn ihr Anwachsen ist auch ein Symptom für das Scheitern der Linken und der Progressiven. Sie tauchen nicht aus dem Nichts auf, nachdem die Progressiven nicht sahen, nicht bereit waren, konnten oder wollten, die Frage der Klasse, der prekären Jugend, die Bedeutung der Armut, der Wirtschaft zu verstehen und über jene des Rechts auf Identität zu stellen. Man müsse verstehen, dass das Grundproblem die Wirtschaft ist, die Inflation, „das Geld, das dir in der Tasche schmilzt“. Man dürfe nicht vergessen, dass auch die Identität eine Dimension der wirtschaftlichen und politischen Macht hat, die sie an Unterordnung bindet. In Bolivien eroberte beispielsweise die indigene Identität Anerkennung zunächst durch die Übernahme der politischen Macht und dann schrittweise wirtschaftlicher Macht innerhalb der Gesellschaft.


Schlüsselfrage Informalität

Das grundlegende soziale Verhältnis der modernen Welt ist Geld, entfremdet, aber immer noch fundamental, das, wenn es dir wegschmilzt, auch deinen Glauben und deine Treue auflöst. Das ist das Problem, das die Linke zuerst lösen muss. Dann komme der Rest, befindet García Linera. Wir befinden uns in einer historischen Zeit, wo der p rogresismo auftaucht und die extreme Rechte. Die klassische, neoliberale, universalistische Rechte verfällt, und zwar wegen der Wirtschaft. Aber die Gesellschaft, deren wirtschaftliche Probleme die alte Linke der 50er und 60er Jahre und der p rogresismo der ersten Welle (im neuen Jahrtausend) anging, hat sich verändert. Die Linke hat sich immer um die formale, entlohnte, arbeitende Klasse gekümmert. Heute ist die informelle arbeitende Klasse für den p rogresismo eine große Unbekannte. Die Welt der Informalität, die man auch unter dem Begriff „la economía popular“ versteht, ist für die Linke ein schwarzes Loch. Dafür hat sie keine produktiven Vorschläge. In Lateinamerika umfasst dieser Sektor aber bis zu 60 Prozent der Bevölkerung. Und es handelt sich nicht um eine vorübergehende Erscheinung, die bald in der formellen Wirtschaft aufgehen würde. Nein, die gesellschaftliche Zukunft wird eine mit Informalität sein, mit diesen kleinen Arbeitern, diesen kleinen Bauern, diesen kleinen Unternehmern, verbunden durch familiäre Bindungen und kuriose lokale und regionale Wurzeln, wo die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit nicht so klar sind wie im formellen Unternehmen. Diese Welt wird noch in den nächsten 50 Jahren existieren und sie schließt in Lateinamerika die Mehrheit der Bevölkerung ein. „Was sagst Du diesen Menschen? In welcher Weise kümmerst du dich um ihr Leben, ihr Einkommen, ihre Lebensbedingungen, ihren Konsum? Das sind die Schlüsselthemen für die Progressiven und die zeitgenössische Linke in Lateinamerika. Was bedeutet das? Mit welchen Werkzeugen macht man das?“, fragt der Politiker und Soziologe. Natürlich mit Enteignungen, Nationalisierungen, mit Umverteilung des Reichtums, Erweiterung der Rechte. Das sind die Werkzeuge, aber das Ziel muss die Verbesserung der Lebensbedingungen dieser 80 Prozent der Bevölkerung sein, gewerkschaftlich organisiert oder nicht, formell oder informell, die „lo popular“ in Lateinamerika darstellen, meint García Linera. Und das außerdem mit einer größeren Beteiligung an den Entscheidungen. Die Leute wollen gehört werden, wollen teilnehmen. Das vierte Thema ist die Umwelt, Umweltgerechtigkeit mit sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit, nie getrennt und nie vorweg.


Kolumbien als Vorreiter

Zur Frage nach dem Kontext und der Rolle des Gastlandes, Kolumbien, sagt García Linera: „Wenn man sich die Vorgeschichte Kolumbiens ansieht, wo wenigstens zwei Generationen von Aktivisten und Kämpfern für soziale Gerechtigkeit von Ermordung bedroht waren und ins Exil gehen mussten, wo Formen legaler kollektiver Aktionen vom Paramilitarismus in die Enge getrieben wurden und wo die USA versuchten, nicht nur aus dem Staat eine Militärbasis zu machen, sondern das Land auch kulturell zu vereinnahmen, ist es nur heroisch zu nennen, dass ein Kandidat der Linken hier an die Regierung gewählt worden ist. Und klar, wenn man das machtvolle Sediment des ‚tiefen Kolumbien‘ (colombia profunda) erfühlt, das in den Gemeinschaften und den Stadtteilen keimt, versteht man die soziale Explosion von 2021 und das „Warum“ dieses Wahlsiegs.“ Dass ihm kollektive soziale Mobilisierungen vorausgingen, habe einen gesellschaftlichen Raum für Reformen geschaffen. Daher sei die Regierung von Präsident Gustavo Petro heute die radikalste dieser zweiten progressistischen Welle auf dem Halbkontinent.


Zwei Aktionen machen die Regierung von Gustavo Petro zur Vorhut: Eine Steuerreform mit progressivem Charakter, womit jene, die mehr haben auch höhere Steuern bezahlen. In der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten ist die wichtigste Steuer die Mehrwertsteuer, die eine höhere Last für die darstellt, die am wenigsten haben. An zweiter Stelle steht die Energiewende. Kein Land auf der Welt, schon gar nicht die, die sie am meisten kontaminieren – die USA, Europa, China – hat über Nacht die fossilen Brennstoffe aufgegeben. Man hat sich vielmehr Jahrzehnte zum Übergang vorgenommen und will immer noch einige Jahre lang mit einer Rekordproduktion dieser Brennstoffe leben. Kolumbien gehört zusammen mit Dänemark, Spanien und Irland zu den einzigen Ländern auf der Welt, die neue Exploration von Erdöl verbieten. Im Fall Kolumbiens ist es besonders relevant, weil Erdölexporte mehr als die Hälfte des Exportvolumens ausmachen, was diese Entscheidung zu einer sehr kühnen und weltweit sehr fortschrittlichen macht. „Es handelt sich um Reformen, die dem Leben verpflichtet sind und die den Weg ausleuchten, den andere Progressive über kurz oder lang auch gehen müssen.“ Man dürfe jedoch die kontinuierliche Verbesserung der Einkommen der kolumbianischen Unterschichten nicht aus dem Blick verlieren, weil jede Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit nichts als liberale Umwelttümelei sei. Das verlange eine millimetergenaue Abstimmung zwischen dem, was die Regierung in den nächsten Jahren an Einkommen verlieren wird, und der Erschließung neuer Einkommen, sei es durch andere Exporte, höhere Steuern für die Reichen und spürbaren Verbesserungen der Lebensbedingungen für die Mehrheit des Volkes.


Was die Rolle Lateinamerikas und der Karibik in der Welt betrifft, meint García Linera: Am Beginn des 21. Jahrhunderts habe Lateinamerika den ersten Gongschlag für die Erschöpfung des neoliberalen Zyklus gegeben. Hier lag der Beginn der Suche nach einer hybriden Mischung aus Protektionismus und Freihandel. „Heute ist die Welt im Wandel hin zu einem Regime der Akkumulation und der Legitimation, das den neoliberalen Globalismus ablöst – trotz der melancholischen Rückfälle in einen Paleo-Neoliberalismus wie in Brasilien unter Bolsonaro und in Argentinien unter Milei.“ Trotzdem sei der Halbkontinent heute etwas zu erschöpft. Es scheint, als müsse der postneoliberale Übergang erst im globalen Maßstab voranschreiten, damit Lateinamerika seine Kräfte erneuert, um den ursprünglichen Antrieb wieder aufzunehmen. Die Möglichkeit postneoliberaler Strukturreformen der zweiten Generation – oder noch radikalerer – die die transformatorische Kraft auf dem Kontinent wiedererlangen, wird auf größeren Wandel in der Welt warten müssen, und natürlich auf eine Welle kollektiver Aktionen von unten, die das Feld der denkbaren und der möglichen Transformationen verändern. Soweit dies nicht geschieht, würde Lateinamerika ein Szenario von Pendelschläge zwischen kurzfristigen Siegen des Volkes und kurzfristigen Siegen der Konservativen, zwischen kurzfristigen Niederlagen des Volkes und solcher der Oligarchien sein.


Das ursprüngliche Interview führte die kolumbianische Politologin, Feministin und Aktivistin Tamara Ospina Posse. Übersetzung und Zusammenfassung: Robert Lessmann

Zahlreiche Beiträge zur politischen Situation in Bolivien, dem Heimatland von García Linera, finden sich weiter unten in diesem Blog.

von © Robert Lessmann Dr 07 Jan., 2024

Es war Anfang des letzten Jahrzehnts in der Wiener UNO City. Juri Fedotow, ehemaliger Vizeaußenminister Russlands und diplomatisches Schwergewicht, war unlängst Chef des Drogenkontrollprogramms der Vereinten Nationen (UNODC – United Nations Office on Drugs and Crime) geworden, ein Posten, den er von 2010 bis 2020 innehatte. Als solcher leitete er höchstpersönlich eine Pressekonferenz, auf der eine internationale Initiative zur Drogenbekämpfung in Afghanistan vorgestellt wurde. Mit 123.000 Hektar war das Land am Hindukusch zum mit Abstand größten Produzenten geworden. Mit einem ausgewogenen Ansatz („balanced approach“) sollten unter anderem die Bauern vom Schlafmohn weg zur Produktion legaler Alternativen geleitet werden. Vielversprechend war vor allem die Beteiligung der Nachbarländer an Kontrollmaßnahmen und Fahndung, denn Afghanistan ist ein Binnenland. Der Weg auf die lukrativen Absatzmärkte führt über die Grenzen. Von den wichtigsten Anbauregionen im Süden (Provinzen Helmand und Kandahar) wurde der Export zu etwa zwei Dritteln nach Westen in den Iran und die Türkei abgewickelt, und dann über die Balkanroute nach Europa. Zu etwa einem Drittel  ging die illegale Ware über Hunderte von Kilometern auf einem prekären, gleichwohl aber übersichtlichen Straßensystem (Dschungel gibt es keinen) und über eine Handvoll Grenzübergänge in die ehemaligen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan nach Norden. Ehemalige Ostblockländer – allen voran Russland – waren inzwischen ebenfalls zu wichtigen Absatzmärkten vor allem für minderwertige Ware („Kompott“) geworden. Kein Vergleich also zu südamerikanischen Kokainspediteuren, die mit Flugzeugen, Hubschraubern und U-Booten operieren. Doch nicht einmal dies zu unterbinden gelang: Beschlagnahmungen in Afghanistan gingen gegen Null und Korruption spielte eine wesentliche Rolle dabei.


Fundamentales Scheitern

Zurück zur Pressekonferenz, an deren Ende niemand eine Frage stellte. Um das peinliche Schweigen zu durchbrechen, fragte ich, wer sich denn mit welchen Summen der Initiative angeschlossen habe - und vergrößerte damit die Verlegenheit. Bislang hatte die neue Strategie nämlich noch keinerlei zählbare Unterstützung verbuchen können.


Dass die westliche Sicherheitskooperation fundamental scheitern würde, hatte man im Drogenbereich lange vor der „überraschenden“ Machtübernahme durch die Taliban im Sommer 2021 sehen können. Als Juri Fedotow den Chefsessel des UNODC übernahm, war Afghanistan mit 123.000 Hektar bereits der mit Abstand wichtigste Schlafmohnproduzent. Und während die legale (Land-) Wirtschaft keinerlei Dynamik­ entfaltete, kletterte der Anbau weiter von einem Rekord zum nächsten, gebremst nur durch Marktsättigung und gelegentliche Missernten, etwa durch Trockenheit, wie in den Jahren nach dem Allzeithoch von 2017.


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Schlafmohnproduktion in Afghanistan (Hektar in ausgewählten Jahren)

1995  2000  2001 2002    2010     2017    2020   2022  2023

55.759 82.171 7.606  74.100   123.000   328.000  224.000 233.000 10.800

Quelle: UNODC: World Drug Report, Vienna, verschiedene Jahrgänge und UNODC: Afghanistan Opium survey 2023.

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Heute wirbt das UNODC abermals um Unterstützung für Afghanistans Bauern, um den drogenpolitischen Erfolg zu stabilisieren. Beides hat freilich nur geringe Aussichten auf Erfolg, denn das Emirat der Taliban ist Schlusslicht bei allen Menschenrechtsstandards, bekanntermaßen insbesondere was die Lage der Frauen betrifft, und wird von Gebern gemieden. Ihr Dekret „Prohibition of Poppy Cultivation and All Types of Narcotics“ vom 3. April 2022 umfasst nicht nur Anbau, sondern auch Konsum, Transport, Verarbeitung, Handel, Import und Export – und zwar aller Drogen. Am 8. März 2023 wurde es durch ein explizites Cannabis-Verbot noch einmal bekräftigt. Ein solches Verbot galt zwar auch schon vorher unter westlicher Aufsicht. Offenbar aber verfügten die Machthaber damals über geringe Autorität, Legitimität oder politischen Willen. Jedenfalls sind nach dem Dekret der Taliban die Anbauflächen von 233.000 Hektar (2022) auf 10.800 Hektar (2023) zurückgegangen. Umgerechnet in Opium entspricht das einem Rückgang von 6.200 Tonnen auf 333 Tonnen, in Heroin rein rechnerisch von 350-480 Tonnen auf 24-38 Tonnen (bei einer durchschnittlichen Reinheit der Exportware von 50-70 Prozent).


Für die leidgeprüften Menschen und die kollabierte Volkswirtschaft bedeutet das eine riesige Herausforderung. Schon vor der abermaligen Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war die Hälfte der Bevölkerung auf externe Hilfe angewiesen, und die Nahrungsmittelimporte waren genauso hoch wie die Eigenproduktion. Doch für diese Importe fehlt nun das Geld. Afghanistans Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist während der Herrschaft der Taliban gesunken: Um 20,7 Prozent im Jahr 2021 und um weitere 3,6 Prozent in 2022. Fast 80 Prozent der Bevölkerung leben von der Landwirtschaft, die in den letzten Jahren auch noch von Wasserknappheit betroffen war. Man durchlebt dort gerade einen weiteren Hungerwinter. Die Vereinten Nationen schätzen, dass der Rückgang der Schlafmohnproduktion für die bäuerlichen Produzenten Einkommenseinbußen von 1.360 Mio. US Dollar (USD – 2022) auf nunmehr 110 Mio. USD (2023) bedeutet. Eine schnelle Umstellung auf Weizen wäre problemlos möglich, für die defizitäre Nahrungsmittelversorgung wichtig und lässt sich in der Tat auch vielfach beobachten, brächte aber Einkommenseinbußen von rund 1 Mrd. USD mit sich. Im Jahr 2022 machten die Einkommen aus dem Opiumanbau 29 Prozent des gesamten Agrarsektors aus. Für die krisengeschüttelte afghanische Volkswirtschaft lagen die Exporterlöse des Opiumsektors stets über denen der legalen Exporte von Gütern und Dienstleistungen. Im Jahr 2021 betrugen sie schätzungsweise zwischen 1,4-2,7 Mrd. USD, was 9-14 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts entsprach, heute liegen sie bei 190-260 Mio. USD. Ob sich diese Einbußen auf Dauer verkraften lassen? Bei einer Gesamtbevölkerung von rund 40 Millionen Menschen stellt die Abschiebung von 4,4 Millionen aus Pakistan in ihr Heimatland eine zusätzliche Herausforderung dar. Und nun will auch der Iran afghanische Flüchtlinge loswerden. Das Opiumgeschäft war Afghanistans wichtigster und sicherster Wirtschaftszweig und fungierte so auch als Kreditsicherheit. Die Vereinten Nationen berichten, dass Bauern nun eine im Rahmen der „Alternativen Entwicklung“ geplante Umstellung auf einträglichere Produkte als Weizen, wie zum Beispiel Granatapfel, Mandeln, Pistazien und Asant, mangels Liquidität nicht mehr schaffen, denn die erfordert Investitionen und Geduld.


Unklare Konsequenzen

Bei der verbleibenden Schlafmohnproduktion im Land, vor allem in der Provinz Kandahar, lässt sich ein Trend zu kleineren, versteckten Flächen beobachten. In den vergangenen Jahren wurden 40-60 Prozent der Ernte in Form von Rohopium exportiert. Über die Qualität der Weiterverarbeitung zu Heroin im Lande selbst ist wenig bekannt. Sie dürfte stark variieren. Während die Herstellung von Heroin in Afghanistan allem Anschein nach zurückgeht, deutet vieles darauf hin, dass Händler nun Lagerbestände verkaufen – und die dürften nach Ansicht des UNODC nach mehreren aufeinanderfolgenden Rekordernten beträchtlich sein. Die allermeisten Bauern verkaufen ihre Ernte aber direkt und nur wenige verfügen über solche Bestände. Die Verknappung dürfte also nicht zuletzt größeren Produzenten und Drogenhändlern zugute kommen. In der Tat waren die farmgate-Preise für ein Kilogramm getrocknetes Opium im August 2023 mit 408 USD fünfmal höher als zwei Jahre vor der Machtübernahme durch die Taliban, als die Preise aufgrund immer neuer Rekordernten relativ niedrig waren.


Um die Auswirkungen auf den internationalen Drogenmärkten abzuschätzen sei es noch zu früh, sagt das UNODC. Normalerweise braucht es ein bis zwei Jahre, bis die Opiate zu den Konsumentenmärkten gelangen. Und auf dem Weg dorthin, dürfte es reichhaltige Lagerbestände geben. Theoretisch wäre eine Angebotsverknappung, ein Preisanstieg und sinkende Reinheit der Ware denkbar. Auch eine Hinwendung der Konsumenten zu billigeren und potenteren synthetischen Ersatzdrogen wie Fentalyl wäre zu befürchten. Fentanyl ist 100 Mal potenter als Morphin und wird häufig dem Heroin auch beigemischt. Fentanyl-Überdosen sind heute die häufigste Todesursache für US-Amerikaner zwischen 18 und 45 Jahren. Europa ist davon weit entfernt, doch Probleme mit Fentanyl nehmen auch hier zu.


Schließlich könnten mittelfristig andere Anbaugebiete die Lücke füllen. Bevor afghanische Mudschaheddin-Gruppen in den 1980er Jahren Opium als probates Produkt zur Finanzierung ihres Kampfes gegen die sowjetischen Besatzer entdeckten – und der Westen dies augenzwinkernd tolerierte – hatte der Anbau von Schlafmohn dort keine Rolle gespielt. Als die Taliban 1996 zum ersten Mal in Kabul einmarschierten erzeugte Afghanistan bereits zwei Drittel des Weltopiums. Beim vormaligen Marktführer Myanmar bröckelt heute die Herrschaft der Militärdiktatur. So erfreulich das ist, ein Machtvakuum würde ideale Bedingungen für eine mögliche Rückkehr der Drogenwirtschaft zu alter Größe dort schaffen. Myanmar ist schon heute wieder Nummer eins bei der Opiumproduktion. Und in Afghanistan selbst expandiert derweil die Produktion von Metamphetamin.


Wie dem auch sei: Ein erstes Anbauverbot durch die Taliban in den Jahren 2000/2001 hatte auf den Konsumentenmärkten keine Auswirkungen. Damals hatte man vermutet, die Taliban würden diese Maßnahme setzen, um auf der Grundlage voller Lagerbestände die Preise zu stabilisieren. Ob es ernst gemeint war, konnte man nicht mehr feststellen, denn Ende 2001 waren die Taliban durch die Operation „Enduring Freedom“ vertrieben und die Regierung Hamid Karzai auf der Petersberger Konferenz installiert. Der Opiumanbau war damals tatsächlich von 82.171 auf 7.606 Hektar gefallen. Aber 2002 hatte er bereits wieder alte Größenordnungen erreicht. Schlafmohn ist eine einjährige Pflanze. Zwischen Aussaat und Ernte liegen nur einige Monate. Weshalb also sollten die Taliban den dürren Halm kappen, an dem die Volkswirtschaft noch hängt? Aus religiösen Gründen, sagen sie heute wie damals. Vielleicht ist es einfach ein Versuch, mächtige Lokalfürsten und Warlords an die Kandare zu nehmen, die vom illegalen Geschäft profitier(t)en. Eine Frist erlaubte im letzten Jahr noch den Verkauf der Ernte 2022. Wie auch immer: Die Entscheidung ist problemlos reversibel.

von © Robert Lessmann Dr 26 Nov., 2023

Mit einer unerwartet deutlichen Mehrheit von 55,7 Prozent gewann der politische Newcomer Javier Milei die Stichwahl um das Präsidentenamt. Wenn der selbsternannte „Anarchokapitalist“ am 10. Dezember die Amtsgeschäfte in der Casa Rosada in Buenos Aires übernimmt, so ist zu befürchten, wird das Land am Rio de la Plata neben der wirtschaftlichen Dauerkrise noch den Höhepunkt einer politischen Krise erdulden müssen. Lateinamerikanische Bündnis- und Integrationssysteme werden wohl geschwächt.


Buenos Aires. Martín, ein cartonero , der bereits im Morgengrauen unterwegs ist, sammelt auf seinem Karren Papier und Kartons. ‚Nein‘, sagt er, Hoffnung habe er keine, dass es nach den Wahlen besser wird. Aber schlechter könne es ja auch nicht mehr werden.“ So hatte ich eine Reportage vor den letzten Wahlen 2019 begonnen. Martín hat sich leider getäuscht. Armut und Misere haben seither weiter zugenommen. Ich brauche hier eigentlich nur die Ziffern zu korrigieren: Die Inflation ist von damals 50 auf heute 143 Prozent geklettert, die offizielle Arbeitslosigkeit ist von damals 10 Prozent leicht gesunken, dafür liegt die verdeckte bei über 40 Prozent, und über 40 Prozent der Menschen gelten als arm. Der gemäßigt linke Präsident Alberto Fernández, Wahlsieger von 2019, konnte praktisch keines seiner Versprechen einlösen und trat aktuell gar nicht erst wieder an. Sein Wirtschaftsminister, Sergio Massa, ging mit dem Manko ins Rennen, dass er mit dem Niedergang identifiziert wird. Trotzdem war er überraschend als Sieger aus dem ersten Wahlgang hervorgegangen, konnte dann aber nicht mehr zulegen.


Argentinien in der Dauerkrise

„Wir rechnen in Dollars“, sagt Antonia, die eine kleine Reiseagentur betreibt. „Alles andere wäre verrückt bei dieser Inflation.“ Ein Dauerthema im Heimatland des Revolutionärs Ernesto „Che“ Guevara, der 1928 in der Industriestadt Rosario geboren wurde. Als der aufwuchs, zählte Argentinien zu den reichsten Ländern der Welt. Seine landwirtschaftlichen Exporte waren besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gefragt. Eine Diversifizierung der Wirtschaft blieb aber aus. Die Militärdiktatur (1976-83) häufte einen Schuldenberg an. Aus der Schuldenfalle kam man nie mehr heraus. Als in den 1980er Jahren die „Verschuldungskrise der Dritten Welt“ das internationale Bankensystem an den Rand des Zusammenbruchs brachte, gehörte Argentinien zusammen mit Brasilien zu den meistverschuldeten Ländern. Die Auslandsguthaben reicher Argentinier waren schon damals höher als die Rekordverschuldung des Landes. Daran hat sich im Wesentlichen nichts geändert und so taumelt Argentinien von einer Krise in die nächste. Das neue Jahrtausend begann bereits mit dem Zusammenbruch des Finanzsystems. Unter Néstor Kirchner folgten ab 2003 auf der Grundlage hoher Rohstoffpreise stabile Jahre mit Lohnerhöhungen, Sozialprogrammen und Politiken der Importsubstitution. Dem Peronisten gelang 2005 auch eine spektakuläre Umschuldung eines Teils der Verbindlichkeiten, wobei Anleihegläubiger auf rund zwei Drittel ihrer Forderungen verzichten mussten. Die Auslandschulden hatten damals ein Rekordniveau von fast 200 Milliarden US Dollar erreicht. Heute sind sie mehr als doppelt so hoch. Unter seiner Frau Cristina kam es 2010 zu einer Neuauflage dieser Umschuldung in kleinerem Maßstab. Doch ab 2011 wurden bei sinkenden Exporteinnahmen die Budget- und Handelsbilanzdefizite wieder chronisch und 2014 schrammte Argentinien abermals knapp an der Staatspleite vorbei.


Bis auf wenige Ausnahmen regierten die linkspopulistischen Peronisten, mit einem breiten Spektrum durchaus wandelbarer Positionen bis hin zum neoliberalen Carlos Menem (1989-1999). Ab Dezember 2015 war der konservative Unternehmer Mauricio Macri Staatspräsident. Unter ihm fielen Devisenkontrollen und andere Regulierungen, mit denen Steuerhinterziehung und Kapitalflucht verhindert werden sollten. Seine „boys“ sprachen dieselbe Sprache, trugen die gleichen Anzüge und hatten dieselben Universitäten besucht wie die Manager der Finanzzentren in Washington und London. Der Internationale Währungsfonds gewährte neue Kredite, 2018 in der Rekordhöhe von 50 Milliarden US Dollar. Mit fresh money sollte die Konjunktur Fahrt aufnehmen, argentinisches Auslandskapital zurück gelockt und im Land investiert werden. Doch die Erwartungen auf einen Investitionsboom erfüllten sich nicht. Vielmehr machten Zinserhöhungen in den USA Auslandsanlagen noch attraktiver und sinkende Rohstoffpreise plagen Argentinien wie andere Schwellenländer. Wieder setzte eine Abwärtsspirale ein. Die Staatsverschuldung liegt bei 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und auch wenn Argentinien regelmäßig seine Verpflichtungen nicht erfüllt (oder erfüllen kann) ist es für die Finanzwelt too big to fail. Die Verschuldungsspirale dürfte sich also fortsetzen. Nachdem die Bevölkerung auch von den Peronisten enttäuscht war, hatte man bereits 2019 befürchtet, dass die extreme Rechte zulegen könnte. Doch setzte sich der gemäßigt linke Peronist Alberto Fernández durch. Der recht unorganisierten extremen Rechten fehlten damals die konservativen Steigbügelhalter. Als „mugre“ – Dreck – bezeichnete mein Taxifahrer mit deutlich italienischem Akzent die bolivianischen Arbeitsmigranten, deren Hütten vor den Toren von Buenos Aires den Weg zum Flughafen säumen: „Ich hasse sie!“ In der Verzweiflung hat die Suche nach Sündenböcken auch im Einwandererland Argentinien Konjunktur.


Kettensägenpolitik

Nachdem der im ersten Wahlgang zweitplatzierte Javier Milei das Mitte-Rechts-Bündnis Juntos por el Cambio (JxC) deutlich hinter sich gelassen hatte, sprachen dessen Kandidatin Patricia Bullrich und Expräsident Mauricio Macri ihre Unterstützung für den politischen Newcomer aus, dem jedwede Regierungserfahrung fehlt. Diese Stimmen aus dem konservativen Milieu dürften mindestens ein Viertel der insgesamt 55,7 Prozent ausmachen und entscheidend gewesen sein. Schon vorher, so sehen es viele Beobachter, räumte das konservative Establishment Milei ungewohnt breiten medialen Raum ein, um den politischen Diskurs nach rechts zu verschieben. (Ein Phänomen, das man auch diesseits des Atlantiks zum Überdruss kennt und vor dem man nicht genug warnen kann.)


Ob ihre Rechnung nun aufgeht und sie den Chaoten einhegen können? Wenn ja, wird das Ergebnis ein radikaler Neoliberalismus ohne soziale Abfederung sein, wie er bereits in den 1990er Jahren in Regierungskollaps und Staatsbankrott mündete. Wenn nicht, dann ist es ein Kopfsprung ins Ungewisse. Milei ist erst vor fünf Jahren mit ultralibertären Slogans und Provokationen hervorgetreten. Seine „Bewegung“ verfügt kaum über Struktur und Fachpersonal, aber über Kontakte zur rechtsradikalen spanischen VOX. Wollte er ursprünglich „alles privatisieren“, die Bürokratie und öffentliche Ausgaben „mit der Kettensäge bescheiden“, den Dollar einführen und die „Zentralbank in die Luft sprengen“, so hat er sich in den Wochen vor der Stichwahl eine gewisse verbale Mäßigung auferlegt. Ungeachtet dessen reiht er sich unter die ultrarechten, nationalistischen Marktschreier à la Trump und Bolsonaro ein, die den frustrierten Menschen den Lautsprecher machen ohne Lösungen anzubieten. So beleidigte der Katholik Milei den Landsmann, Papst Franziskus. Lula da Silva, den Präsidenten des wichtigsten Handelspartners, Brasilien, hat er als „Kommunist“ und als „korrupt“ bezeichnet. Auch der zweitwichtigste Handelspartner, China, ist für Milei „kommunistisch“ und unberührbar. Da wird er in Kürze den wirtschaftspolitischen Realitäten ins Augen blicken müssen.


Aber die Befürchtung ist, dass er den Peso absichtlich weiter absacken lassen könnte, um „zur Rettung“, wie angekündigt, den Dollar einzuführen. Ganz sicher sind Wissenschaft und Kultur, Arbeits-, Frauen-, Menschen- und Minderheitenrechte sowie der Umweltschutz in Gefahr. Last but not least werden der Staatsterror und die Menschenrechtsverbrechen der argentinischen Militärdiktatur von Milei und seinen Gefolgsleuten als „gewisse Exzesse“ relativiert oder gar geleugnet. Die Medien, so kündigte Milei nach seinem Wahlsieg an, sollen als "Propagandainstrumente“ sogleich privatisiert werden. Den menschengemachten Klimawandel leugnet er. Als Partner für die Erreichung der Klimaziele dürfte Argentinien ausscheiden. Seine erste Auslandsreise will Milei folgerichtig nicht wie üblich ins Nachbarland Brasilien machen, sondern bereits vor der Amtseinführung in die USA. Das verheißt nichts Gutes für den gemeinsamen Wirtschaftsraum MERCOSUR an sich - und als potentieller Partner für Europa. Und auch nicht für die links regierten Nachbarländer Bolivien und Chile. Eine Lithiumachse der drei Länder dürfte damit unwahrscheinlicher werden. Besonders mit Chile gab es entlang der 4.000 Kilometer langen gemeinsamen Grenze in der Vergangenheit immer wieder Konflikte.


Politisches Erdbeben

Alberto Fernández rief zu einer gründlichen Aufarbeitung des Wahldebakels auf. Das Lager der klassisch Konservativen ist bereits gespalten, denn ein Teil von ihnen war nicht bereit, das politische Abenteuer der Macri- und Bullrich-Fraktion mitzumachen, darunter Horacio Rodríguez Larreta, der scheidende Bürgermeister von Buenos Aires, wo nahezu ein Drittel der 45 Millionen Argentinierinnen und Argentinier leben.


Milei hat im Parlament keine Mehrheit. Mit 39 Abgeordneten verfügt er nur über die drittstärkste Fraktion. Mehrheiten wird er sich zusammensuchen müssen oder per Dekret regieren, was seinem Naturell ohnehin besser entsprechen dürfte. In seinen Reden ist viel von Freiheit die Rede, aber nie von Demokratie. Ob Argentinien in die Unregierbarkeit taumelt? So oder so kann er mit starkem gewerkschaftlichem und zivilgesellschaftlichem Widerstand rechnen.

von © Robert Lessmann Dr 14 Nov., 2023

Zwei „Parteitage“, zwei Parlamentsfraktionen und – unausgesprochen – zwei Präsidentschaftskandidaten für die 2025 anstehenden Wahlen. Das ist das traurige Bild, das die MAS allen Aufrufen zur Einigkeit zum Trotz derzeit abgibt. Der innerparteiliche Streit paralysiert das Parlament. Die fragmentierte und inhaltsleere Rechtsopposition – einzelne ihrer Parteien sind ebenfalls gespalten – tritt so gut wie nicht in Erscheinung und braucht eigentlich nur abzuwarten. Der Streit innerhalb der Regierungspartei überlagert alles. Umfragen sehen die beiden MAS-Fraktionen derzeit, das heißt 22 Monate vor den Wahlen, bei jeweils etwa 20 Prozent der Stimmen. Das reicht für keines der Lager, würde aber im Fall ihrer Einigung der Opposition reichen. Ein solches Szenario liegt näher, als es vielleicht aussehen mag. Mehrfach wurden in der Vergangenheit unter tätiger Mithilfe ausländischer Vertretungen solche Bündnisse auch über ideologische und programmatische Differenzen hinweg geschmiedet, um progressive Regierungen zu verhindern. Man denke nur an die Megakoalition unter dem Exdiktator Hugo Banzer (1997-2001). Die Protagonisten der MAS-Spaltung scheint das freilich wenig zu kümmern.


Was ist die MAS?

Was steht auf dem Spiel? Die bolivianische Gesellschaft ist hochgradig organisiert und die MAS verstand sich in Abgrenzung zu den Altparteien als politisches Instrument der sozialen Bewegungen: MAS/IPSP – Movimiento al Socialismo/ Instrumento Pol ítico para la Soberanía de los Pueblos . Hervorgegangen ist sie in den 1990er Jahren aus den kampfstarken Gewerkschaften der Kokabauern, die sich gegen die von den Vereinigten Staaten forcierte Zwangsvernichtung ihrer Felder wehrten. Ihr wichtigster Anführer war Evo Morales. Mit der Participación Popular von 1994 bekamen die Gemeinden auf dem Lande erstmals eigenen Rechtsstatus und Budgethoheit. Bereits 1995 beschloss die 12. Nationalkonferenz der Kokabauern die Schaffung eines eigenen Instrumento Político. Man empfand es als unbefriedigend, auf den Listen kleiner Linksparteien zu kandidieren. Bei den ersten Wahlen zu den neuen Gemeindevertretungen gewannen im Jahr 1996 Mitglieder der Kokabauerngewerkschaft alle Rathäuser im Anbaugebiet des Chapare. Bei den Parlamentswahlen 1997 gewann die kleine Izquierda Unida vier Direktmandate. Alle im Chapare, darunter mit 69 Prozent für Evo Morales das landesweit stimmenstärkste. Zwei Gründungskongresse scheiterten, bevor die MAS/IPSP im Jahr 1999 offiziell registriert wurde. Ihr gelang die Verknüpfung der sozialen mit der indigenen Frage und der nationalen Souveränität. Im krisengeschüttelten Andenstaat entwickelte sich die MAS in enger Verbindung mit dem Gewerkschaftsbund COB und der Landarbeitergewerkschaft CSUTCB rasch zum Kristallisationspunkt der Unzufriedenen und stand daneben mit ihrer Galionsfigur Evo Morales für die Verteidigung der nationalen Souveränität gegen die von außen oktroyierte Politik der Kokavernichtung und sonstige Bevormundungen. Die MAS wurde auf demokratische und organische Weise von unten zu einer Art Einheitspartei der sozialen Bewegungen. Bei den Parlamentswahlen vom 30. Juni 2002 wurde die MAS auf Anhieb zweitstärkste Partei, nur ganz knapp hinter dem neoliberalen Wahlsieger „Goni“ Sánchez de Lozada (heute im US-Exil wegen Menschenrechtsverbrechen verurteilt) – und war mithin in der Stichwahl um das Präsidentenamt. „Goni“ gewann und ging mit der gemäßigten Linken eine Koalitionsregierung ein. Doch die Krise dauerte an. Nach drei Präsidentenrücktritten ging schließlich die MAS mit einem Erdrutschsieg aus den Wahlen vom 18. Dezember 2005 hervor. Noch spektakulärer als deren absolute Mehrheit war der Absturz der Altparteien, von denen nur eine einzige noch den Sprung über die Dreiprozentklausel schaffte. Im Januar 2006 wurde Evo Morales als Präsident vereidigt. Vizepräsident wurde der Linksintellektuelle Álvaro García Linera.


Das kleine Land im Herzen des Halbkontinents wurde zum vielbeachteten Hoffnungsträger. Könnte die Entwicklung dort ein Vorbild sein? Nichts weniger als die „Neugründung Boliviens“ hatte man sich vorgenommen. Eine Regierung der sozialen Bewegungen wollte man sein. Bereits sechs Wochen nach Amtsantritt wurde ein Einberufungsgesetz zu einer verfassunggebenden Versammlung verabschiedet. Die neue Verfassung wurde dann 2009 erstmals durch eine Volksabstimmung angenommen. Bolivien wurde durch sie zum „plurinationalen Staat“. Soziale Rechte, Indígena-Rechte und die Rechte der Pachamama wurden darin festgeschrieben. Indigene Sprachen wurden auch Amtssprachen und die bunte Wiphala-Fahne gleichwertig neben die rot-gelb-grüne Nationalflagge gestellt. Die Nationalisierung der Kohlenwasserstoffressourcen vom 1. Mai 2006 spülte bei günstiger Konjunktur Devisen in die Staatskasse, die für eine Umverteilungs- und Sozialpolitik verwendet wurden. Die Armutsquote sank deutlich, die durchschnittliche Lebenserwartung stieg um Jahre. Ein bedeutender Teil der Unterschicht stieg in die untere Mittelschicht auf. Deren Binnennachfrage stabilisierte die Wirtschaft, auch als die Exporteinnahmen nach 2015 einbrachen. Grundlage war der Extraktivismus, insbesondere die Exporte von Erdgas. Grundlegende Strukturreformen unterblieben. Die Präsidentschaft von Morales war von einer Serie von Wahlen und Abstimmungen begleitet, was manche Beobachter als referenditis bezeichneten. Er hat sie alle mit absoluter Mehrheit gewonnen: eine bis dato in Bolivien unbekannte politische Stabilität.


Bis zum Februar 2016, als Morales durch ein Referendum den Artikel 168 der Verfassung ändern lassen wollte, der nur zwei Amtsperioden in Folge zulässt. Das Referendum ging knapp verloren. Morales ignorierte das Resultat und kandidierte 2019 erneut. Viele Bolivianerinnen und Bolivianer sahen sich nun durch ihn um das einmalige Demokratieerlebnis betrogen, das er ihnen zuvor beschert hatte. Die zersplitterte und inhaltsleere Opposition witterte Morgenluft.


Anfang vom Ende?

Trotz herber Verluste von etwa 14 Prozent gewann die MAS auch die Wahlen vom 20. Oktober 2019 mit deutlicher (rund 47 Prozent), aber nicht mehr mit absoluter Mehrheit. Die Frage war nun, ob sie zehn Prozentpunkte vor dem Zweitplatzierten liegen würde, was nötig ist, um eine Stichwahl zu vermeiden. Man fürchtete, die Opposition würde in diesem Fall geschlossen auftreten. Als am Wahlabend die Schnellauszählung angehalten wurde (nicht die amtliche), rief die Opposition: „Wahlbetrug!“. Büros der Wahlbehörde in verschiedenen Departements wurden angezündet. Ein vorschneller Bericht der OAS-Wahlbeobachter unterstützte diese Sicht. Proteste weiteten sich aus. Schließlich meuterte die Polizei und der Armeechef legte Morales den Rücktritt nahe. Am 10. November floh dieser zusammen mit dem Vizepräsidenten ins Exil nach Mexiko. Zwei Tage später füllte eine selbsternannte „Interimsregierung“ der politischen Rechten das Vakuum, an dessen Entstehung sie tatkräftig mitgearbeitet hatte. Das geschah unter Missachtung des vorgesehenen Prozederes, ohne ordentlich einberufene Sitzung und ohne Quorum. Abgeordnete der MAS, die im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit verfügte, wurden am Betreten des Gebäudes gehindert. Einige junge MAS-Abgeordnete, darunter der nun amtierende Innenminister, versuchten es unter körperlichem Einsatz dennoch. Die junge Parlamentspräsidentin Eva Copa hielt das Fähnlein der MAS dann monatelang gegen die repressive de facto-Regierung hoch, sah sich aber zu Kompromissen gezwungen, was ihr später zum Vorwurf gemacht wurde.


Die „Interimsregierung“ Añez machte keine Anstalten, Neuwahlen abzuhalten, und war ein Desaster auf der ganzen Linie. Sie ist heute Gegenstand mehrerer Strafverfahren. Ihr Innenminister ist bereits wegen Korruption verurteilt – und zwar in den USA. Schließlich erkämpften die sozialen Bewegungen durch Straßenblockaden Neuwahlen, aus denen am 18. Oktober 2020 erneut die MAS mit 55 Prozent der Stimmen und fast 27 Prozentpunkten Vorsprung als Sieger hervorging. Morales hatte aus dem Exil die Spitzenkandidaten nominiert. Sein langjähriger Superminister für Wirtschaft und Finanzen, Luis Arce, wurde Präsident. Sein früherer Außenminister David Choquehuanca Vize. (Die Basis hätte Choquehuanca favorisiert, doch den hatte Morales Anfang 2017 abgesägt, weil er sich nach dem verlorenen Referendum von 2016 als Kandidat ins Spiel gebracht hatte.) Nach deren Amtsübernahme kehrte Morales im Triumphzug aus dem Exil zurück und blieb Parteichef. Als solcher versuchte er in gewohnter Manier, die Geschicke des Landes und seiner Regierung zu lenken. Das konnte nicht gutgehen. Schon die Regionalwahlen von Anfang 2021 wurden für die MAS zum Misserfolg. Stichwahlen wurden durch MAS-Dissidenten gewonnen, die Morales nicht genehm gewesen waren. Und Eva Copa, die keinen aussichtsreichen Platz für eine Kandidatur erhalten hatte, weil Morales ihr vorwarf, mit der Regierung Añez zusammengearbeitet zu haben, wurde auf der Liste einer anderen Partei mit einem Rekordergebnis zur Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt, El Alto, gewählt.


In dem Maße, wie die Kritik am Expräsidenten wuchs, der aus dem sicheren Exil heraus jene kritisiert hatte, die daheim für ihn den Kopf hinhielten, wurde Morales’ Kritik an „seiner“ Regierung immer direkter und schriller. Morales warf ihr einen Rechtsruck und Paktieren mit der Opposition vor, nachdem man sich auf ein Verfahren zur Volkszählung geeinigt hatte. Zwölf Abgeordnete wurden aus der Partei ausgeschlossen, jegliche Kritik als „Verrat“ diffamiert. Als sich der junge Innenminister Eduardo del Castillo (Bild) im Jänner 2022 „erdreistete“, Maximiliano Dávila zu verhaften, der unter Morales Chef der Spezialkräfte für den Kampf gegen den Drogenhandel gewesen war, nun aber von der DEA gesucht wurde und sich auf der Flucht nach Argentinien befand, wurde er neben Vizepräsident Choquehuanca und zusammen mit dem Justizminister zum Lieblingsfeind. Morales verlangte immer wieder deren Rücktritt. Man beschuldigte sich gegenseitig, mit dem Drogengeschäft unter einer Decke zu stecken. Als die MAS-Parlamentsfraktion mit der Opposition ein Amtsenthebungsverfahren gegen del Castillo durchsetzte, wurde er von Präsident Arce umgehend wieder berufen. Schließlich hatte er sich nicht nur aktiv gegen die Machtergreifung der Rechten gewehrt. Er hatte zusammen mit dem Justizminister auch dafür gesorgt, dass die maßgeblich Verantwortlichen vor Gericht gestellt wurden, darunter eine ganze Reihe hoher Militärs.


Spaltung um jeden Preis?

So spalteten sich die MAS-Fraktionen in Senat und Abgeordnetenkammer und Meinungsverschiedenheiten wurden auch mal mit den Fäusten ausgetragen. Gleiches gilt seit August dieses Jahres für die sozialen Bewegungen, wo es heute jeweils eine Fraktion von evistas beziehungsweise arcistas gibt, stets mit Alleinvertretungsanspruch. Ihre Kongresse führten teilweise zu Tumulten.


Am 3. und 4. Oktober fand ein Parteitag der MAS statt, der erneut Evo Morales zum Parteichef und Spitzenkandidaten für die Wahlen 2025 nominierte. Die Parteiführung hatte ihn in Llauca Ñ anberaumt, Morales’ Hochburg im Chapare. Vom Selbstausschluss von Präsident und Vizepräsident war dort die Rede. Der „lider indiscutible“, wie ihn seine Anhänger nennen, hatte bereits zwei Wochen vorher erklärt, dass er „auf Druck der Basis“ wieder kandidieren werde. Die regierungsnahen Teile der MAS und der sozialen Bewegungen wiederum hielten Mitte Oktober in El Alto, ein cabildo (Rat, kein Parteitag) ab, bei dem sie der Regierung von Präsident Arce ihre Unterstützung versicherten und ihm eine Liste von Forderungen übergaben. Der Parteitag von Llauca Ñ wurde für nichtig erklärt. Der Gewerkschaftsbund COB hatte bereits unmittelbar danach erklärt, dass er dessen Beschlüsse nicht anerkennen würde. Schon am 7. September hatte der „Einheitspakt“ der sozialen Bewegungen die Einladung dazu für nichtig erklärt. Inzwischen wurde er vom Obersten Wahlgerichtshof auch für ungültig erklärt, weil die Einladung nicht gemäß der Parteistatuten erfolgt sei.


Der ehemalige Vizepräsident Álvaro García Linera sagte in einem Interview, man solle die Regierung Arce arbeiten lassen und warnte vor „elektoralem Selbstmord“. Morales bezeichnete ihn daraufhin als „falschen Analytiker“, der sich die indigene Bewegung zunutze mache und als „neuen Feind“. Andere Analysten hatten schon vor einiger Zeit vorgeschlagen, dass die alte Garde das Feld einer neuen Generation überlassen solle, die 2019/20 vor Ort die Demokratie verteidigt hatte: Adriana Salvatierra, Eva Copa, Gabriela Montaño und Diego Pary sind Namen, die dabei fallen. Der Prominenteste von ihnen, Senatspräsident Andrónico Rodríguez, gilt als evista , ist aber stets eher zurückhaltend und ausgleichend aufgetreten. Auseinandersetzungen um seine Wiederwahl hatten wochenlang das Parlament blockiert – unter anderem die Verabschiedung des Budgets. Die arcistas hatten eine Gegenkandidatin nominiert, aus Gründen der Genderparität, wie es hieß. Nunmehr ist er mit den Stimmen der evistas und der Opposition wiedergewählt, wobei man als Gegenleistung eine Neun-Punkte-Agenda der Opposition angenommen hat. Schon vorher war das Parlament paralysiert, während draußen Bürgermeister die Verabschiedung ihres Budgets verlangten. Unter anderem blockierten Opposition und evistas Mitte September einen Gesetzesentwurf gegen sexuelle Gewalt, der als Reaktion auf den Missbrauchsskandal des verstorbenen Jesuiten Alfonso Pedrajas eingebracht worden war, der in seinen Aufzeichnugen dutzendfachen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zugegeben hatte. Eva Copa sprach schon damals von einem golpe legislativo (einem parlamentarischen Putsch). Hoffnungsträger und Vorbilder sehen anders aus. Die Geschichte Boliviens und Lateinamerikas ist voll von fortschrittlichen Projekten, die durch caudillismo und Sektierertum gescheitert sind. Ob sich die Akteure ihrer Verantwortung vor der Gesellschaft und der Geschichte bewusst sind?

von © Robert Lessmann Dr 21 Sept., 2023

Man muss diese Farben gesehen haben: El lago , der See: Gesprenkelt von 41 Inseln. Im Osten flankiert von der Königskordillere, aus der am östlichsten Zipfel des Titicaca der mächtige Ill ampú mit 6.368 Metern herausragt. El lago , wo der Himmel so nah ist, dass man die Wolken herunterpflücken zu können glaubt; wo im Morgen- und Abendlicht das Blau des Wassers und des Himmels, wo die Pastellfarben der umgebenden Landschaft die unglaublichsten Nuancierungen annehmen. Ist es ein Wunder, dass zwei Hochkulturen diesen Platz als Mittelpunkt der Welt angesehen haben? Hat nicht der Schöpfergott Huiracocha , aufgetaucht aus den Tiefen des Titicaca -Sees, von der Sonneninsel aus die Sonne und von der Mondinsel aus den Mond ans Firmament befohlen?


Mit 3.810 Metern höchster schiffbarer See der Erde; sechzehnmal so groß wie der Bodensee. Dürre Superlative für diesen Platz, der wohl die meiste huaca hat. Huaca bedeutet für die Andenvölker soviel wie spirituelle Kraft. Ihre Lebenswelt (Berge, Hügel, Seen, Flüsse) war und ist für sie von Ahnengeistern, Achachilas oder Apus beseelt, von denen ihr Schicksal abhängt, mit denen sie sich gut stellen und denen sie opfern müssen. Je größer, eigenartiger, exponierter der Berg, der See, der Fels, desto mächtiger auch der ihm innewohnende Apu .


Die Kosmovision der Andenvölker ist nicht nur von allgegenwärtigen Gegensatzpaaren gekennzeichnet männlich/ weiblich, Tag/ Nacht, Inti / Pachamama , sie ist auch eine reziproke. Für alles, was Pachamama, die mehr Naturgesamtheit als einfach nur Mutter Erde ist, gibt, muss sie auch etwas zurückbekommen: So geht zum Beispiel der erste Schluck des Getränks stets an sie.


Die Anden sind, zusammen mit dem Himalaya, die gewaltigste Wetterscheide der Erde. Berge herrschen über Regen und Trockenheit. Ihre Gletscher bringen das lebenswichtige Wasser (noch immer) auch während der Trockenzeit. In der Tat: Aufstieg und Niedergang der Hochkulturen des Andenhochlands verliefen in erstaunlichem Maße parallel zu klimatischen Phänomenen: Die Herausbildung einer Landwirtschaft ab etwa 1.500 v. Chr. fiel mit einer feuchteren Periode zusammen, der Niedergang der Hochkultur von Tiwanaku (ab 1.100) mit einer Trockenheit, die bis ins 15. Jahrhundert hinein anhielt und die deren intensiven, künstlich bewässerten Feldbau infrage stellte. Die Sonne, die Berge und der See bestimmten ihr Schicksal.


Auch heute noch: 8.372 qkm Wasserfläche hat der Titicaca , und sein Pegel schwankt je nach Jahreszeit und Niederschlagsmenge um bis zu sechs Meter. Er hat 25 Zuflüsse. Der einzige Abfluss, der Rio Desaguadero im Süden, ist nicht während des ganzen Jahres wasserführend und trägt nur 5 Prozent zur Entwässerung des Sees bei. Der Rest ist Verdunstung durch den trockenen Wind und die starke Höhensonne. So kommt es zu einer allmählichen Versalzung und zunehmenden Umweltproblemen. Das Wasser verdunstet, Schadstoffe bleiben im See.


Austrocknen dürfte der an manchen Stellen fast 300 Meter tiefe See nicht so bald. Doch wegen der ausbleibenden Niederschläge nähert sich der Pegel des Titicaca - Sees mit 3.808,19 Metern derzeit dem historischen Tiefststand von 3.808,10 Metern (1996) an und es könnte noch weniger werden. Betroffen sind rund zwei Millionen Menschen, für die der See als Trinkwasserreservoir dient. Auch Fischfang, Tourismus und die Landwirtschaft leiden. Die Quinoa-Ernte – ein besonders eiweißhaltiges Andengetreide, das auch in Reformhäusern in Übersee Absatz findet – ist nach Angaben der Handelskammer des peruanischen Departements Puno um 90 Prozent eingebrochen.


Die Großstadt Puno (130.000 Einwohner) liegt direkt am See. Mit Juliaca (218.000 Einwohner, 85 Kilometer) und den bolivianischen Metropolen El Alto (850.000) und La Paz (760.000 beide ca. 130 Kilometer) liegen weitere Ballungsräume im Einzugsbereich. Während der bolivianische Vizeminister für Wasser noch Anfang September beruhigte, die Reserven seien auf optimalem Niveau, lud der Bürgermeister von La Paz, Iván Arias am 15. September zu einem Wassergipfel ein und eine persönliche Nachschau der Bürgermeisterin von El Alto, Eva Copa, bei den beiden wichtigsten Trinkwasserspeichern ergab, dass diese nur zu 50 bzw. zu 23 Prozent gefüllt sind. Während sich neben der Klimakrise nun auch das periodisch auftretende Wetterphänomen El Niño ankündigt, das neben großer Trockenheit oft auch katastrophale Starkregen bringt, nimmt die Nervosität zu. Brauchwasser solle verstärkt zum Einsatz kommen. Nachts soll der Wasserdruck in El Alto vermindert werden. Sieben von neun bolivianischen Departements sind aktuell von Trockenheit betroffen, 71 Gemeinden haben den Wassernotstand ausgerufen.


In Potosí wird bereits rationiert. Neben ausbleibenden Niederschlägen ist es dort vor allem die Belastung mit giftigen Abwässern aus dem Bergbau, die zur Wasserkrise beiträgt. In der Tat sind die Probleme seit Jahren bekannt: "Der Titicaca-See" erstickt in Algen", stand bereits vor einem Vierteljahrhundert in einigen Zeitungen. Das Problem beschränkte sich damals auf die flache Bucht von Puno, in die sich die ungeklärten Abwässer der Großstadt ergossen. Kläranlagen sollten Abhilfe schaffen.


Bereits im Jahr 1955 unterzeichneten die Regierungen von Peru und Bolivien ein Abkommen über die gemeinsame Nutzung des Titicaca – Wassers, zwei Jahre später folgte eine Wirtschaftlichkeitsstudie. Am 20. Februar 1987 wurde eine Subcomisión Mixta para el Desarrollo de la Zona de Integración del Lago Titicaca (SUBCOMILAGO) gegründet. Verlust der umgebenden Vegetation durch Überweidung und Erosion, Reduzierung der Wasservegetation (Totora-Schilf), abnehmende Fischpopulationen, Kontaminierung der Bucht von Puno durch biologische Abwässer und des Lago Poopó durch Schwermetalle: Das waren die wesentlichen Problemfelder die die bolivianisch-peruanische Kommission, SUBCOMILAGO, auf der Grundlage von Studien bereits Anfang der 90er Jahre identifiziert hat. Mit Unterstützung der Europäischen Union versuchte die binationale Kommission den Problemen zu begegnen: Verbesserung der Lebensbedingungen der Anrainer und Ressourcenschutz, vernünftige Wasserregulierung durch Kleindämme am Desaguadero in Verbindung mit bewässerter Landwirtschaft.


Überweidung, Verlust der Bodenfruchtbarkeit, Desertifikation: Vergleichbare Probleme treten im ganzen Andenraum auf. 60 Prozent des peruanischen Berglandes waren nach Schätzung des PROAGUA-Projekts der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (damals GTZ, heute GIZ) von der "Verwüstung" bedroht. Neben der Einführung geeigneter Techniken der Bewässerung und des Wassermanagements ging es bei PROAGUA (2015-2023) nicht zuletzt auch um Bewusstseinsbildung. Die Erfolge sind überschaubar, die Probleme nehmen zu.


Der Titicaca -See ist Teil des 56.000 qkm großen Titicaca -Beckens. Der Rio Desaguadero mündet nach 400 Kilometern in den Lago Poopó , der wie der Titicaca und der Lago Uro Uro , ein Überbleibsel des ursprünglich (gegen Ende der letzten Eiszeit) sehr viel größeren Sees ist. An diesen beiden Seen kämpften die letzten Uros und Chipayas ums Überleben, indianische Völker, die sich vom Fischfang und Wasservögeln ernähren. Vergeblich! Ungeachtet des Pachamama - Diskurses und der Umweltrhetorik der Regierung. In diesen kleineren Seen nahe der bolivianischen Minenstadt Oruro, waren die Umweltprobleme noch viel markanter, nicht zuletzt durch die Schwermetallbelastungen aus den Goldminen der Umgebung. Der Poopó -See wurde bereits im Jahr 2015 für ausgetrocknet erklärt. Die Reste des Uro-Uro sind von Plastikabfällen bedeckt.



von © Robert Lessmann Dr 24 Juli, 2023

Dass der Gipfel nach acht Jahren Abstinenz überhaupt stattfand ist sicherlich ein Erfolg per se, der nicht zuletzt dem brasilianischen Präsidenten Lula da Silva, beziehungsweise der Abwahl seines Vorgängers Jair Bolsonaro, geschuldet ist. CELAC – die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños) wurde Anfang Dezember 2011 in Caracas offiziell gegründet, noch unter dem bereits an Krebs erkrankten venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez – und zwar ausdrücklich ohne die USA und Kanada, also als Gegengewicht zu der von Washington dominierten OAS (Organisation Amerikanischer Staaten). Manche Analysten sehen darin eine Reaktion auf den von Washington unterstützten „Pyjama-Putsch“ 2009 in Honduras. Die 33 Mitgliedstaaten haben zusammen fast 600 Millionen Einwohner. Dass Brüssel heute mit der CELAC verhandelt ist zunächst einmal Ausdruck ihrer historischen Emanzipation von Bevormundungen aus dem Norden.


Deutliche Meinungsverschiedenheiten traten wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zutage. Die Europäer hätten gerne eine Verurteilung Russlands gesehen. Stattdessen wurde tiefe Besorgnis über den anhaltenden Krieg konstatiert, eine friedliche Lösung gefordert und die Einhaltung des Völkerrechts angemahnt – immerhin. CELAC erklärte sich solidarisch mit den Opfern, verschiedene Redner stellten den Konflikt in eine Reihe mit anderen, zum Beispiel dem in Palästina. Russland wird im Abschlussdokument nicht genannt. Insbesondere Nicaragua, Venezuela und Kuba hatten sich gesträubt. Letztlich verweigerte aber nur Nicaragua die Unterschrift. Andererseits fand der chilenische Präsident Gabriel Boric klare Worte zum russischen Krieg gegen die Ukraine. Es gehe hier nicht um Sympathie oder Antipathie, sondern um einen Verstoß gegen das Völkerrecht, und zwar durch den Angreifer: Russland. Heute sei es die Ukraine, aber morgen könne es jeder von uns sein, sagte er an seine Kolleginnen und Kollegen gerichtet.


Aber alle zusammen sind es leid, nach der Pfeife des Westens zu tanzen. Schließlich ist man lange genug den Taktgebern aus Washington gefolgt. Und während sich auch Europa nach deren Rhythmus bewegte – seien es diverse Sanktionen oder die umgehende Anerkennung der gescheiterten Parallelregierung unter Juan Guaidó in Venezuela – hatte Moskau die sogenannten progressistischen Regierungen unterstützt. Der scheidende argentinische Präsident Alberto Fernández hatte auch die historische Schuld Europas an Sklavenhandel und Kolonialismus angesprochen. Angesichts der Diversität der Lateinamerikaner (von denen AMLO aus Mexiko fehlte und Daniel Ortega aus Nicaragua, ebenso „Interimspräsidentin“ Dina Boluarte aus Peru; anwesend war dagegen Miguel Díaz-Canel aus Kuba) sicherlich ein diplomatischer Kompromisserfolg. Der bolivianische Präsident Luis Arce erklärte anschließend seinen Landsleuten, dass es nicht einfach sei, zwischen 60 Delegationen (33 aus CELAC und 27 aus der EU) zu einem Konsens zu kommen. Dazu sei viel politische Reife nötig.


Die wurde freilich aus Europa mit der Ankündigung von Investitionen in Höhe von 45 Milliarden Euro (davon 9 allein von Pedro Sánchez aus Spanien) gefördert. Bei diesem Punkt blieb Arce, der Präsident des Landes mit den größten Lithium-Vorkommen, freilich sehr deutlich: Lithium gebe es für alle, die sich an die Regeln halten. In seinem Land müsse auf allen Ebenen der Staat in Gestalt des Staatsunternehmens Yacimiento de Litio Bolivianos beteiligt sein. Schließlich seien die Rohstoffe hier laut Verfassung Eigentum des Volkes, verwaltet vom Staat. Zur Erinnerung: Die Europäer hatten sich erst im November 2019 durch ihr (im besten Falle tollpatschig zu nennendes) Verhalten beim Sturz von Präsident Evo Morales und der kurzfristigen Machtergreifung der Rechten selbst aus der Pole-Position geschossen. Das Geschäft machen nun einmal mehr chinesische Investoren.


Der große weiße Elefant im Raum

Dass hierzulande die selbsternannten Anwältinnen und Anwälte der „Normaldenkenden“ auf Kriegsfuß mit Begrifflichkeiten stehen, dürfte hinreichend bekannt sein. Die Frage ist, ob sie tatsächlich so schlampig denken, wie sie sprechen. Kanzler Karl Nehammer jedenfalls ließ sich im Vorfeld des Gipfels vom ORF mit dem Hinweis zitieren, dass es ja ein Veto des Parlaments gegen MERCOSUR gebe. Das gibt es natürlich nicht. Gemeint dürfte er damit den Entwurf eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und dem MERCOSUR haben. Dieser südamerikanischen Freihandelszone gehören zwar nur vier der 33 CELAC– Staaten an, aber mit Brasilien und Argentinien (neben Paraguay und Uruguay) eben zwei politische und wirtschaftliche Schwergewichte. So wurde in Brüssel zwar nicht darüber verhandelt, doch das Thema war ständig präsent und es gab am Rande dazu einen Dialog der Außenminister.


Bereits seit 24 Jahren verhandelt die EU mit dem MERCOSUR über ein Freihandelsabkommen, das einen gemeinsamen Markt für mehr als 700 Millionen Menschen schaffen würde. Das Veto der österreichischen Parlamentsmehrheit gegen den vorliegenden Entwurf zeigt die vielen unterschiedlichen Interessen, die im Spiel sind: Einerseits geht es um den Schutz der heimischen Agrarlobby vor vermeintlichen Billigimporten, vor allem von Rindfleisch und Futtermitteln auf Soyabasis. Andererseits befürchten Umweltschützer eine weitere Abholzung der Regenwälder, die gerade zu deren Produktion nötig sei. Noch grundsätzlichere Kritik stellt überhaupt das dahinter stehende Wachstumsdenken in Frage: Stichwort Lithium für Elektroautos statt neuer Mobilitätskonzepte. Den Europäern gehe es bei ihrer Charmeoffensive in erster Linie um Rohstoffe. Nutznießer seien vor allem transnationale Automobil- und Agrarkonzerne. Die Südamerikaner wiederum wehren sich gegen Bevormundungen und wollen sich nicht auf den Status von Rohstoffexporteuren reduzieren lassen. Lula da Silva etwa will das Abkommen forcieren, nennt den vorliegenden Entwurf der EU vom März diesen Jahres aber „inakzeptabel“. Eine strategische Partnerschaft lasse sich nur mit Vertrauen aufbauen und nicht mit Sanktionsdrohungen. Gerade die sind aber Umweltschützern wichtig für den Fall einer erneuten Präsidentschaft von Politikern vom Zuschnitt Bolsonaros. Vor allem wegen dessen Umweltbilanz lagen die Verhandlungen seit 2009 auf Eis. Brasilien will nun einen verbesserten Entwurf vorlegen. Die Fortsetzung der Verhandlungen wird bereits für August erwartet.


Zwischenbilanz


In Lateinamerika fand der Gipfel große Aufmerksamkeit. Vielleicht weniger euphorisch als in Europa sieht man ihn auch dort als „Anfang von etwas Neuem“. Konkrete Ergebnisse habe man auch gar nicht erwartet. Viel sei von „Augenhöhe“ und von „Dialog unter Gleichen“ die Rede gewesen. Wie weit das trägt, ob es gar für den Bau einer „Brücke der Brüderlichkeit“ reicht, wie es der bolivianische Präsident Arce formulierte, wird an den Akteuren diesseits und jenseits des Atlantiks liegen. Dort erwartet man als Voraussetzung, dass dies auf der Basis der Anerkennung von Souveränität und Selbstbestimmung geschieht, und ein größerer Teil der Wertschöpfung in den Erzeugerländern verbleibt. Denn dass die europäische Charmeoffensive von der Suche nach Rohstoffsicherheit getrieben und die „Wiederentdeckung Lateinamerikas“ durch die geopolitische Zeitenwende bestimmt ist, blieb nicht verborgen. Doch auch die Lateinamerikaner wollen ihren Reichtum an Rohstoffen verwerten. In Kommentaren zum Gipfel wird gefragt ob es gelingt, CELAG zu einer artikulations- und handlungsfähigen Gemeinschaft zu verfestigen. Angesichts der Herausforderung, zu einer neuen Weltordnung zu finden, wird allseits das Bekenntnis zum Multilateralismus hervorgehoben, das vom Gipfel ausging.

Im letzten Jahrzehnt haben ausländische Direktinvestitionen in erneuerbare Energien in Lateinamerika jene in Kohlenwasserstoffe übertroffen. Tendenz steigend. Und 75 Prozent dieser Investitionen in erneuerbare Energien kamen aus Europa. Unter den vorhandenen Alternativen scheint die EU nicht die schlechteste, auch hinsichtlich eines überfälligen wirtschaftlichen Umbaus.


von @ Robert Lessmann Dr 31 Mai, 2023

Willkommen in Wien, Herr Padura. Sie werden hier zum Thema „Der Charme der Bücher“ sprechen. Worin besteht der?



Lesen erschließt die Möglichkeit zur Veränderung. Bücher haben nicht nur Personen verändert, sondern die Welt. Literatur kann Wissen und Erfahrung vermitteln, Formen, die Realität zu verstehen. Eine Form von Literatur ist der Roman. Und der Roman erlaubt außerdem, nicht nur die Realität zu verstehen, sondern versucht zu erklären, wie die Menschen sind, wie sie denken, was sie fühlen. Ich glaube, das ist der große Charme, den die Bücher haben können. Milan Kundera hat einmal gesagt, der Daseinszweck der Bücher sei die Erforschung des menschlichen Wesens. Und ich stimme dem voll und ganz zu.


Ihre Bücher handeln hauptsächlich von Kuba. Ist das die wichtigste Perspektive?


Meine Arbeit, meine Form, das Leben zu verstehen, mich mit den Menschen zu verbinden, ist von einer Kultur geprägt und das ist die kubanische Kultur, der ich angehöre. Vor 13 Jahren gab mir Spanien die Staatsbürgerschaft. Ich habe auch einen spanischen Pass, und einige Journalisten fragten mich: „Nun, wo Sie doppelte Nationalität haben…“ Und ich sagte: „Nein, ich habe doppelte Staatsbürgerschaft“. Staatsbürgerschaft ist eine juristische Kategorie. Die Nationalität ist eine Zugehörigkeit. Und ich gehöre zu einer Kultur, der kubanischen.


In meiner Literatur gibt es Episoden, die an anderen Schauplätzen stattfinden. „Der Mann, der Hunde liebte“ spielt in Russland, der Türkei, Frankreich, Norwegen, Mexiko und Kuba, aber alles fängt mit Kuba an und hört mit Kuba auf. Die Vision, die Perspektive dieses Romans ist von Kuba aus. Es gibt eine Person, die die Geschichte empfängt und aus einer kubanischen Perspektive weitererzählt.


Sie sind im Oktober 1955 geboren und haben das ganze Leben mit der kubanischen Revolution (1.1.1959) gelebt, einem Prozess mit verschiedenen Phasen, das halbe Leben in der Krise, der sogenannten „Spezialperiode“. Wie nehmen Sie diese Prozesse wahr?


Die ganze Zeit seit 1959 ist von einem revolutionären Prozess gekennzeichnet, der sehr tiefgreifend war, weil er die wirtschaftlichen und politischen Strukturen grundlegend veränderte. Das Land ist nach 1959 ein anderes geworden und das hat auch die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert. Wir sind durch verschiedene Etappen gegangen. In den 1960er Jahren gab es große Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen, eine neue Institutionalisierung des Landes, sehr nach sowjetischem Vorbild, Veränderungen einschließlich der Beziehungen zwischen den Personen. Und das rief verschiedene Reaktionen hervor. Zum Beispiel in der Kultur gab es in den 1970er Jahren eine große Repression, von der ich in meinem neuen Roman „Personas Decentes“ erzähle, der im kommenden Jahr auch auf Deutsch erscheinen wird. (Der Titel auf Deutsch steht noch nicht fest.)


In den 1980er Jahren erlebte das Land die besten Momente. Die Leute bekamen für ihren Lohn etwas zu kaufen. Aber am Ende des Jahrzehnts fiel die Berliner Mauer und die Sowjetunion bracht zusammen. Für uns begann damit eine kritische Zeit, die euphemistisch „Spezialperiode“ genannt wurde, die aber eine Krise aller Bereiche war. Für meine Generation zerschlugen sich viele Möglichkeiten und Hoffnungen.


Darauf folgte eine seltsame Epoche, wo die Wirtschaft sich nicht erholte und die Gesellschaft zunehmend gespalten wurde. Heutzutage leben die Menschen in Kuba je nach ihrem Zugang zu Geld, was nicht heißt, dass sie mit ihrer Arbeit zu Geld kämen. Manche ja, andere spekulieren – und wieder andere bekommen von ihrem Bruder aus den Vereinigten Staaten 500 Dollar und leben damit besser, weil ein durchchnittlicher Monatslohn bei umgerechnet 20 Dollar liegt. Wenn dir jemand 100 Dollar schenkt, sind das fünf Monatslöhne. Wir erleben einen Moment großer Hoffnungslosigkeit im Hinblick auf die Zukunft.


Da von handelt der neue Roman?


Es geht um zwei historische Momente. Um 1909/1910 herum, kurz nach der kubanischen Unabhängigkeit, passieren viele Dinge in der Gesellschaft. Es ist eine Zeit der Modernisierung, des wirtschaftlichen Aufschwungs, weil die Präsenz der USA sehr stark ist. Kuba geht aus dem Unabhängigkeitskrieg hervor und keine zehn Jahre später gibt es auf den Straßen von Havanna mehr Automobile als in Madrid und Barcelona zusammen. Havanna wächst, und im Zentrum dieser Geschichte steht eine berühmte Person auf die alle schauen, ein Zuhälter, eine reale Person: Alberto Yarini, der italienische Wurzeln hat, aber 100 Prozent Kubaner ist. Um diese Figur herum entwickelt sich die Geschichte, die von einem jungen Polizisten erzählt wird, der im damaligen Rotlichtviertel von Havanna ermittelt. Und es gibt eine zweite Ebene: Im Jahr 2016 ermittelt Mario Conde andere Fälle. Warum 2016? Weil das auch so ein Hoffnungsmoment war. Im Jahr 2016 wurden die Beziehungen zu den USA wieder angeknüpft. Obama besuchte Havanna, die Stones und Chanel kamen nach Kuba. Die Hauptfigur ist im Grunde Havanna und was in diesen Momenten dort passierte. Die Geschichte dreht sich um die Hoffnungen der Menschen, die sich später auflösen.


Die Figur Mario Conde wird von Kollegen als Romantiker beschrieben, mit Widersprüchen, mit enttäuschten Hoffnungen, nostalgisch. Trägt er autobiographische Züge?


Mario Conde ist eine fiktive Figur. Ursprünglich Polizist in den ersten vier Romanen. Dann hört er auf, handelt mit Büchern aus zweiter Hand und betätigt sich als Detektiv. Er ist ein Mann meiner Generation mit den Erfahrungen des Lebens meiner Generation in Kuba und einer Reihe von Zügen, die seine sind, die aber meinen nahe kommen: Sein Gefallen an der Literatur, an Büchern, sein Verhältnis zu Freunden – sehr kubanisch, aber mit charakteristischen Eigenheiten. Zu romantisch für seine Arbeit. Er hat einen pessimistischen Charakter in Bezug auf die Wirklichkeit und eine Art, sich durch Ironie gegen die Aggressionen der Welt zu verteidigen, die ihn umgibt. Vor allem teilt er mit mir die Sicht auf die kubanische Realität aus der Perspektive eines einfachen Mannes. Mario Conde ist kein Intellektueller, hat keine herausgehobene politische oder wirtschaftliche Stellung. Er ist ein normaler, einfacher Mann und aus dieser Perspektive schaut er auf die Realität.


Viele „Kubanologen“ sehen in Ihren Romanen die besten soziologischen Studien über die zeitgenössische kubanische Gesellschaft, denn solche Studien im eigentlichen Sinne gibt es ja nicht. „Die Durchlässigkeit der Zeit“ führt die Leserinnen und Leser in eine Halbwelt der Homosexuellen, der „Palestinos“ („Palästinenser“ – halblegale Zuwanderer aus dem Osten der Insel) und der illegalen Geschäfte mit Kunstwerken. Haben Sie Probleme mit den Behörden bekommen, wenn Sie solche Themen aufgreifen?


In gewisser Weise versuche ich, eine literarische Chronik des zeitgenössischen Lebens in Kuba zu schreiben – ich betone: von der Literatur aus. Es gibt viele Perspektiven, über die Wirklichkeit zu schreiben: Historisch, soziologisch, journalistisch. In meinem Fall ist es romanhaft. Ich versuche also, diese fiktive Chronik des zeitgenössischen Lebens in Kuba zu schreiben. Im Fall der Romane mit Mario Conde zum Beispiel bin ich mit ihm durch die Jahre 1989 bis 2016 gegangen, zuerst als Polizist und dann als Verkäufer von Büchern aus zweiter Hand. „Der Mann, der Hunde liebte“ handelt von der Wahrnehmung der egalitären Utopie des 20. Jahrhunderts und vom Stalinismus. Mein Diskurs ist dabei nicht derselbe wie der offizielle kubanische. Das hat dazu geführt, dass ich als Schriftsteller in Kuba eine sehr geringe Sichtbarkeit habe. Ich stehe nicht in der Zeitung, bin nicht im Fernsehen oder im Radio präsent. Meine Bücher werden in Kuba wenig und schlecht publiziert. Aber ich habe alle möglichen Preise bekommen, einschließlich des kubanischen Literaturpreises. Das kubanische System ist weniger kompakt als das der Sowjetunion. Aber ich lebe in Kuba, schreibe über Kuba – doch wo ich die geringste mediale Präsenz habe, das ist in Kuba.


Aber in kulturellen und intellektuellen Kreisen liest man Sie?


Ja, durchaus. Viele Leute lesen meine Bücher. Aber sie lesen sie über die elektronischen Medien. Mein jüngstes Buch, „Personas Decentes“, kam in Spanien am 28. August letzten Jahres heraus und am 1. September gab es schon eine Raubkopie in Kuba im Netz.


Ich möchte auf das Thema der großen Einkommensunterschiede zurückkommen. In „Die Durchlässigkeit der Zeit“ wird Mario Conde in ein Restaurant im Stadtteil „El V e dado“ von Havanna eingeladen, über das er dann sagt, seine Freunde und Kollegen hätten keine Vorstellung, dass es so etwas überhaupt gibt. Ich habe persönlich auch den Eindruck, dass hier eine Neob o urgeoisie entsteht.


Ja, ja.


Und die wächst. Das stellt doch eine Herausforderung für das System dar. Wohin führt diese Entwicklung?


Wie sich das in Zukunft entwickeln wird, weiß ich nicht. Es ist sehr schwierig, die Zukunft vorherzusagen. Überall auf der Welt. In Kuba ist es nahezu unmöglich, weil uns Information fehlt. Die kubanische Gesellschaft ist ja sehr wenig transparent. Das System generell und besonders das Finanzsystem ist derart deformiert, dass man nicht weiß, was etwas kostet. Man kann einen Artikel finden um 40 kubanische Pesos und am anderen Tag zahlt man 40 Dollar dafür. Und auch das Verhältnis des Peso zum Dollar schwankt stark. Mal entspricht der Peso dem Dollar, dann liegt der Dollar bei 24 Pesos und am Schwarzmarkt bei 200. Im Augenblick gibt es Leute, die wegen ihrer Beziehungen oder wegen ihrer Fähigkeiten private Unternehmen besitzen, und einige davon machen viel Geld. Das Problem ist die Ineffizienz der kubanischen Regierung. Es passieren viele undurchsichtige Dinge, aber was ich spüre ist: Da bewegt sich eine Menge Geld von der wir nicht wissen wo es herkommt und wo es hingeht.


Ihr letzter Roman, „Wie Staub im Wind“, handelt von einer Gruppe von Freunden aus einer desillusionierten Generation, die sich auseinanderlebt. Fast alle möchten Kuba verlassen. Doch die Geschichte handelt auch von der Liebe als Verbindendem, der untereinander und der Liebe zu Kuba. Haben die Kubaner ein besonderes Verhältnis zu ihrer Insel?


Ja. Ich glaube wir Kubaner haben ein besonders inniges Verhältnis zu dem Land, zu dem wir gehören. Wie überall, denke ich. Das Problem ist, wenn man beschließt, irgendwo anders zu leben, sagen wir in Südafrika oder Europa, dass dies mit Schwierigkeiten verbunden ist. Mal durfte man überhaupt nicht raus, mal nicht wieder zurück. Eine Schlüsselfigur in meinem Roman sagt an einer Stelle: „Die Gründe zu gehen, sind triftig. Die Gründe zu bleiben, sind es auch.“ Darum geht es. Beides sollte man respektieren.

von © Robert Lessmann Dr 18 Apr., 2023

Vom 13.-17. März fand in der Wiener UNO-City die 66. UN C o mmission on Narcotic Drugs (CND) statt. Zum ersten Mal seit der Pandemie trafen sich die Delegierten aus aller Welt wieder ohne Einschränkungen. Mit Abstand ranghöchster Vertreter war der bolivianische Vizepräsident David Choquehuanca.


Der Mann aus dem Volk der Aymara trägt einen roten Poncho als er mit bedächtigen Bewegungen ans Rednerpult tritt und sein Glas hebt: „Milch“, sagt er nach einer längeren rhetorischen Pause zum Erstaunen der Zuhörer. „Die Milch der Mutter Erde, von der wir alle leben. Wir sind alle Brüder und Schwestern, alle gleich, aber auch unterschiedlich. Und nicht nur wir leben von der Milch der Mutter Erde. Auch die Tiere und Pflanzen.“ Und dann spricht er von der Harmonie im Kosmos und vom Kokablatt, das diese Harmonie perfekt verkörpere und das für die Andenvölker heilig sei: „Im Jahr 1961 hat die UNO Drogenkonvention einen historischen Irrtum begangen, ein Attentat auf die ursprünglichen Völker, indem sie das Kokablatt innerhalb der nächsten 25 Jahre zum Aussterben verurteilte. Auf dieses Urteil antwortete das Kokablatt: ‚Ich bin Tausende von Jahren alt. Ich bin Ausdruck des Lebens in perfektem Gleichgewicht‘, sagte es zur Konvention. ‚Ich bin Gesundheit, ich bin Nahrung, ich bin tausendjährig, ich bin unzerstörbar.‘“ Am Ende seiner Rede erhält er standing ovations von den gut hundert bei diesem side-event anwesenden NGO-Vertretern und Diplomaten.


Am Vortag, bei seiner Rede vor dem Plenum, war es unspektakulärer. Auch hier trug der ranghohe Gast einen roten Poncho, trat ansonsten aber ohne Showeffekte auf, erschien pünktlich und hielt sich fast genau an die fünfminütige Redezeit. Im Mai will Bolivien offiziell einen Antrag an den UNO-Generalsekretär stellen: Das Kokablatt soll aus der Liste No. 1 der UNO-Drogenkonvention von 1961 gestrichen werden, wo es zusammen mit Substanzen wie Kokain und Heroin aufgelistet ist und dem strengsten Kontrollregime unterliegt. Dazu wird ein Expertenkomitee der Weltgesundheitsorganisation WHO ein Gutachten erstellen und die Mitgliedsstaaten haben dann 18 Monate Zeit zur Formulierung von Einwänden, bevor der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) eine Entscheidung trifft.


Bereits im Jahr 2009 war Präsident Evo Morales nach Wien gekommen. Eine neue Verfassung hatte das Kokablatt soeben in Artikel 384 zum schützenswerten „andinen Natur- und Kulturerbe“ erklärt. Ein Kokablatt zum Mund führend hatte er damals im Plenum den Chef des UNO-Drogenkontrollprogramms UNODC aufgefordert: „Und nun müssten Sie mich eigentlich anzeigen. Und deshalb bin ich gekommen: Damit die internationalen Bestimmungen in Einklang kommen mit der Kultur meines Landes – und nicht umgekehrt.“ Auch da hatte es Applaus eines Teils der Delegierten gegeben. Rappelvoll war der Saal. Alle wollten den jungen, feschen, indigenen Präsidenten aus ärmsten Verhältnissen und mit den radikalen Ansichten sehen, der mit Verspätung kam, herausfordernd-provokativ und seine Redezeit deutlich überzog. Indes: Damals machte Bolivien unmittelbar einen Rückzieher und beantragte nur die Streichung zweier Unterparagraphen (Art. 49/1c und 2e) aus der Konvention, die ein Verbot von Konsum und Anbau des Kokablattes verlangen. Selbst dies scheiterte damals am Widerspruch einer Reihe selbsterklärter „Freunde der Konvention“. In einem Akt einmaliger Präzedenz trat Bolivien daraufhin als erstes Land am 1. Februar 2013 aus der UNO-Drogenkonvention aus – und unter Vorbehalt gegen die Artikel 49/1c und 2e wieder bei, wodurch das Kokablatt dort quasi unter Hausarrest steht. Der Export bleibt verboten. Geändert hat das am Status quo im Grunde nichts, denn bereits die UN-Konvention von 1988 hatte Anbau und Konsum ausnahmsweise gestattet, wo sie historisch und kulturell nachgewiesen sind. Das gilt neben Bolivien auch für Peru und indigene Territorien Kolumbiens.


Im gleichen Jahr 2009 erklärte eine Lateinamerikanische Drogenkommission um die Expräsidenten Zedillo, Gavíria und Cardoso, die rasch zu einer Internationalen Drogenkommission mutierte, die internationale Drogenpolitik für gescheitert und forderte Reformen. Doch der bolivianische Vorstoß blieb isoliert und auf halben Wege stecken. Abgesehen vom Kokablatt betrieb Bolivien eine sehr konservative Drogenpolitik und beteiligte sich auch nicht an der Internationalen Drogenkommission, deren Initiative immerhin in eine Sondergeneralversammlung (UNGASS 2016) zum Thema Drogen mündete, die „erweiterte Interpretationsspielräume für die Konvention“ einräumte, um sie als Ganzes zu retten. Im Jahr des bolivianischen Aus- und Wiedereintritts 2013 schuf Uruguay als erster Nationalstaat einen regulierten und legalen Markt für Cannabis. Etliche US-Bundesstaaten waren dem vorausgegangen und seitdem folgte eine Reihe weiterer Länder, die mit unterschiedlichen Modellen ihre Drogenpolitik am Rande oder jenseits der Bestimmungen der Konvention gestalten. Den Cannabis-“Legalisierungen“ gilt heute die Hauptsorge des INCB ( International Narcotics Control Board ), der UNO Wächterorganisation über die Einhaltung der Konventionen, und die USA, die stets Hauptprotagonist des „Drogenkriegs“ waren, sind heute mit der Eindämmung der Fentanyl-Krise beschäftigt, die Opfer in bisher unbekanntem Ausmaß fordert.


Sind also heute die Chancen für eine Entkriminalisierung des Kokablattes größer? Einerseits hat die Welt ganz andere Sorgen. Andererseits ist die herkömmliche Drogenpolitik in Bausch und Bogen gescheitert. Nach einem halben Jahrhundert angebotsorientiertem „Drogenkrieg“ liegen die Kokain- und die Heroinproduktion auf Rekordniveau. Das gilt auch für deren pflanzliche Ausgangsprodukte Koka (Bolivien, Kolumbien und Peru) bzw. Schlafmohn (Afghanistan, Myanmar). Eine wachsende Zahl von Ländern hält Prävention und Therapie inzwischen für zielführender als deren Bekämpfung, die eine Menge negativer Begleiterscheinungen hatte. „Drogenkonsum kann töten“, sagte der UNO Hochkommissar für Menschenrechte, der Österreicher Volker Türk, in seinem Videostatement zum Auftakt der diesjährigen Kommission: „Drogenpolitik aber auch“. Er wandte sich damit insbesondere gegen die Todesstrafe im Zusammenhang mit Drogendelikten. Doch jahrzehntelang waren auch die Kokabauern der Andenländer Zielscheibe des „Drogenkriegs“. Kolumbien, das einen hohen Preis an Menschenleben und Bauernvertreibungen bezahlt hat, kündigte unter dem Motto „paz total“ eine neue Drogenpolitik an, die in den Friedensprozess eingebettet sein soll und insbesondere die Bauern aus der Schusslinie nehmen will. „Wir sind es leid, die Toten zu stellen“, sagte Delegationsleiterin Laura Gil. Bogotá unterstützte explizit den bolivianischen Vorschlag. Und auf Initiative des mexikanischen Präsidenten López Obrador soll es im August in Bogotá eine internationale Konferenz zur Koordination dieser Politiken geben. Man darf gespannt sein.


Andererseits sind den durchaus radikalen Ankündigungen von Präsident Gustavo Petro zwar noch kaum Veränderungen gefolgt, aber elf einschlägige US-Delegationen, die zwischen Juli und Dezember 2022 Bogotá besuchten. Unterdessen gingen die Zwangseradikationen von Kokafeldern weiter. Zwischen August und Dezember 2022 wurden 23.000 Hektar vernichtet, ein Rhythmus vergleichbar mit dem der Regierung Duque in ihrem letzten Semester. Und Pedros Offerte an die Chefin des US Southern Commands, Laura Richardson, Waldbrände im amazonischen Regenwald gemeinsam zu bekämpfen, mag in Brasilia, Caracas und La Paz womöglich ungläubiges Staunen verursacht haben. Dieselbe Generalin Richardson übrigens, die sich in jüngster Vergangenheit wiederholt aufsehenerregend um den schwindenden US-Einfluss im Lithiumdreieck (Argentinien, Bolivien und Chile) gesorgt hatte. Die Monroe-Doktrin lässt grüßen. Man darf also doppelt gespannt sein, inwieweit die internationalen Initiativen ernst gemeint sind oder inwieweit sie sich primär an das heimische Publikum richten. Die bolivianische Delegation in Wien wurde von Vizepräsident David Choquehuanca und Innenminister Eduardo del Castillo angeführt. Ersterer gilt als stärkster innerparteilicher Widersacher des Expräsidenten und Kokabauernführers Evo Morales, der wiederum fast im Wochenrhythmus den Rücktritt von Letzterem fordert. Sympathien bei Morales’ Kernbasis, den Kokabauern, zu gewinnen könnte also zumindest ein willkommener Nebeneffekt ihres Besuches in Wien gewesen sein.

von © Robert Lessmann Dr 16 Feb., 2023

Ende Januar schaffte es Peru in die Schlagzeilen und die Hauptabendnachrichten: „Proteste in Peru laufen aus dem Ruder“, titelte der ORF. Papst Franziskus schloss Peru in sein Angelus-Gebet ein und der UNO-Hochkommissar sandte endlich einen Sonderbeauftragten nach Lima, der Aufklärung über Menschenrechtsverletzungen verlangte und darüber, wie sie künftig verhindert werden könnten. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Zahl der Todesopfer bereits mit etwa 50 beziffert, bis auf wenige Ausnahmen Zivilisten und getötet mit Waffen, wie sie das Militär verwendet.


An jenem Wochenende um den 20.-22. Januar 2023 hatten Protestbewegungen aus dem ganzen Land zu einem Sternmarsch auf Lima aufgerufen unter dem Motto: „Toma de Lima“, die Hauptstadt sollte „eingenommen“ werden. Der Marsch war deklariert als „Marcha de los Suyus“ – eine klare Anspielung auf die indigene Protestkomponente, hatte sich doch das Inkareich bis zur Conquista 1532/33 als Tawantinsuyu verstanden, als Reich der vier Regionen: Chinchay Suyu im Norden bis ins heutige Ecuador, Kunti Suyu an der Pazifikküste im Westen, das Qolla Suyu im Andenhochland einschließlich des heutigen Bolivien und das Anti Suyu in Amazonien. Doch diesen Kontext hatte die hiesige Journalistik weder im Auge, noch im Kopf, als sie sich besonders um den Tourismus rund um die ehemalige Inkahauptstadt Cusco sorgte und um Besuchergruppen, die in Aguas Calientes unterhalb der Ruinen von Machu Picchu festsaßen, weil die Bahnverbindung unterbrochen war. Blockaden von Straßen- und Eisenbahnverbindungen sowie Versuche, Flughäfen zu besetzen, dauerten zu diesem Zeitpunkt bereits seit sechs Wochen an. Die Proteste hatten vor allem im südlichen Hochland ihren Ausgang genommen, in den Provinzen Arequipa, Cusco und Puno am Titicaca-See. Doch inzwischen war in einem Drittel der Provinzen der Ausnahmezustand verhängt worden. Die gewalttätige Repression der Staatsmacht hatte sie nur umso mehr befeuert. Sie sind getragen von Gewerkschaftsorganisationen, Bauern, indigenen Organisationen, zunehmend auch von Studenten. Die Mittelschichten fehlen weitgehend (noch). Im Gegensatz zur Behauptung der Regierung, sie seien von Drogenhändlern, illegalen Minenarbeitern, Extremisten des „Sendero Luminoso“ (der seit drei Jahrzehnten als zerschlagen gilt) und vom benachbarten Bolivien gesteuert, scheinen sie weitgehend spontan gewesen zu sein. Es ist keine klare Führung auszumachen und die Forderungen sind uneinheitlich: Rücktritt der „Interimspräsidentin“ Dina Boluarte und Neuwahlen, Freilassung des abgesetzten Präsidenten Pedro Castillo, Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung sind die wichtigsten darunter. Eine zunehmend größere Rolle spielt auch die Forderung nach Bestrafung der Verantwortlichen für die harte Repression. Darüber hinaus herrscht auch eine profunde Ablehnung des politischen Systems und seiner Repräsentanten, wie sie im allgegenwärtigen Slogan „que se vayan todos“ – sie sollen alle abhauen – zum Ausdruck kommt.


Auslöser der Proteste waren der Sturz und die Verhaftung des gewählten Präsidenten Pedro Castillo am 7. Dezember 2022 nach nur 16 Monaten im Amt. Pedro Castillo ist ein Grundschullehrer und Gewerkschafter aus einer Kleinstadt der Region Cajamarca im Norden. Der politische Newcomer gehörte der sich als marxistisch-leninistisch bezeichnenden Partei „Perú Libre“ an und setzte sich in der Stichwahl gegen die im politischen Establishment bestens vernetzte Tochter des autoritären und später zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilten Expräsidenten Alberto Fujimori ganz knapp durch. Beide, Pedro Castillo und Keiko Fujimori, hatten es im ersten Wahlgang nicht auf 20 Prozent der Stimmen gebracht. Unter dem Motto „keine Armen mehr im reichen Peru“ trat er am 7. Juli 2021 seine Präsidentschaft an.


Der Präsident vom Lande hatte keine Mehrheit im Kongress. Die städtischen Eliten standen ihm misstrauisch bis feindselig gegenüber und stellten, mit tätiger Mitwirkung der Medien, die sich in ihren Händen befinden, von Anbeginn seine Befähigung in Frage. Hautfarbe und Hochsprache, wie sie von den Eliten in Lima gesprochen wird, sind die zwei wichtigsten Kriterien für rassistische Stigmatisierung. Von Anfang an hatte er es mit teils offen rassistischen Anfeindungen, Korruptionsermittlungen und Amtsenthebungsverfahren zu tun. Dutzende Gesetzentwürfe wurden abgelehnt. Planlosigkeit, konfuse Entscheidungen, mangelnde Transparenz und die Berufung unfähiger Leute waren Wasser auf die Mühlen seiner Gegner. Wertkonservative bis reaktionäre Haltungen – etwa in Fragen der sexuellen Orientierung – brachten aber auch Sympathisanten zum Stirnrunzeln. Bereits nach einem Vierteljahr Amtszeit raubte das Parlament der Regierung mit dem Ley 31.355 vom Oktober 2021 die Möglichkeit, Verfassungsreformen durchzusetzen, den Kongress aufzulösen und Parlamentswahlen auszurufen. In 495 Amtstagen hatte Castillo fünf Kabinette mit 78 Ministern, überstand zwei Amtsenthebungsverfahren und unzählige politische Skandale.


Um einem dritten Amtsenthebungsverfahren zuvorzukommen, kündigte Castillo am 7. Dezember die Auflösung des Parlaments an. Unter den gegebenen Umständen politischer Selbstmord. Stattdessen wurde er unter dem Vorwurf eines versuchten Staatsstreichs und „moralischer Unfähigkeit“ vom Parlament abgesetzt und verhaftet. Nachfolgerin wurde Vizepräsidentin Dina Boluarte. Ebenfalls aus der Partei „Perú Libre“ stammend und politisch unerfahren, war sie von Pedro Castillo erst Anfang 2022 als Verlegenheitslösung zur Vizepräsidentin berufen worden, nachdem sein Wunschkandidat, der Mediziner Vladimir Cerrón Rojas, wegen juristischer Hindernisse ausgefallen war. Sie ist legitime, verfassungsmäßige Nachfolgerin, wird es aber schwer haben, sich mit der Verantwortung für so viele Tote zu behaupten. Drei ihrer Minister sind schon zurückgetreten. Schwer zu sagen, ob es einen Weg des Dialogs gegeben hätte, aber sie hat von Anfang an darauf gesetzt, lange im Amt zu bleiben und ihre Macht polizeilich-militärisch abzusichern. Wahlen sind erst für April 2024 angesetzt. Vorgezogene Neuwahlen – inzwischen auch von Boluarte selbst ins Spiel gebracht – wurden vom Parlament mehrmals verworfen, allerdings mit zunehmend schwindenden Mehrheiten. Eigentlich starker Mann ist ihr Verteidigungsminister Luis Alberto Otárola, der inzwischen zum Ministerpräsidenten aufgestiegen ist. Boluarte hat sich damit rechten Hardlinern ausgeliefert. Sollte auch sie zurücktreten, wäre mit Parlamentspräsident José Williams ein ultrarechter pensionierter Armeegeneral der verfassungsmäßige Nachfolger.


Es handelt sich um eine Dauerkrise. Peru hatte in fünf Jahren sechs Präsidenten. Alle schieden unfreiwillig aus dem Amt. Viele sind mit der Justiz konfrontiert und einer, Alan García, hat sich erschossen, um einem Korruptionsverfahren zu entgehen. Ungeachtet des politischen Chaos steht Peru mit soliden Wachstumsraten da. Aber mehr als 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden im Großraum Lima erwirtschaftet und ein großer Teil der Bevölkerung ist vom Wohlstand ausgeschlossen. Während der Pandemie ist die Armutsquote von 20 auf 30 Prozent angewachsen. Die Grenze zwischen Arm und Reich verläuft parallel zu der zwischen indigen und nicht-indigen. Lima und das Landesinnere, das sind zwei verschiedene Welten. Pedro Castillo, der für 36 Monate in Untersuchungshaft sitzt, ist – politisch möglicherweise unverdientermaßen – zu einer gewissen Identifikationsfigur für die Unterdrückten und Beleidigten (Dostojewski), die Bauern und Indigenen, die Armen und Marginalisierten geworden. Der Historiker Gustavo Montoya von der Universidad Nacional Mayor de San Marcos sieht die derzeitige Situation auch als historische Chance, darüber nachzudenken, welchen Staat Peru hat und in welchem Verhältnis Staat und Gesellschaft zueinander stehen. Vieles wird davon abhängen, inwieweit sich die spontanen Proteste weiter verstetigen, sich organisatorisch zusammenfügen und eine Führung finden.


Demokratie als u mkämpftes Terrain

Anders geartet, aber in frischer Erinnerung ist der Sturm auf die Regierungsgebäude in Brasilia nach dem Wahlsieg von Lula da Silva am 8. Januar, der nach ähnlichem Drehbuch abzulaufen schien, wie zwei Jahre zuvor der Sturm paramilitärisch organisierter Trump-Anhänger auf das Kapitol in Washington. In beiden Fällen geschah dies unter Vorwürfen von Wahlbetrug, den die Protagonisten jeweils schon vor der Wahl prophezeiten. In Brasilia richteten sie sich gegen einen Wahlsieger und frisch ins Amt eingeführten Präsidenten unter Mithilfe von Teilen der Sicherheitskräfte. In Washington wurden sie mutmaßlich von einem noch amtierenden Präsidenten gegen den Wahlsieger orchestriert. Die Parallelen scheinen weniger erstaunlich, wenn man weiß, dass die extreme Rechte weltweit gut vernetzt ist. Eduardo Bolsonaro, Sohn des abgewählten brasilianischen Präsidenten, ist beispielsweise Verbindungsmann von Trump-Berater Steve Bannon nach Südamerika. Zu diesen Netzwerken lohnen weitere Recherchen und Forschungen.


Schon im Herbst 2019 war ich zu einer Serie von Veranstaltungen eingeladen mit der Frage: „Flächenbrand in Lateinamerika?“ In Chile, Ecuador und Kolumbien waren damals Proteste gegen das neoliberale wirtschaftliche Modell eskaliert, die von Fahrpreiserhöhungen beziehungsweise Benzinpreissteigerungen ausgegangen waren. In Chile führten sie zu einem Linksruck, einem Regierungswechsel und einem Verfassungsprozess zur Ablösung der alten Pinochet-Verfassung. In Kolumbien wurde letztes Jahr mit Gustavo Petro zum ersten Mal ein Linker zum Präsidenten gewählt. In Bolivien wurde dagegen 2019 mit Evo Morales der Repräsentant eines Gegenmodells zum Neoliberalismus und Hoffnungsträger der Linken gestürzt, der bereits bei den Wahlen vom Oktober 2005 durch einen Erdrutschsieg an die Macht gekommen war, was auch als Revolution mit dem Stimmzettel bezeichnet wurde. Ein Jahr später, 2020, erzwangen die sozialen Bewegungen dort Neuwahlen, die wiederum die alte Regierungspartei MAS ( Movimiento al Socialismo ) mit absoluter Mehrheit gewann. Damit ist dort der Prozess des Wandels ( proceso de cambio ) zurück. Die MAS selbst ist allerdings heute von Spaltung bedroht. Statt von einer Wellenbewegung zwischen Links und Rechts, zwischen fortschrittlichen und regressiven Kräften, darf man also eher von einem permanenten Machtkampf sprechen.


Nach einer Epoche der Diktaturen in den 1960er bis 1980er Jahren und zwei bis drei Jahrzehnten Neoliberalismus und Rückkehr zur Demokratie steht der Halbkontinent makroökonomisch ganz gut da und formaldemokratisch leidlich stabil. Das ändert sich gerade mit den Folgen der Pandemie und der drohenden Rezession. Peru beispielsweise steht im H uman Development Index der Vereinten Nationen unmittelbar nach Kuba (83) auf Rang 84 vor Mexiko (86), Brasilien (87), Kolumbien (88) und Ecuador (95). Lateinamerika ist aber die Region mit der markantesten sozialen Ungleichheit, der höchsten Kriminalität und einem ausgeprägten Hang zu gewalttätigen Konfliktlösungen.


Seit einer Welle „progressistischer“ Regierungen tobt ein heftiger Machtkampf, nicht mehr so sehr mit dem Militär oder Guerillagruppen, sondern an der Grenze zum „ low intensity conflict “ mit Straßenprotesten, Blockaden und Prozessen ( lawfare statt warfare ). Den Anfang machte 1999 Hugo Chávez in Venezuela, gefolgt von Lula da Silva in Brasilien (2003), Néstor Kirchner in Argentinien (2003), Tabaré Vasquez in Uruguay (2005), Evo Morales in Bolivien (2006), Rafael Correa in Ecuador (2007). In Argentinien, Brasilien und Bolivien kam zwischenzeitlich die Rechte zurück – in Uruguay und Ecuador ist sie noch an der Regierung. In Chile und Kolumbien gibt es neuerdings mit Gabriel Boric und Gustavo Petro Linksregierungen, die vor großen Herausforderungen stehen. In Chile ist das Verfassungsprojekt der Regierung Boric zunächst im Referendum vom 4. September 2022 mit 62:38 Prozent krachend gescheitert. Auch sie verfügt über keine Mehrheit im Parlament und ist mit finanzkräftigen alten Eliten konfrontiert, die die Medien kontrollieren und vor einer „Venezolanisierung“ und dem Kommunismus warnen. Ein wichtiger Grund der Ablehnung des Verfassungsentwurfs war das plurinationale Staatsmodell, das heißt die Aufwertung der indigenen Völker. Nicht hilfreich war die fehlende Einheit der Linken im Allgemeinen und das allzu radikale Auftreten gewisser Gruppen im Besonderen.


Die genannten Präsidenten der ersten „Linkswelle“ – man könnte beispielsweise noch Michelle Bachelet in Chile (ab 2006) hinzufügen - verfolgten durchaus unterschiedliche politische Agenden, wie sie vage als „progressistisch“ bezeichnet werden. Sie alle waren aber mit steifem Gegenwind konfrontiert. Hugo Chávez, der 1998 mit 56 Prozent der Stimmen gewählt und im Jahr 2000 auf der Grundlage einer neuen Verfassung mit 60,3 Prozent bestätigt worden war, wurde im April 2002 mit Unterstützung Washingtons kurzfristig aus dem Amt geputscht. Er gewann übrigens alle Wahlen und Abstimmungen von 1998-2012, mit Ausnahme des Referendums um eine Verfassungsänderung 2007, dessen Ergebnis er respektierte. Zum Teil antworteten sie mit dem Rückgriff auf populistische und autoritäre Herrschaftstechniken bis zu einem Punkt, wo sie nicht mehr als Vorbild dienen, sondern als abschreckendes Beispiel. Wo sie konnten, nutzten sie die Konjunktur und stützten ihre Modelle auf den Verkauf nicht erneuerbarer Rohstoffe (Extraktivismus), wie Öl und Gas, um Sozialprogramme zu finanzieren – und verzichteten dabei auf strukturelle Veränderungen, wie wirtschaftliche Diversifizierung. „Progressistisches“ Regieren war nicht frei von Widersprüchen, persönlichen Ambitionen und Korruption. In Ecuador, wo unter Rafael Correa in einer neuen Verfassung umfänglich indigene Rechte und zum ersten Mal die Rechte der „Mutter Erde“ festgeschrieben wurden, hinkte die Umsetzung derart hinter dem Anspruch her, dass Correa 2017 ins Exil ging. Nachfolger Lenin Moreno fiel durch den Gegensatz von progressistischer Rhetorik und neoliberaler Politik auf. Im Herbst 2019 ließ er Proteste blutig niederschlagen. Die Beziehungen zwischen dem (ehemals) progressistischen und dem indigenen Lager waren schließlich derart zerrüttet, dass man im Jahr 2021 einen Wahlsieg quasi verschenkte. Während der „Correist“ Andrés Arauz den ersten Wahlgang mit 14 Prozentpunkten Vorsprung gewonnen hatte und Yaku Pérez (Pachakutik) das bislang beste Ergebnis für das indigene Lager holte, gewann der neoliberale Guillermo Lasso die Stichwahl, der im ersten Wahlgang nur 19,5 Prozent holen konnte. Statt ein Bündnis einzugehen, bekämpfte man sich.


Qollasuyu – andine Gemeinsamkeiten

Dina Boluarte und Jeanine Añez haben Vieles gemeinsam. Auch wenn die eine den Jahreswechsel auf dem Präsidentensessel des Palacio de Gobierno in Lima verbrachte und die andere hinter Gittern in La Paz. Beide kamen unverhofft zur Präsidentschaft. Beide wurden dazu eingeladen, nicht gewählt. Vizepräsidentin Boluarte wurde es dann durch die überraschende Entfernung ihres Vorgesetzten aus dem Präsidentenamt. Añez wurde durch eine Versammlung von Ex-Politikern, mehrheitlich aus dem Umfeld des Ex-Diktators Hugo Banzer, ausgewählt, die in der Universidad la Católica von La Paz tagten, nicht im Parlament. Keiner von ihnen hatte irgendein Mandat. Unter tätiger Mithilfe der Katholischen Kirche und des damaligen EU-Botschafters, León de la Torre, wollten sie ein Machtvakuum füllen, an dessen Entstehung sie regen Anteil hatten. Die Vorgänge sind Gegenstand laufender Gerichtsverfahren. Auch Evo Morales, der gewählte Amtsvorgänger von Frau Añez, wurde aus dem Amt entfernt, und zwar unter Vorwürfen des Wahlbetrugs. Schon im Vorfeld der Wahlen vom Oktober 2019 behauptete die Opposition, dass es Wahlbetrug geben würde und es gab gewalttätige Übergriffe auf Kundgebungen und Büros der Regierungspartei MAS. Organisiert wurden sie von sogenannten Zivilkomitees, besonders dem der größten Stadt Santa Cruz, dem Luis Fernando Camacho vorstand und unter Beteiligung paramilitärischer Schlägertrupps wie der Unión Juvenil Cruce ñ ista und der Resistencia Juvenil Cochala . Als es dann bei der Schnellauszählung am Wahlabend zu Unregelmäßigkeiten kam, die von Wahlbeobachtern der OAS vorschnell öffentlich gemacht wurden (wirklich bewiesen wurde ein Wahlbetrug bis heute nicht) eskalierten die Proteste. In sechs von neun Departementshauptstädten gingen die Büros der Wahlkommission in Flammen auf. Schlechtes Krisenmanagement der Regierung tat ein Übriges. Schließlich stand der Wahlsieg der MAS als solcher (mit rund 47 Prozentpunkten) trotz herber Verluste gar nicht in Zweifel. Es ging um 10 Prozentpunkte Abstand vor dem Zweitplatzierten, die laut Wahlgesetz nötig sind, um eine Stichwahl zu vermeiden. Als dann noch eine Polizeimeuterei ausbrach und die Militärführung Morales den Rücktritt nahelegte, flohen Präsident und Vizepräsident außer Landes. Weder hatten sie ihren Rücktritt offiziell eingereicht, noch war dieser vom Parlament angenommen worden, wie es die Verfassung vorschreibt. Auch wäre Frau Añez als zweite Vize-Präsidentin des Senats nicht an der von der Verfassung definierten Reihe der Nachfolger gewesen. Trotzdem wurde sie in den westlichen Hauptstädten genauso schnell anerkannt wie die legitime Nachfolgerin Boluarte in Peru. Wie Boluarte dachte auch Frau Añez rasch an mehr als nur eine Interimspräsidentschaft. Ein ums andere Mal wurde ein möglicher Wahltermin unter Hinweis auf die Pandemie verschoben und bereits nach zwei Monaten gab Añez bekannt, dass auch sie kandidieren wolle – sehr zur Empörung des Zweitplatzierten bei der umstrittenen Wahl, Carlos D. Mesa. Wie Boluarte ließ sie ihre Präsidentschaft polizeilich-militärisch absichern. Abgeordneten der Regierungspartei, die über die absolute Mehrheit verfügte, wurde an den entscheidenden Tagen ihrer Machtergreifung der Zugang zum Parlament verwehrt. Es kam zu Massakern gegen protestierende MAS-Anhänger.


Zwischen Castillo und Morales gibt es ebenfalls Gemeinsamkeiten. Auch die Regierung Morales war in der Anfangszeit von vielen handwerklichen Schwächen gekennzeichnet und auch sie stand von Anfang an unter immensem Druck. Die Verfassunggebende Versammlung (ab 2006) wurde sabotiert und behindert, sodass sie in eine Militärakademie ausweichen und schließlich in eine andere Stadt umziehen musste. Der Zivilputsch von Santa Cruz 2008 brachte das Land an den Rand einer Spaltung. Aber Morales hatte die absolute Mehrheit im Parlament und war – im Unterschied zu Castillo – von starken sozialen Bewegungen getragen, aus deren Reihen er hervorgegangen war. Er war also im Unterschied zu Castillo kampferprobt, nicht unerfahren. Doch auch seinem Sturz gingen eklatante Fehler voraus. Seine Präsidentschaft war von vielen Erfolgen begleitet. Eine neue Verfassung schrieb soziale Rechte, Indígena-Rechte und die Rechte der Pachamama fest. Bolivien wurde zum „Plurinationalen Staat“. Indigene Sprachen wurden auch Amtssprachen und die bunte Wip h ala -Fahne gleichwertig neben die rot-gelb-grüne Nationalflagge gestellt. Die Nationalisierung der Kohlenwasserstoffressourcen spülte bei günstiger Konjunktur Devisen in die Staatskasse, die für eine Umverteilungs- und Sozialpolitik verwendet wurden. Die Armutsquote sank deutlich, die Lebenserwartung wuchs um Jahre, ein bedeutender Teil der Unterschicht stieg in die Mittelschicht auf. Ihre Binnennachfrage stabilisierte die Wirtschaft, auch als die Exporteinnahmen nach 2015 einbrachen. Grundlage war auch hier der Extraktivismus, grundlegende Strukturreformen unterblieben. Die Präsidentschaft von Morales war von einer Serie von Wahlen und Abstimmungen begleitet, die manche Beobachter als „referenditis“ bezeichneten. Er hat sie alle mit absoluter Mehrheit gewonnen. Eine in Bolivien bis dahin unbekannte demokratische Stabilität.


Bis zum Februar 2016, als Morales durch ein Referendum den Artikel 168 der Verfassung ändern lassen wollte, der nur zwei Amtsperioden in Folge zulässt. Das Referendum ging knapp verloren. Morales ignorierte das Resultat und kandidierte 2019 erneut. Viele Bolivianerinnen und Bolivianer sahen sich nun durch ihn um das einmalige Demokratieerlebnis betrogen, das er ihnen zuvor beschert hatte. Die völlig zersplitterte und inhaltsleere Opposition witterte Morgenluft.


Am 28. Dezember 2022 wurde in Santa Cruz der nunmehrige Gobernador (Ministerpräsident) des Departements, Luis Fernando Camacho, festgenommen. Er hatte sich geweigert, vor Gericht zu den Vorgängen um die Machtergreifung von Jeanine Añez auszusagen. An den Treffen in der Universidad la Católica hatte er selbst nicht teilgenommen, aber einen Vertreter geschickt. Insbesondere hatte er sich öffentlich damit gebrüstet, dass sein Vater die Polizei geschmiert und zur Meuterei angestiftet, und es mit dem Militär „geregelt“ habe. Schon kurz nach seiner Inhaftierung bekam er Besuch von Vertretern des chilenischen Boric-Widersachers und Pinochet-Bewunderers José Antonio Kast sowie der rechtsextremen spanischen Partei VOX.


Etwa zur gleichen Zeit zog Peru seine Botschafterin aus La Paz ab und Evo Morales, inzwischen MAS-Parteichef, erhielt Einreiseverbot. Die Schuldzuweisungen an Bolivien für die Unruhen in Peru nahmen zu. Ende Januar bezeichnete der fujimoristische Abgeordnete Ernesto Bustamante die von den Protestierenden benutzte bunte Wip h ala -Fahne als „trapo“ (Fetzen), wie ihn auch der „Narcoterrorist Morales“ benutze. Bustamante forderte die Militarisierung der Grenze und ein Ultimatum an das Nachbarland. Wenn Bolivien nicht aufhöre, die Proteste in Peru anzustacheln und zu finanzieren, solle das Militär dort einmarschieren und Rohstofflager besetzen, damit man hinterher Reparationszahlungen geltend machen könne. Es gibt freilich keinerlei Beweise für eine Einmischung Boliviens in Peru. Vielmehr entstehen dem Binnenland Millionenschäden dadurch, dass Peru seine Probleme nicht geregelt bekommt und Hunderte von Lastwagen seit Wochen beiderseits der Grenze in Desaguadero festhängen.  Die Bevölkerung in den südlichen Provinzen Perus, von denen die Proteste ihren Ausgang nahmen, ist bäuerlich-indigen geprägt und arm. Bei Puno verläuft die Sprachgrenze zwischen Quetschwa und Aymara, das in der Gegend rund um den bolivianischen Regierungssitz La Paz gesprochen wird. Die Menschen dort haben vieles, was sie kulturell verbindet. Sie brauchen aber gewiss keine auswärtigen Anstifter um sich zu empören und zu protestieren. Was die absurden Anschuldigungen und die Beleidigungen gegen Symbole wie die Wip h ala -Fahne zeigen, ist vor allem, dass hier wie dort die gleichen Kämpfe um soziale Gerechtigkeit und Emanzipation geführt werden. Beim Einzug von Frau Añez in den Präsidentenpalast in La Paz wurden Wip h ala -Fahnen verbrannt und Gobernador Camacho hatte sich stets geweigert, sie zu hissen. Die siebenfarbigen Quadrate fanden sich auf Inka-Textilien. Ob es sich um eine Inka-Flagge handelte, ist nicht erwiesen. Doch im ganzen Andenraum und darüber hinaus gilt sie heute als indigenes Symbol. Sie zu missachten zeigt nur Unverständnis und rassistische Verachtung durch Eliten, die sich an die Macht und ein anachronistisches Herrschaftssystem klammern. Und genau darum geht es beim Kampf um die Demokratie.


Europa und die Wiederentdeckung Lateinamerikas

Diesseits des Atlantiks verhält man sich zu alledem bestenfalls eher nicht. Oft genug stand man auf der falschen Seite. Europa hat Lateinamerika sträflich vernachlässigt. Die Lateinamerika-Forschung an den Universitäten wurde ausgedünnt, auswärtige Ämter und Vertretungen quantitativ wie qualitativ unterbesetzt. Die Progressiven hat man bestenfalls distanziert mit der Pinzette angefasst, sich an US-Sanktionen beteiligt und beispielsweise die gescheiterte venezolanische Parallelregierung unter Juan Guaidó umgehend anerkannt. In Wien geschah dies damals auf der Grundlage eines Tweets des Lateinamerikaexperten Sebastian Kurz. Nebenbei führte das dort auch zu seltsamen Allianzen mit Ländern wie Belarus oder dem Iran nach dem Motto „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ - und weiterer Entfremdung. Nicht Europa, China hat das Vakuum gefüllt, das die Vereinigten Staaten auf dem Halbkontinent hinterlassen haben. Mit der geänderten geopolitischen Lage („Zeitenwende“) scheint man das nun korrigieren zu wollen. Wie willkommen die Kundfahrt des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz im Januar aufgenommen wurde, zeigte eine durchaus unübliche spontane Umarmung durch den brasilianischen Präsidenten Lula da Silva auf offener Bühne während einer gemeinsamen Pressekonferenz. Über die Ablehnung des Ansinnens von Waffenhilfe an die Ukraine brauchte man sich trotzdem nicht zu wundern. Wer mag Scholz da beraten haben? Moskau hatte – ob aus Altruismus oder aus geopolitischen Erwägungen - die „Progressisten“ unterstützt.


Neben Brasilien besuchte Scholz auch Argentinien und Chile, was medial als besonders weitsichtig hervorgehoben wurde. Handelt es sich doch um zwei der wichtigsten Lithiumproduzenten. Lithium ist für die geplante Energiewende von großer Bedeutung. Nicht besucht wurde das kleinere, angrenzende Bolivien, das über die größten Lithiumvorkommen der Welt verfügt. Dass darüber mit keinem Wort berichtet wurde, erstaunt erst auf den zweiten Blick, dann aber umso mehr: Am 12. Dezember 2018 war in Berlin im Beisein des bolivianischen Außenministers und des deutschen Wirtschaftsministers Peter Altmaier ein Joint Venture zur Lithiumgewinnung gegründet worden. Bis zum November 2019 saß der beteiligte baden-württembergische Mittelständler auf unterschriftsreifen Verträgen, die dann auf Eis gelegt wurden, was zu Spekulationen über eine Beteiligung von Mitkonkurrenten am Sturz der Regierung Morales Anlass gab, zumal Tesla-Chef Elon Musk in seiner bekannt flapsigen Art, darauf angesprochen später sagte: „Wir stürzen wen wir wollen.“ Zweifellos hätte er die finanziellen Mittel dazu. Sicher ist, dass es Widerstand der umliegenden Gemeinden gegen das Projekt gab, die um ihr knappes Grundwasser fürchten. Und das betroffene Departement Potosí lehnte die Verträge ab, weil es eine höhere Gewinnbeteiligung wollte. Der damalige Chef des dortigen Zivilkomitees COMCIPO, Marco Pumari, war deshalb während des Wahlkampfes 2019 sogar in einen zwölftägigen Hungerstreik getreten. Pumari war übrigens einer der engsten Verbündeten von Luis Fernando Camacho bei den Unruhen, die zum Sturz von Morales führten, und im Wahlkampf 2020 dessen Kandidat für die Vizepräsidentschaft.


Wie auch immer: Als die MAS erneut an die Regierung gewählt und diesbezügliche Verhandlungen wieder aufgenommen wurden, standen fünf potenzielle Partner zur Auswahl. Kein Unternehmen aus Europa war mehr darunter. Den Zuschlag erhielt ein chinesisches Konsortium und bereits in der zweiten Jahreshälfte 2023 soll die Produktion von Lithiumkarbonat industrielle Dimensionen annehmen. Man rechnet dann mit Einnahmen in Höhe von 576 Millionen USD (gegenüber 37,8 in der Pilotphase 2022). Langfristig sollen es 30 Milliarden pro Jahr werden. Bolivien verfügt über rund ein Viertel der bekannten Reserven. Ob das nicht einen Bericht wert gewesen wäre?


Es mag eine Reihe von Gründen dafür geben, dass Europa nicht mehr im Rennen ist. Aber man darf wohl davon ausgehen, dass die fragwürdige Rolle des seinerzeitigen EU-Botschafters bei der Machtergreifung der Rechten im November 2019 das Vertrauen in europäische Partner zumindest nicht gestärkt hat. Ob ihm ein Vorwurf zu machen ist? Das wenigste was man sagen kann: Er spricht zumindest Spanisch. Der Mann war vormals spanischer Botschafter in Nicaragua. Zeitgleich zur Rückkehr der MAS an die Regierung wurde er als EU-Botschafter nach Santiago de Chile versetzt.




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von © Robert Lessmann Dr 06 Apr., 2024

Wien im März 2024. Die kolumbianische Botschafterin war in ihrem Schlusswort sehr klar: „Als ich vor einem Jahr erstmals hier sprach, stellte ich mich mit den Worten vor: ‚Ich heiße Laura Gil. Ich komme aus Kolumbien und ich bin müde.‘“ Müde von der Gewalt, den Toten, den leeren Versprechungen. Ein Jahr später müsse sie sagen: „Wir sind heute 60 Länder und wir sind es leid!“


Laura Gil sprach auf einem so genannten side event im Rahmen der 67. UN Commission on Narcotic Drugs.(1) Obwohl eine Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen (UNGASS) zum Thema Drogen im Jahr 2016 eine flexiblere Auslegung der einschlägigen Konventionen versprochen hatte, sei in der Praxis alles so starr und bürokratisch geblieben wie eh und je, sagte Gil, die zuletzt als Vize-Außenministerin ihres Landes für multilaterale Beziehungen zuständig war. UNGASS 2016 war auf Initiative Mexikos, Kolumbiens und Guatemalas einberufen worden: Eine Überarbeitung des bisherigen Ansatzes der internationalen Gemeinschaft gegenüber Drogen könne nicht länger aufgeschoben werden, hieß es bereits in einer gemeinsamen Erklärung vom 1. Oktober 2012. Dabei müssten die Vereinten Nationen eine Führungsrolle übernehmen, um „alle Optionen zu analysieren, einschließlich regulierender – oder Marktmechanismen, um ein neues Paradigma zu etablieren, das den Ressourcenfluss zu Gruppen organisierter Kriminalität verhindert.“ Herausgekommen ist das Versprechen größerer Flexibilität. In der Tat wurden seither Entkriminalisierungs- und Regulierungsmodelle bei Cannabis toleriert.


Neustart als Rohrkrepierer

Zu einer energischen Schwerpunktsetzung beim Kampf gegen die organisierte (Gewalt-) Kriminalität und die Geldwäsche – wie es die Lateinamerikaner gefordert hatten – kam es jedoch nicht. Im Jahr 2011 hatte das Büro für Drogen und Verbrechensbekämpfung der Vereinten Nationen (UNODC) eine bahnbrechende Studie über Geldwäsche vorgelegt. Demnach lag deren jährliches Volumen damals zwischen 1,2 und 1,6 Billionen US Dollar. Der größte Anteil entfalle mit 350 Mrd. auf den Drogenhandel und dabei wiederum auf den mit Kokain, der besser organisiert und zentralisierter sei als der mit anderen illegalen Substanzen. Zum Vergleich: Der aktuelle Budgetentwurf der deutschen Bundesregierung liegt bei 470 Mrd. €. Der illegale Drogenhandel sei gewissermaßen das Rückgrat der internationalen organisierten Kriminalität, hieß es damals in UNODC-Papieren. Indes: Eine längst überfällige Aktualisierung dieser Studie ist nicht in Sicht. Unter dem damaligen Exekutivdirektor des UNODC, Antonio Maria Costa (2002-2010 - ein Banker übrigens), habe man sich dieses heiklen Themas angenommen. Seither fehle der politische Wille dazu, ist aus dem UNODC zu vernehmen.


Dabei wäre es sechs Jahrzehnte nach der Verabschiedung der maßgeblichen UNO Drogenkonvention und einem halben Jahrhundert von Washingtons federführendem „War on Drugs“ höchste Zeit, neue und innovative Wege einzuschlagen. Die Zahl der Drogenkonsumenten befindet sich auf Rekordniveau und wächst schnell weiter. Schneller noch wachsen die Opferzahlen, vor allem durch neue, im Labor hergestellte psychoaktive Substanzen. Überdosen mit dem künstlichen Opioid Fentanyl sind heute die häufigste Todesursache für Männer zwischen 18 und 45 Jahren in Nordamerika. Die Produktion der klassischen, pflanzengestützten Drogen Kokain (Grundstoff sind die Blätter des Kokabusches aus Bolivien, Kolumbien und Peru) und Heroin (Schlafmohn/Opium aus Afghanistan, Myanmar und Mexiko) befindet sich jeweils auf Rekordniveau. Sogenannte Neue Psychoaktive Substanzen drängen mit einer Schnelligkeit und Vielfalt auf den Markt, die schon ihre Erfassung und damit das Kontrollsystem der Drogenkonventionen über Listen kontrollierter Substanzen überfordert. Zusammen mit einer wachsenden Rolle des Darknet beim Handel schränkt das die Zugriffsmöglichkeiten der Exekutive drastisch ein. Therapie und Prävention scheinen die wesentlich effektiveren Instrumente zu sein. Doch in der Praxis dominiert allenthalben noch immer der repressive Ansatz über das Strafrecht.


Diese konventionelle Politik ist in Bausch und Bogen gescheitert. Es gab allenfalls regionale Schwerpunktverlagerungen. Inwieweit ein Anbauverbot der Taliban für Schlafmohn in Afghanistan vom April 2022 nachhaltig sein wird, bleibt vor dem Hintergrund voller Lagerbestände abzuwarten. Ein ebensolches Verbot vom Jahr 2000/2001 war es jedenfalls nicht. Immerhin ist aktuell ein Rückgang der dortigen Opiumproduktion um 95 Prozent zu verzeichnen. Zwanzig Jahre westlicher Sicherheitskooperation waren dagegen von einem stetigen Anwachsen des Anbaus in Afghanistan begleitet. Schon nimmt der Anbau beim vormals wichtigsten Schlafmohnproduzenten, Myanmar, rapide zu.


Das Epizentrum des Kokaanbaus verlagerte sich bereits in den 1990er Jahren aus den traditionellen Anbauländern Bolivien und Peru nach Kolumbien (ohne dort zu verschwinden oder auch nur nachhaltig vermindert zu sein) und zwischenzeitlich auch wieder zurück. Man spricht vom Ballon Effekt; Druck an einer Stelle führt zur Ausdehnung anderenorts. Heute befinden sich 204.300 Hektar Anbaufläche (von insgesamt 296.000) in Kolumbien (2). Die Schaltzentralen des Kokaingeschäfts verlagerten sich von Kolumbien nach Mexiko, doch produziert wird nach wie vor in Kolumbien, wo rund zwei Drittel der Kokainlabors entdeckt und zerstört werden. Mehr als von einer Verlagerung muss man also von einer Ausbreitung des illegalen Drogengeschäfts und der mit ihm verbundenen Probleme sprechen.


Ecuador, Kolumbien und der War on Drugs

Jüngstes Beispiel dafür ist Ecuador, das in einer Welle von Gewalt versinkt, wie die deutsche Tagesschau am 11. Januar 2024 titelte. Ecuador, dabei dachte man an Galapagos, den 6.263 Meter hohen Chimborazo, Charles Darwin und Alexander von Humboldt, ein stark von seiner indigenen Bevölkerung geprägtes Land und jenes mit der wahrscheinlich größten Artenvielfalt. Doch heute ist Ecuador ein wichtiges Transitland für Kokain geworden. Aus dem friedlichen und aufstrebenden Ecuador wurde eines der gefährlichsten Länder Lateinamerikas.


Wie kam es dazu? Ecuador hat mit Guayaquil einen großen Seehafen und eine fast 600 Kilometer lange Grenze zum Nachbarland Kolumbien, wo seit vielen Jahren etwa zwei Drittel des auf den illegalen Weltmärkten erhältlichen Kokains erzeugt werden. Ein halbes Jahrhundert War on Drugs , Milliarden von Dollars, US- Militärbasen und Sprühflugzeuge mit Glyphosat gegen Kokafelder haben daran nichts geändert. Älteren Leserinnen und Lesern sind die Namen Pablo Escobar, Carlos Lehder, die Ochoa-Familie und die Rodríguez-Orejuela in Erinnerung, das Cali- und das Medellín-Kartell (der völlig falsche Ausdruck übrigens, aber von der Journaille so eingebürgert) in Erinnerung, die Ende der 1980er, Anfang der 90er Jahre gegen ein Auslieferungsabkommen mit den USA anbombten. Allein drei Präsidentschaftskandidaten starben, dutzende Richter, Staatsanwälte, Journalisten wurden damals ermordet. Nach der Zerschlagung der mächtigen „Kartelle“ übernahmen Dutzende kleinere Organisationen das unvermindert boomende Geschäft, die nicht mehr über die Kontakte in die Anbauregionen in Bolivien und Kolumbien verfügten. Ungeachtet einer einsetzenden Besprühungskampagne mit Pflanzengift aus der Luft wurde Kolumbien in der zweiten Hälfte der 90er selbst zum wichtigsten Grundstoffproduzenten. Wirtschaftswissenschaftler nennen das Importsubstitution. Der Kokaanbau in Kolumbien verdreifachte sich. Und er breitete sich aus: Waren es zu Beginn der Besprühungen sechs Provinzen, so wurde zur Jahrtausendwende Koka in 23 der 33 kolumbianischen Departments angebaut.


Kokaanbau historisch in Hektar

        1986     1995     2000

Bolivien    25.800   48.600   14.600

Kolumbien   24.400   50.900   163.300

Peru     150.400   115.300    43.400

Total      200.440   214.800   221.300

Quelle: UNODCCP Global Illicit Drug Trends bzw. UNODC World Drug Reports


Washington hatte Mitte der 90er den Präsidenten Ernesto Samper mit Korruptionsvorwürfen unter Druck gesetzt und zur Einwilligung in die Besprühungskampagne genötigt. Mit einer Operation Airbridge hatte man zudem versucht, den Import des Zwischenprodukts, der Pasta B ásica de Cocaína , aus Bolivien und Peru einzudämmen. Nicht identifizierte Kleinflugzeuge wurden zur Landung gezwungen oder abgeschossen, bis der Kongress dieses Vorgehen stoppte. Wegen eines Kommunikationsfehlers zwischen dem amerikanischen Aufklärer und dem peruanischen Jäger hatte man versehentlich die Cessna einer US-Missionarsfamilie abgeschossen.


Zunehmend bemächtigten sich nun auch bereits seit 1964 in Kolumbien operierende Guerrillagruppen des illegalen Geschäfts, und stärker noch die rechtsextremen Paramilitärs, die gegen die Guerrilla kämpften. Teilweise hatten diese Gruppen zigtausende Kämpfer unter Waffen, die alle verköstigt, eingekleidet und bewaffnet werden mussten. Hatte die Guerrilla anfangs nur die Kokabauern besteuert und Gebühren für die klandestinen Landepisten der Drogenhändler in den Anbaugebieten erhoben, so wurde das illegale Geschäft zunehmend zum Selbstzweck und verschiedene ihrer frentes stiegen immer tiefer ein. Ab der Jahrtausendwende hielt Washington mit dem Plan Colombia dagegen. Milliarden wurden ausgegeben, sieben Militärbasen in Kolumbien errichtet, Spezialkräfte ausgebildet und die Besprühung mit Glyphosat noch einmal ausgeweitet. Der W ar on D rugs verschmolz mit dem W ar on T error. Nur Weltpolizist Uncle Sam verfügt über eine Abteilung für internationale Drogen- und Gesetzesvollzugsangelegenheiten (INL(3)) im Außenministerium. Ende des vorletzten Jahrzehnts (FY 2010) gingen mehr als 50 Prozent des INL-Budgets in Höhe von insgesamt 878,9 Mio. USD nach Afghanistan und Kolumbien – zwei Schlüsselländer im Krieg gegen den Terror. Zum Vergleich: Das Gesamtbudget des UNODC war nicht einmal halb so hoch.


Nachhaltigkeitsdesaster und Bürgerkrieg

Besprüht wurde nun vor allem in den Guerrilla-Hochburgen im Süden des Landes. Im Laufe der Jahre will man laut Statistik deutlich mehr als das Zehnfache dessen an Feldern vernichtet haben, was jemals als maximale Anbaufläche vorhanden war. Ein Nachhaltigkeitsdesaster. Die Bauern zogen weiter, legten neue Kokafelder an – teilweise schon prophylaktisch. Die Politik der Kokavernichtung ohne Nachhaltigkeit dürfte damit enorme Flächen tropischen Regenwaldes gekostet haben.(4) Doch nicht nur das: Durch die zur Weiterverarbeitung notwendigen Chemikalien wurden immer neue Böden und Gewässer vergiftet. Und Kolumbien war lange noch vor Syrien das Land mit der höchsten Zahl von Binnenflüchtlingen (8 von insgesamt 50 Millionen Einwohnern), wofür hauptsächlich der Guerrillakrieg, aber eben auch Bauernvertreibung durch Kokaeradikation verantwortlich war.


Die Umsetzung des Plan Colombia hieß in Kolumbien unter Präsident Álvaro Uríbe (2002-2010) S eguridad D emocrática und verfolgte das Ziel, illegale bewaffnete Gruppen von ihrer Finanzierung abzuschneiden. Gesprüht wurde nun insbesondere in den Hochburgen der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) im Süden des Landes in den Departments Caquetá und Putumayo. Landesweite Kokareduzierungen um 80.000 Hektar zwischen 2000 und 2004 wurden praktisch ausschließlich dort erzielt.


Im Jahr 2015 wurden die Besprühungen eingestellt, im Jahr 2016 ein Friedensabkommen mit den FARC unterzeichnet. Der Krieg mit der ältesten (seit 1964) und größten Guerrilla war zu Ende. Präsident Juan Manuel Santos erhielt dafür den Friedensnobelpreis. Mehr als 13.000 Kämpfer wurden demobilisiert, Hunderte davon später ermordet. Nachfolger Iván Duque hielt nichts von dem Abkommen und das ehrgeizige Programm zur Schaffung von Alternativen für die Bauern wurde praktisch nicht vollzogen. Duque setzte die Zwangseradikation von Kokafeldern fort und wollte sogar zu einer Besprühung der Felder aus der Luft zurückkehren. Es ist nicht gelungen, das Machtvakuum, das durch den Abzug der Guerrilla entstand, durch staatliche Institutionen zu füllen. Stattdessen geben dort nun FARC-Dissidenten (5.500 Kämpfer), Kämpfer des Ejercito de la Lib e ración Nacional (ELN 2.200) und Angehörige krimineller Banden (8.350 nach offiziellen Zahlen) den Ton an. Bei seinem Amtsantritt im Jahr 2018 gab es in Kolumbien 169.000 Hektar Koka und Duque strebte bis 2023 eine Halbierung an. In einem Working-Paper von 2020/21 für das deutsch-kolumbianische Friedensinstitut Capaz ( www.instituto-capaz.org ) schrieb der Autor dieser Zeilen damals: „Nichts deutet darauf hin, dass die Zielvorgaben heute realistischer sind als vor 10 oder 20 Jahren. Es ist vielmehr zu erwarten, dass die neuerliche Eradikationsoffensive auch diesmal nicht nachhaltig sein wird und es besteht die Gefahr, dass damit die Unsicherheit der Lebensumstände in den betroffenen Gebieten vergrößert wird.“


Heute kämpft die Regierung des Präsidenten Gustavo Petro unter dem Slogan Paz Total gegen verbrannte Erde an. Die Bauern sind einmal mehr vom Staat enttäuscht und desillusioniert. Statt der angestrebten Halbierung ist die Kokaanbaufläche um gut ein Drittel weiter angewachsen und liegt heute (2022) bei 230.028 Hektar, fast die Hälfte davon in den südlichen Departments Putumayo und Nariño im Grenzgebiet zu Ecuador (5). Und damit nicht genug. Durch bessere Sorten und Anbaumethoden soll die Ernte pro Hektar nach Berechnungen des UNODC um durchschnittlich 24 Prozent angestiegen sein und durch Optimierung der Weiterverarbeitung auch der Kokainertrag. Solche neuen Hochproduktivitätszonen befinden sich unter Kontrolle sogenannter narcoparamil i tares, FARC-Dissidenten bzw . der ELN . Alle zusammen werden sie Grupos Armados Ilegales (GAI) genannt. 35 Prozent der Kokaanbauflächen Kolumbiens befinden sich in Zonen, in denen eine oder mehrere GAI präsent sind. Diese arbeiten fallweise zusammen oder bekriegen sich. Aber alle sind um eine strikte Kontrolle des Produktionsprozesses bemüht. Im Department Putumayo lassen sich sechs Gruppen identifizieren, die nahezu umfassende Kontrolle ausüben. Die größten sind ehemalige frentes der FARC, das Comando Frontera und die Frente Carolina Ramírez und sie bekämpfen sich gegenseitig. Gemeinsam ist ihnen allen der Vektor des Kokainabsatzes: der Rio Putumayo. Interessanterweise befindet sich auch auf der südlichen, der peruanischen Seite des Grenzflusses im Departement Loreto ein Koka-Kokain-Nukleus. Auf ihm oder an ihm entlang gelangt die heiße Ware nach Ecuador.


Ecuador: Neoliberalismus und Drogentransit

Immer wieder tauchten in den letzten Jahren in Supermärkten Kokainpäckchen in Bananen- oder Schnittblumenlieferungen aus Ecuador auf, die von den Adressaten übersehen worden waren. Ecuador ist selbst kein Anbauland in nennenswertem Umfang, doch wurde es für den Drogenhandel nicht nur wegen des Pazifikhafens Guayaquil interessant. Kokainbeschlagnahmungen sind dort von 88 Tonnen (2019) auf 201 Tonnen (2022) kontinuierlich angestiegen. Neben dem Seehafen und der langen Landesgrenze zu den wichtigsten Kokain-Produktionszentren verfügt Ecuador noch über weitere, politisch-hausgemachte „Standortvorteile“. Das notorisch exportabhängige Land – vor allem Erdöl mit seinen schwankenden Weltmarktpreisen – befindet sich seit langem in einer wirtschaftlichen Dauerkrise, unterbrochen nur durch einen Boom im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends. Zur Jahrtausendwende wurde daher die Wirtschaft „dollarisiert“, was Außenhandelsgeschäfte ebenso erleichtert wie die Geldwäsche. Sie soll bei etwa 3,5 Mrd. USD jährlich liegen, was etwa 3 Prozent des BIP entspricht, Geld, das zu 75 Prozent im Land selbst in legale Wirtschaftskreisläufe eingespeist werde. Kolumbianische Wirtschaftswissenschaftler bezeichneten solcherlei Verhältnisse für ihr Land schon von mehr dreißig Jahren als „Verschmutzung der Wirtschaft“ ( la economía se ensucia ) und sprachen von einer „bewilligten Illegalität“ ( ilegalidad consentida ) (6), die der Gesetzgeber billigend in Kauf nehme.


Ecuador war mit seiner neuen Verfassung von 2008 und einer zunächst stärkeren Akzentuierung der Sozial-, Indigena- und Umweltpolitik unter Präsident Rafael Correa einer der Hoffnungsträger der progressistischen Welle in Lateinamerika. Doch eine Abkehr vom Extraktivismus, eine Überwindung der Abhängigkeit vom Erdöl gelang nicht und Correa ging 2017 unter Korruptionsvorwürfen ins französische Exil. Sein Nachfolger, Lenin Moreno, fiel nurmehr durch den scharfen Gegensatz zwischen progressiver Rhetorik und neoliberaler Praxis auf. Proteste ließ er im Jahr 2019 blutig niederschlagen. Das Verhältnis zwischen dem indigenen und dem „progressistischen“ Lage ist so zerrüttet, dass man 2021 den Wahlsieg quasi verschenkte. Während der „Correist“ Andrés Arauz den ersten Wahlgang mit 14 Prozentpunkten Vorsprung gewonnen hatte und Yaku Pérez das historisch beste Ergebnis für das indigene Lager erzielte, gewann der neoliberale Kandidat Guillermo Lasso die Stichwahl, der im ersten Wahlgang nur 19,5 Prozent der Stimmen bekommen hatte. Statt ein Bündnis einzugehen, bekämpften sich die progressiven Kräfte. Während der 900 Tage seiner Amtszeit soll das Vermögen von Guillermo Lasso um 21 Mio. USD angewachsen sein. Speziell seit der Pandemie wurde unter Moreno und Lasso eine extreme Sparpolitik betrieben, um Auslandsschulden begleichen zu können – nicht zuletzt auch im Sicherheitsbereich. Gerade Lasso war in der Sicherheitspolitik gleichzeitig aber ein Verfechter der „harten Hand“. Das in ganz Lateinamerika notorisch prekäre und hier nun noch einmal besonders vernachlässigte Gefängnissystem wurde mit Kleinkriminellen überfüllt. Vor dem Hintergrund allgegenwärtiger Korruption entwickelten sich die Haftanstalten geradezu zu Hauptquartieren krimineller Banden.


Deren wichtigste, die „Choneros“ arbeiten mit der mexikanischen Sinaloa-Gruppe zusammen, „Los Lobos“ mit der ebenfalls mexikanischen „Jalisco Nueva Generación“. Beide Gruppen bekämpfen sich. Ein Fanal war die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio, dessen Hauptthemen der Kampf gegen die Korruption und den illegalen Drogenhandel waren, auf einer Kundgebung in Quito im August 2023. Eine Komplizenschaft aus den Reihen der Sicherheitskräfte wird vermutet. Die Hauptverdächtigen wurden später in zwei verschiedenen Gefängnissen ihrerseits ermordet. Ein zweites Fanal war der Ausbruch des Anführers der „Choneros“, Adolfo „Fito“ Macias, Anfang Januar 2024, nachdem er in ein anderes Gefängnis verlegt werden sollte, sowie die bewaffnete Besetzung eines Fernsehstudios während einer Livesendung. Inzwischen hatte der heute 36-jährige, in Miami geborene und steinreiche Unternehmer Daniel Noboa die Wahlen gewonnen. Nach nur wenigen Wochen im Amt, sprach er am 9. Januar von einem „internen bewaffneten Konflikt“ und rief einen 60-tägigen Notstand aus. In kurzer Zeit wurden mehr als 9.000 Menschen verhaftet. Es wird sogar über eine Wiedereröffnung der US-Luftwaffenbasis Manta diskutiert, die im Kontext des Plan Colombia 1999 als sogenannte Forward Operation Location zur Luftraumüberwachung (AWACS) eröffnet worden war. Insgesamt 500 Mann US-Personal genossen damals quasi diplomatische Immunität und Bewegungsfreiheit in ganz Ecuador. Sie war 2008/2009 unter Rafael Correa geschlossen worden und eine Wiedereröffnung würde heute gegen die neue Verfassung verstoßen.


Der Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta, der unter anderem in Köln studiert hat, war in den Jahren 2007 und 2008 Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors und im ersten Halbjahr 2007 Minister für Energie und Bergbau im Kabinett von Rafael Correa. Er hat Zweifel am Erfolg dieser Politik der Militarisierung: Die Nationalpolizei werde zum Erfüllungsgehilfen des Militärs degradiert. Er spricht vom grundlegenden Problem einer Koexistenz zwischen dem Staat und einigen kriminellen Banden, die nach und nach die staatlichen Institutionen übernahmen. Der Grad der Durchdringung des organisierten Verbrechens sei so groß, dass seine Infiltration fast aller staatlichen Instanzen, der Justiz, der Sicherheitskräfte, des Privatsektors und sogar des Sports öffentlich anerkannt werde.


Vor anderthalb Jahrzehnten reagierte das Kokaingeschäft auf stärkere Kontrollen der europäischen Seehäfen mit dem Absatz über Venezuela und Westafrika entlang des 10. Breitengrades, der die kürzeste Verbindung zwischen Lateinamerika und Westafrika darstellt. Fahnder sprachen damals vom Highway Number 10. Einige der ärmsten Länder der Welt waren nun plötzlich mit einem Millionengeschäft konfrontiert. In der Wüste Malis wurde im Jahr 2009 das Wrack einer aufgelassenen Boeing 727 gefunden, mit der 10 Tonnen Kokain transportiert worden waren: die Air Cocaine. Der Weitertransport durch die Sahara zum Mittelmeer erfolgte über dieselben Routen und durch dieselben Organisationen, die auch im Schleppergeschäft aktiv sind, unter anderem Al Qaeda . Ab 2011 erhielten sie üppige Bewaffnung aus Beständen des gestürzten Diktators Muhammar al Gaddhafi. Und während neuerdings Ecuador die Aufmerksamkeit erregt, zeichnet sich bereits eine Wiederbelebung des Highway Number 10 ab. Wie auch immer die Routen sich ändern: Die Fahnder laufen hinterher.


Drogenbekämpfung und Menschenrechte: ein neuer Anlauf

Zurück nach Wien und zur Commission on Narcotic Drugs. Der War on Drugs sei gescheitert, sagt Volker Türk, der UNO Hochkommissar für Menschenrechte: gescheitert Leben zu retten; gescheitert die Würde, Gesundheit und Zukunft von weltweit 296 Millionen Drogennutzern zu schützen; gescheitert, den Politikwechsel herbeizuführen, den wir dringend brauchen, um weitere Rückschläge bei den Menschenrechten abzuwenden. Die gegenwärtige Drogenpolitik mit ihrem strafenden Ansatz und ihren repressiven Politiken, so Türk, hatte verheerende Folgen für die Menschenrechte auf allen Ebenen. „Drogen töten und zerstören Leben und Gemeinschaften. Aber unterdrückerische und rückwärtsgewandte Politiken tun das auch.“ (Übers. aus dem Englischen R.L.)


Seit der Vorbereitung der UNGASS Konferenz von 2016 werden andere UNO-Organisationen (wie UNAIDS oder das Hochkommissariat für Menschenrechte mit Sitz in Genf) sowie NGO’s in die Drogendebatte einbezogen, die bis dato von den in Wien ansässigen UN „Drogenorganisationen“ dominiert, wenn nicht monopolisiert gewesen war. Drogenpolitik wurde in den Kontext der nachhaltigen UN-Entwicklungsziele (oder Agenda 2030) gestellt – zumindest in den Debatten. Im August 2023 legte das Büro des Menschenrechts-Hochkommissars einen Bericht über Herausforderungen für die Menschenrechte bei der Drogenbekämpfung vor. Der kolumbianische Außenminister Murillo erkannte auf dem genannten side event sofort, den Gegensatz zwischen Wien und Genf. Und die frühere Bundespräsidentin der Schweiz, Ruth Dreyfuss, plädierte für eine dringend notwendige „Kommunion“ der Ansätze , wie sie es formulierte. Es ist hohe Zeit, dass daraus Wirklichkeit wird. Nicht nur in den Diskursen, sondern in der Praxis.


(1) Auf der alljährlich in Wien stattfindenden „Commission“ kommen die Delegierten der Mitgliedsländer zusammen, um die internationale Drogenpolitik zu diskutieren und zu gestalten. Das erwähnte side event (Human rights in global drug policy and the case of the current classification of coca leaf in the 1961 single convention: A debate on the implementation and effectiveness of the international drug control regime) fand am 14. März 2024 statt. Am Podium saßen neben Laura Gil, der bolivianische Vizepräsident David Choquehuanca, der kolumbianische Außenminister Luis Gilberto Murillo, die ehemalige Bundespräsidentin der Schweiz, Ruth Dreyfuss (als Mitglied der Global Commission on Drug Policy) sowie der UN Hochkommissar für Menschenrechte, der Österreicher Volker Türk.

(2) Der World Drug Report 2023 des UNODC nennt für Bolivien 30.500 Hektar und für Peru 80.681 Hektar, was zusammengenommen 315.481 Hektar ergibt. Die Zahlen sind von daher inkonsistent bzw. die Addition fehlerhaft.

(3) Das Bureau for International Narcotics Matters and Law Enforcement Affairs (INL) im State Department wurde 1978 gegründet und 1995 zum heutigen Namen umbenannt. Insgesamt ist das Anti-Drogen-Budget der USA noch erheblich höher und in seinen internationalen Aspekten auf State Department (INL und USAID), Justiz- (DEA) und Verteidigungsministerium verteilt.

(4) Eine auch methodologische Auseinandersetzung mit dem Thema stellt fest: „...that coca cultivation area, number of cattle, and municipality area are the top three drivers of deforestation…“ und die Gewichtung dieser Faktoren sei „highly context-specific“. (Ganzenmüller/Sylvester/Castro-Nuñez: „What Peace Means for Deforestation: An Analysis of Local Deforestation Dynamics in Times of Conflict and Peace in Colombia“ in: Frontiers in Environmental Science Vol. 10, Bucharest, 21.2.2022

(5) UNODC: Monitoreo de los territorios con presencia de cultivos de coca 2022, Bogotá/ Viena, Septiembre 2023.

(6) Arrieta/ Orejuela/ Sarmiento Palacio/ Tokatlián: „Narcotráfico en Colombia“, Bogotá, 1990.


Volker Türks bemerkenswerte Rede auf dem erwähnten side event : www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2024/03/war-drugs-has-failed-says-high-commissioner

Sein Statement vor dem Plenum:

www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2024/03/turk-urges-transformative-change-global-drug-policy


Foto: Verurteilte Drogenkurierin, Frauengefängnis Bogotá 1990. Noch immer werden Haftanstalten mit Kleinkriminellen vollgestopft. 

© Robert Lessmann


Weitere Beiträge zum Thema weiter unten in diesem Blog, insbesondere:

www.robert-lessmann.com/proceso-de-paz-y-guerra-contra-las-drogas-en-colombia-sostenibilidad-y-alter...

www.robert-lessmann.com/kolumbien-drogenbekaempfung-und-friedensprozess

www.robert-lessmann.com/drogenpolitik-augen-zu-und-weiter-so

von © Robert Lessmann Dr 12 März, 2024

Álvaro García Linera kennt die politische Realität Lateinamerikas aus Theorie und Praxis. Er wurde 1962 in Cochabamba/ Bolivien geboren. Soziologie studierte der gelernte Mathematiker als Autodidakt während einer fünfjährigen Untersuchungshaft, die er ab 1992 als Mitglied des Ejército Guerillero Túpac Katari (EGTC) verbüßte. Für sein politisches Denken war neben Karl Marx und Antonio Gramsci auch der Vordenker des bolivianischen „Indianismus“ Fausto Reinaga von großer Bedeutung. Nachdem er ohne Urteilsspruch entlassen wurde, arbeitete er als Hochschullehrer und wurde einer der gefragtesten Talkshowgäste und politischen Analytiker. Zentral für sein politisches Denken blieb stets die Frage der indigenen Emanzipation. Im Jahr 2005 wurde er an der Seite von Evo Morales zum Vizepräsidenten seines Landes gewählt, ein Amt, das er bis zu beider Sturz im November 2019 innehatte. (Bild von der Amtseinführung im Januar 2006.) Gemeinsam wurden sie ins Exil gezwungen. Nach der Rückkehr der Regierungspartei Movimiento al Socialismo (MAS) an die Macht, kehrte auch er nach Bolivien zurück, hält sich aber im Gegensatz zu Evo Morales aus der Tagespolitik heraus.


García Linera sieht Lateinamerika – und die Welt – in einer Übergangsphase. Sie sei von Unklarheit und Instabilität gekennzeichnet, wo eine „monströse Rechte“ die Bühne betrete, was wiederum in gewisser Weise eine Folge der Defizite progressiver Kräfte sei. Er nennt diese Zeit „tiempo liminar“. Andere Autoren sprechen vom Kampf zwischen progresismo und Regression. Die Linke, so García Linera, müsse kühner sein und einerseits mit historischer Verantwortung Antworten auf die profunden Fragen an der Basis des sozialen Zusammenhalts geben und andererseits die Sirenengesänge der neuen Rechten neutralisieren. Sie müsse bei grundlegenden Reformen zu Fragen der Eigentumsverhältnisse weiterkommen, bei Steuern, bei der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung des Wohlstands und der Wiedergewinnung der Ressourcen zum Wohle der Gesellschaft. Nur so werde man, ausgehend von den grundlegendsten Forderungen der Gesellschaft und realen Fortschritten bei der Demokratisierung, die Ultrarechten in die Schranken weisen.


Politische Schubumkehr

Das Jahrhundert hatte mit einer Dominanz progressiver Regierungen begonnen. Mit dem Wahlsieg von Mauricio Macri in Argentinien habe 2015 gewissermaßen eine Schubumkehr in Lateinamerika eingesetzt. Andere Länder, wie Brasilien und Honduras, folgten. Teilweise wurden diese Rechtsregierungen inzwischen wieder von progressiven ersetzt. García Linera sieht das als Ausdruck einer Umbruchphase des zeitgenössischen Kapitalismus – Gramsci hatte von „Interregnum“ gesprochen –, wo sich Wellen und Gegenwellen ablösen ohne dass sich eine Tendenz durchsetzt. Lateinamerika habe damit eine Entwicklung vorweggenommen, die wir heute auf der ganzen Welt beobachten können. Der Halbkontinent erlebte eine intensive progressive Welle, die von einer konservativen Gegenbewegung gefolgt wurde und dann von einer neuerlichen progressiven. Möglicherweise, so García Linera, werden wir sehen, dass sich eine solche Abfolge kurzfristiger Wechsel noch fünf bis zehn Jahre fortsetzt, bis sich ein neues Modell der Akkumulation und Legitimation durchsetzt, das neue Stabilität für Lateinamerika und die Welt bringt. Insoweit das nicht geschieht, werden wir in einem Wirbel der Zeit des Interregnums feststecken. Man erlebe progressive Wellen, ihre Erschöpfung, konservative Gegenreformen, neue progressive Wellen. Und jede dieser Wellen sei verschieden von der anderen. „Milei ist unterschiedlich zu Macri, obwohl er manches von ihm übernimmt. Alberto Fernández, Gustavo Petro und Manuel López Obrador unterscheiden sich auch von ihren Vorgängern, obwohl sie einen Teil von deren Erbe übernehmen“, stellt García Linera fest: „Und so wird es weiter gehen bis sich eines Tages eine neue Weltordnung definiert, denn diese Instabilität und dieses Leid können nicht endlos sein“, meint er. Im Grunde würden wir einen zyklischen Niedergang des Akkumulationsmodells sehen, wie wir das bereits nach der liberalen Phase des Kapitalismus (1870-1920), der staatskapitalistischen (1940-1980) und der neoliberalen (1980-2010) gesehen haben, argumentiert er in Anlehnung an Nicolai Kondratiews Theorie der Wirtschaftszyklen. Das Chaos sei Ausdruck des historischen Niedergangs und des Kampfes um ein neues und dauerhaftes Modell der Akkumulation, das wieder Wachstum und sozialen Zusammenhalt bringt.


Polarisierung

Die Rechte verwende dabei Praktiken, die man glaubte überwunden zu haben, wie Putsche, politische Verfolgung, Mordversuche. Zu dieser Übergangszeit gehöre, dass die politischen Eliten auseinanderdriften. Wenn die Dinge gut liefen, wie etwa bis zur Jahrtausendwende, fänden sie sich um ein Akkumulations- und Legitimationsmodell zusammen. Die Linke mäßigt sich, „neoliberalisiert“ sich, obwohl es immer eine radikale Linke ohne Publikum geben wird. Die Rechten streiten unter sich. Wenn der Niedergang beginnt, tauche die extreme Rechte auf und werde stärker. Die extreme Rechte fresse die moderate Rechte auf, und die radikale Linke trete aus ihrer Marginalität und politischen Bedeutungslosigkeit. Sie gewinne an Resonanz und Publikum. Sie wachse. „Im Interregnum ist das Auseinanderdriften der politischen Projekte die Regel, weil es bei der Suche nach Lösungen für die Krise der alten Ordnung Dissidenten auf beiden Seiten gibt“, konstatiert er. Die rechte Mitte, die den Halbkontinent und die Welt über 30 oder 40 Jahre regiert hat, finde keine Antworten mehr auf die deutlichen Fehler des globalisierten, neoliberalen Kapitalismus und die Zweifel und Ängste der Menschen. Es tauche eine extreme Rechte auf, die weiter das Kapital verteidigt, die aber glaubt, dass die alten Rezepte nicht mehr genügen und man die Gesetze des Marktes mit Gewalt durchsetzen müsse. Sie will die Menschen domestizieren, wenn nötig mit Gewalt, um zu einem reinen, ursprünglichen freien Markt ohne Zugeständnisse und Doppelbödigkeiten zurückzukehren. Sie konsolidiert sich, indem sie von Autorität, von Schocktherapie des freien Marktes und Reduzierung des Staates spricht. Und wenn es dagegen soziale Widerstände gibt, müsse man dem mit Stärke und Zwang begegnen, und wenn nötig auch mit Staatsstreich und Massakern, um die Widerspenstigen, die sich der Rückkehr zur guten Gewohnheit des freien Unternehmertums und des zivilisierten Lebens widersetzen, zu disziplinieren: mit den Frauen am Herd, den Männern, die befehlen, den Chefs, die entscheiden und den Arbeitern, die schweigend ihre Arbeit tun. Ein weiteres Symptom des liberalen Verfalls tritt zu Tage, wenn sie nicht mehr überzeugen und verführen können, sondern Zwang brauchen, was bedeutet, dass sie bereits dem Untergang geweiht sind. Nichtsdestoweniger bleiben sie gefährlich.


Angesichts dessen könnten die progressiven Kräfte und die Linke nicht nachgiebig sein und versuchen, es allen sozialen Sektoren und Fraktionen recht zu machen. Die Linke tritt in der Übergangszeit aus ihrer Marginalität heraus, indem sie sich als Alternative zum wirtschaftlichen Desaster präsentiert, das vom unternehmerischen Neoliberalismus verursacht wird. Ihre Funktion könne es nicht sein, einen Neoliberalismus „mit menschlichem Antlitz“ einzuführen, einen grünen oder progressiven Neoliberalismus. „Die Menschen gehen nicht auf die Straße oder wählen die Linke, um den Neoliberalismus zu verzieren. Sie mobilisieren sich und wechseln radikal ihre alten politischen Bindungen, weil sie ihn satt haben und ihn loswerden wollen, weil er nur einige wenige Familien und Unternehmen reich gemacht hat. Und wenn die Linke es nicht schafft, sich als Alternative zu präsentieren, ist es unausweichlich, dass die Menschen sich der extremen Rechten mit ihren (illusorischen) Auswegen aus der allgemeinen Misere zuwenden“, fürchtet García Linera. Dazu müsse die Linke, wenn sie die Rechte aus dem Feld schlagen will, Antworten auf die drängenden Fragen geben. Sie muss die Armut der Gesellschaft bekämpfen, die Ungleichheit, die Unsicherheit der Dienstleistungen, Bildung, Gesundheit, Wohnen. Und um die materiellen Bedingungen dafür zu schaffen, muss sie radikal sein in ihren Reformen zu Fragen des Eigentums, der Steuerpolitik, der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung des Wohlstands, der Wiedergewinnung der gemeinsamen Ressourcen zum Wohle der Gesellschaft. Zurückhaltung dabei wird die sozialen Krisen vergrößern. Angesichts des Ausmaßes der Krise wird moderates Vorgehen die Extreme stärken. Wenn es die Rechten tun, stärken sie die Linken und umgekehrt. Worum es geht, sind wirtschaftliche und politische Reformen, die zu sichtbaren und dauerhaften materiellen Verbesserungen der Lebensbedingungen für die gesellschaftliche Mehrheit führen, zu einer größeren Demokratisierung der Entscheidungen, einer größeren Demokratisierung des Reichtums und der Eigentumsverhältnisse. Die Eindämmung der extremen Rechten wird nicht einfach ein Diskurs sein, sondern in einer Reihe von praktischen Maßnahmen zur Verteilung des Reichtums bestehen, die es erlauben, die wichtigsten Ängste und Forderungen der Bevölkerung anzugehen: Armut, Inflation, Unsicherheit, Ungleichheit. Man darf nicht vergessen, dass das Erscheinen der extremen Rechten ja eine pervertierte Antwort auf diese Ängste ist. „Je mehr du den Reichtum verteilst, desto mehr betrifft das die Privilegien der Mächtigen, aber die bleiben bei deren wütender Verteidigung in der Minderheit, während sich die Linke in dem Maße konsolidiert, wie sie sich um die grundlegenden Bedürfnisse des Volkes kümmert“, sagt der Exvizepräsident.


Analyse statt Etikettierung

Was ist nun neu an der neuen Rechten? Soll man sie faschistisch nennen oder was sonst? Bauen sie an einem postdemokratischen Labor, nicht zuletzt in den USA? Ohne Zweifel tendiere die liberale Demokratie – als bloßer Austausch der Eliten durch das Volk – zu autoritären Formen. Wenn sie manchmal Früchte einer sozialen Demokratisierung hervorgebracht habe, so war es durch das Wirken anderer demokratischer Formen von unten, wie Gewerkschaften, landwirtschaftlichen Organisationen, Stadtteilkomitees, unterstreicht der Soziologe. Wenn man aber die liberale Demokratie sich selbst überlasse, als bloße Auswahl der Regierenden, tendiere sie zur Konzentration von Entscheidungen, zu dem, was der Nationalökonom Josef Schumpeter ‚Demokratie als bloße Auswahl der Regierenden, die über die Gesellschaft entscheiden‘ nannte und was eine autoritäre Form der Konzentration von Entscheidungen ist. Und dieses Monopol autoritärer Entscheidungen, fallweise auch ohne die Auswahl aus den Eliten ist es, was die extreme Rechte auszeichnet. Daher gibt es keinen Antagonismus zwischen der liberalen Demokratie und der extremen Rechten. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass sie durch Wahlen an die Macht kommt. „Was die liberale Demokratie am Rande und lustlos erlaubt, die extreme Rechte aber offen ablehnt, sind andere Formen der Demokratisierung von unten, wie Gewerkschaften, Stadtteilversammlungen, ländliche Organisationen, kollektive Aktionen. In diesem Sinne sind die extremen Rechten antidemokratisch“, sagt García Linera. Sie erlauben nur, dass man aus ihren Reihen jemanden wählt, der regiert, lehnen aber andere Formen der Teilhabe und der Demokratisierung des Reichtums ab, die sie als Beleidigung ansehen, als Absurdität, die man mit der Ordnungsmacht und Zwangsdisziplinierung bekämpfen muss. Ist das Faschismus? „Schwer zu sagen,“ meint García Linera. Es gebe dazu eine akademische Debatte, aber die politischen Auswirkungen sind eher klein. Die Generation über 60 in Lateinamerika erinnere sich vielleicht noch an die faschistischen Militärdiktaturen, aber der jüngeren Generation sage es nicht viel, vom Faschismus zu reden. Er ist nicht gegen diese Debatte, sieht sie aber nicht als sehr nützlich an. Der soziale Erfolg oder die Ablehnung von Forderungen der extremen Rechten hänge schließlich nicht von alten Symbolen ab, sondern von der Antwort auf die sozialen Ängste. Problematisch sei es indessen, sie als faschistisch zu bezeichnen ohne zu bedenken, auf welche kollektiven Forderungen sie antworten oder vor dem Hintergrund welchen Scheiterns sie auftauchen. Bevor man ihnen Etikette umhängt, sei es besser über die sozialen Bedingungen für ihr Auftauchen nachzudenken. Persönlich spricht er lieber von der extremen oder der autoritären Rechten.


Ob man Milei einen Faschisten nennen soll? Zuerst solle man sich fragen, warum er gewonnen hat, wer ihn gewählt hat, als Reaktion auf welche Sorgen. Ihm ein Etikett umzuhängen, erlaubt moralische Ablehnung, aber es hilft nicht, die Realität zu verstehen oder zu verändern. Wenn die Antwort ist, dass Milei sich auf die Ängste einer verarmten Gesellschaft beruft, dann ist klar, dass Armut das Thema ist. Darauf muss der p rogresismo und die Linke eine Antwort geben und die extreme Rechte oder (wenn man so will) den Faschismus stoppen. Man muss die Probleme erkennen, mit denen die extreme Rechte in der Gesellschaft Anklang findet, denn ihr Anwachsen ist auch ein Symptom für das Scheitern der Linken und der Progressiven. Sie tauchen nicht aus dem Nichts auf, nachdem die Progressiven nicht sahen, nicht bereit waren, konnten oder wollten, die Frage der Klasse, der prekären Jugend, die Bedeutung der Armut, der Wirtschaft zu verstehen und über jene des Rechts auf Identität zu stellen. Man müsse verstehen, dass das Grundproblem die Wirtschaft ist, die Inflation, „das Geld, das dir in der Tasche schmilzt“. Man dürfe nicht vergessen, dass auch die Identität eine Dimension der wirtschaftlichen und politischen Macht hat, die sie an Unterordnung bindet. In Bolivien eroberte beispielsweise die indigene Identität Anerkennung zunächst durch die Übernahme der politischen Macht und dann schrittweise wirtschaftlicher Macht innerhalb der Gesellschaft.


Schlüsselfrage Informalität

Das grundlegende soziale Verhältnis der modernen Welt ist Geld, entfremdet, aber immer noch fundamental, das, wenn es dir wegschmilzt, auch deinen Glauben und deine Treue auflöst. Das ist das Problem, das die Linke zuerst lösen muss. Dann komme der Rest, befindet García Linera. Wir befinden uns in einer historischen Zeit, wo der p rogresismo auftaucht und die extreme Rechte. Die klassische, neoliberale, universalistische Rechte verfällt, und zwar wegen der Wirtschaft. Aber die Gesellschaft, deren wirtschaftliche Probleme die alte Linke der 50er und 60er Jahre und der p rogresismo der ersten Welle (im neuen Jahrtausend) anging, hat sich verändert. Die Linke hat sich immer um die formale, entlohnte, arbeitende Klasse gekümmert. Heute ist die informelle arbeitende Klasse für den p rogresismo eine große Unbekannte. Die Welt der Informalität, die man auch unter dem Begriff „la economía popular“ versteht, ist für die Linke ein schwarzes Loch. Dafür hat sie keine produktiven Vorschläge. In Lateinamerika umfasst dieser Sektor aber bis zu 60 Prozent der Bevölkerung. Und es handelt sich nicht um eine vorübergehende Erscheinung, die bald in der formellen Wirtschaft aufgehen würde. Nein, die gesellschaftliche Zukunft wird eine mit Informalität sein, mit diesen kleinen Arbeitern, diesen kleinen Bauern, diesen kleinen Unternehmern, verbunden durch familiäre Bindungen und kuriose lokale und regionale Wurzeln, wo die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit nicht so klar sind wie im formellen Unternehmen. Diese Welt wird noch in den nächsten 50 Jahren existieren und sie schließt in Lateinamerika die Mehrheit der Bevölkerung ein. „Was sagst Du diesen Menschen? In welcher Weise kümmerst du dich um ihr Leben, ihr Einkommen, ihre Lebensbedingungen, ihren Konsum? Das sind die Schlüsselthemen für die Progressiven und die zeitgenössische Linke in Lateinamerika. Was bedeutet das? Mit welchen Werkzeugen macht man das?“, fragt der Politiker und Soziologe. Natürlich mit Enteignungen, Nationalisierungen, mit Umverteilung des Reichtums, Erweiterung der Rechte. Das sind die Werkzeuge, aber das Ziel muss die Verbesserung der Lebensbedingungen dieser 80 Prozent der Bevölkerung sein, gewerkschaftlich organisiert oder nicht, formell oder informell, die „lo popular“ in Lateinamerika darstellen, meint García Linera. Und das außerdem mit einer größeren Beteiligung an den Entscheidungen. Die Leute wollen gehört werden, wollen teilnehmen. Das vierte Thema ist die Umwelt, Umweltgerechtigkeit mit sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit, nie getrennt und nie vorweg.


Kolumbien als Vorreiter

Zur Frage nach dem Kontext und der Rolle des Gastlandes, Kolumbien, sagt García Linera: „Wenn man sich die Vorgeschichte Kolumbiens ansieht, wo wenigstens zwei Generationen von Aktivisten und Kämpfern für soziale Gerechtigkeit von Ermordung bedroht waren und ins Exil gehen mussten, wo Formen legaler kollektiver Aktionen vom Paramilitarismus in die Enge getrieben wurden und wo die USA versuchten, nicht nur aus dem Staat eine Militärbasis zu machen, sondern das Land auch kulturell zu vereinnahmen, ist es nur heroisch zu nennen, dass ein Kandidat der Linken hier an die Regierung gewählt worden ist. Und klar, wenn man das machtvolle Sediment des ‚tiefen Kolumbien‘ (colombia profunda) erfühlt, das in den Gemeinschaften und den Stadtteilen keimt, versteht man die soziale Explosion von 2021 und das „Warum“ dieses Wahlsiegs.“ Dass ihm kollektive soziale Mobilisierungen vorausgingen, habe einen gesellschaftlichen Raum für Reformen geschaffen. Daher sei die Regierung von Präsident Gustavo Petro heute die radikalste dieser zweiten progressistischen Welle auf dem Halbkontinent.


Zwei Aktionen machen die Regierung von Gustavo Petro zur Vorhut: Eine Steuerreform mit progressivem Charakter, womit jene, die mehr haben auch höhere Steuern bezahlen. In der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten ist die wichtigste Steuer die Mehrwertsteuer, die eine höhere Last für die darstellt, die am wenigsten haben. An zweiter Stelle steht die Energiewende. Kein Land auf der Welt, schon gar nicht die, die sie am meisten kontaminieren – die USA, Europa, China – hat über Nacht die fossilen Brennstoffe aufgegeben. Man hat sich vielmehr Jahrzehnte zum Übergang vorgenommen und will immer noch einige Jahre lang mit einer Rekordproduktion dieser Brennstoffe leben. Kolumbien gehört zusammen mit Dänemark, Spanien und Irland zu den einzigen Ländern auf der Welt, die neue Exploration von Erdöl verbieten. Im Fall Kolumbiens ist es besonders relevant, weil Erdölexporte mehr als die Hälfte des Exportvolumens ausmachen, was diese Entscheidung zu einer sehr kühnen und weltweit sehr fortschrittlichen macht. „Es handelt sich um Reformen, die dem Leben verpflichtet sind und die den Weg ausleuchten, den andere Progressive über kurz oder lang auch gehen müssen.“ Man dürfe jedoch die kontinuierliche Verbesserung der Einkommen der kolumbianischen Unterschichten nicht aus dem Blick verlieren, weil jede Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit nichts als liberale Umwelttümelei sei. Das verlange eine millimetergenaue Abstimmung zwischen dem, was die Regierung in den nächsten Jahren an Einkommen verlieren wird, und der Erschließung neuer Einkommen, sei es durch andere Exporte, höhere Steuern für die Reichen und spürbaren Verbesserungen der Lebensbedingungen für die Mehrheit des Volkes.


Was die Rolle Lateinamerikas und der Karibik in der Welt betrifft, meint García Linera: Am Beginn des 21. Jahrhunderts habe Lateinamerika den ersten Gongschlag für die Erschöpfung des neoliberalen Zyklus gegeben. Hier lag der Beginn der Suche nach einer hybriden Mischung aus Protektionismus und Freihandel. „Heute ist die Welt im Wandel hin zu einem Regime der Akkumulation und der Legitimation, das den neoliberalen Globalismus ablöst – trotz der melancholischen Rückfälle in einen Paleo-Neoliberalismus wie in Brasilien unter Bolsonaro und in Argentinien unter Milei.“ Trotzdem sei der Halbkontinent heute etwas zu erschöpft. Es scheint, als müsse der postneoliberale Übergang erst im globalen Maßstab voranschreiten, damit Lateinamerika seine Kräfte erneuert, um den ursprünglichen Antrieb wieder aufzunehmen. Die Möglichkeit postneoliberaler Strukturreformen der zweiten Generation – oder noch radikalerer – die die transformatorische Kraft auf dem Kontinent wiedererlangen, wird auf größeren Wandel in der Welt warten müssen, und natürlich auf eine Welle kollektiver Aktionen von unten, die das Feld der denkbaren und der möglichen Transformationen verändern. Soweit dies nicht geschieht, würde Lateinamerika ein Szenario von Pendelschläge zwischen kurzfristigen Siegen des Volkes und kurzfristigen Siegen der Konservativen, zwischen kurzfristigen Niederlagen des Volkes und solcher der Oligarchien sein.


Das ursprüngliche Interview führte die kolumbianische Politologin, Feministin und Aktivistin Tamara Ospina Posse. Übersetzung und Zusammenfassung: Robert Lessmann

Zahlreiche Beiträge zur politischen Situation in Bolivien, dem Heimatland von García Linera, finden sich weiter unten in diesem Blog.

von © Robert Lessmann Dr 07 Jan., 2024

Es war Anfang des letzten Jahrzehnts in der Wiener UNO City. Juri Fedotow, ehemaliger Vizeaußenminister Russlands und diplomatisches Schwergewicht, war unlängst Chef des Drogenkontrollprogramms der Vereinten Nationen (UNODC – United Nations Office on Drugs and Crime) geworden, ein Posten, den er von 2010 bis 2020 innehatte. Als solcher leitete er höchstpersönlich eine Pressekonferenz, auf der eine internationale Initiative zur Drogenbekämpfung in Afghanistan vorgestellt wurde. Mit 123.000 Hektar war das Land am Hindukusch zum mit Abstand größten Produzenten geworden. Mit einem ausgewogenen Ansatz („balanced approach“) sollten unter anderem die Bauern vom Schlafmohn weg zur Produktion legaler Alternativen geleitet werden. Vielversprechend war vor allem die Beteiligung der Nachbarländer an Kontrollmaßnahmen und Fahndung, denn Afghanistan ist ein Binnenland. Der Weg auf die lukrativen Absatzmärkte führt über die Grenzen. Von den wichtigsten Anbauregionen im Süden (Provinzen Helmand und Kandahar) wurde der Export zu etwa zwei Dritteln nach Westen in den Iran und die Türkei abgewickelt, und dann über die Balkanroute nach Europa. Zu etwa einem Drittel  ging die illegale Ware über Hunderte von Kilometern auf einem prekären, gleichwohl aber übersichtlichen Straßensystem (Dschungel gibt es keinen) und über eine Handvoll Grenzübergänge in die ehemaligen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan nach Norden. Ehemalige Ostblockländer – allen voran Russland – waren inzwischen ebenfalls zu wichtigen Absatzmärkten vor allem für minderwertige Ware („Kompott“) geworden. Kein Vergleich also zu südamerikanischen Kokainspediteuren, die mit Flugzeugen, Hubschraubern und U-Booten operieren. Doch nicht einmal dies zu unterbinden gelang: Beschlagnahmungen in Afghanistan gingen gegen Null und Korruption spielte eine wesentliche Rolle dabei.


Fundamentales Scheitern

Zurück zur Pressekonferenz, an deren Ende niemand eine Frage stellte. Um das peinliche Schweigen zu durchbrechen, fragte ich, wer sich denn mit welchen Summen der Initiative angeschlossen habe - und vergrößerte damit die Verlegenheit. Bislang hatte die neue Strategie nämlich noch keinerlei zählbare Unterstützung verbuchen können.


Dass die westliche Sicherheitskooperation fundamental scheitern würde, hatte man im Drogenbereich lange vor der „überraschenden“ Machtübernahme durch die Taliban im Sommer 2021 sehen können. Als Juri Fedotow den Chefsessel des UNODC übernahm, war Afghanistan mit 123.000 Hektar bereits der mit Abstand wichtigste Schlafmohnproduzent. Und während die legale (Land-) Wirtschaft keinerlei Dynamik­ entfaltete, kletterte der Anbau weiter von einem Rekord zum nächsten, gebremst nur durch Marktsättigung und gelegentliche Missernten, etwa durch Trockenheit, wie in den Jahren nach dem Allzeithoch von 2017.


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Schlafmohnproduktion in Afghanistan (Hektar in ausgewählten Jahren)

1995  2000  2001 2002    2010     2017    2020   2022  2023

55.759 82.171 7.606  74.100   123.000   328.000  224.000 233.000 10.800

Quelle: UNODC: World Drug Report, Vienna, verschiedene Jahrgänge und UNODC: Afghanistan Opium survey 2023.

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Heute wirbt das UNODC abermals um Unterstützung für Afghanistans Bauern, um den drogenpolitischen Erfolg zu stabilisieren. Beides hat freilich nur geringe Aussichten auf Erfolg, denn das Emirat der Taliban ist Schlusslicht bei allen Menschenrechtsstandards, bekanntermaßen insbesondere was die Lage der Frauen betrifft, und wird von Gebern gemieden. Ihr Dekret „Prohibition of Poppy Cultivation and All Types of Narcotics“ vom 3. April 2022 umfasst nicht nur Anbau, sondern auch Konsum, Transport, Verarbeitung, Handel, Import und Export – und zwar aller Drogen. Am 8. März 2023 wurde es durch ein explizites Cannabis-Verbot noch einmal bekräftigt. Ein solches Verbot galt zwar auch schon vorher unter westlicher Aufsicht. Offenbar aber verfügten die Machthaber damals über geringe Autorität, Legitimität oder politischen Willen. Jedenfalls sind nach dem Dekret der Taliban die Anbauflächen von 233.000 Hektar (2022) auf 10.800 Hektar (2023) zurückgegangen. Umgerechnet in Opium entspricht das einem Rückgang von 6.200 Tonnen auf 333 Tonnen, in Heroin rein rechnerisch von 350-480 Tonnen auf 24-38 Tonnen (bei einer durchschnittlichen Reinheit der Exportware von 50-70 Prozent).


Für die leidgeprüften Menschen und die kollabierte Volkswirtschaft bedeutet das eine riesige Herausforderung. Schon vor der abermaligen Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war die Hälfte der Bevölkerung auf externe Hilfe angewiesen, und die Nahrungsmittelimporte waren genauso hoch wie die Eigenproduktion. Doch für diese Importe fehlt nun das Geld. Afghanistans Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist während der Herrschaft der Taliban gesunken: Um 20,7 Prozent im Jahr 2021 und um weitere 3,6 Prozent in 2022. Fast 80 Prozent der Bevölkerung leben von der Landwirtschaft, die in den letzten Jahren auch noch von Wasserknappheit betroffen war. Man durchlebt dort gerade einen weiteren Hungerwinter. Die Vereinten Nationen schätzen, dass der Rückgang der Schlafmohnproduktion für die bäuerlichen Produzenten Einkommenseinbußen von 1.360 Mio. US Dollar (USD – 2022) auf nunmehr 110 Mio. USD (2023) bedeutet. Eine schnelle Umstellung auf Weizen wäre problemlos möglich, für die defizitäre Nahrungsmittelversorgung wichtig und lässt sich in der Tat auch vielfach beobachten, brächte aber Einkommenseinbußen von rund 1 Mrd. USD mit sich. Im Jahr 2022 machten die Einkommen aus dem Opiumanbau 29 Prozent des gesamten Agrarsektors aus. Für die krisengeschüttelte afghanische Volkswirtschaft lagen die Exporterlöse des Opiumsektors stets über denen der legalen Exporte von Gütern und Dienstleistungen. Im Jahr 2021 betrugen sie schätzungsweise zwischen 1,4-2,7 Mrd. USD, was 9-14 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts entsprach, heute liegen sie bei 190-260 Mio. USD. Ob sich diese Einbußen auf Dauer verkraften lassen? Bei einer Gesamtbevölkerung von rund 40 Millionen Menschen stellt die Abschiebung von 4,4 Millionen aus Pakistan in ihr Heimatland eine zusätzliche Herausforderung dar. Und nun will auch der Iran afghanische Flüchtlinge loswerden. Das Opiumgeschäft war Afghanistans wichtigster und sicherster Wirtschaftszweig und fungierte so auch als Kreditsicherheit. Die Vereinten Nationen berichten, dass Bauern nun eine im Rahmen der „Alternativen Entwicklung“ geplante Umstellung auf einträglichere Produkte als Weizen, wie zum Beispiel Granatapfel, Mandeln, Pistazien und Asant, mangels Liquidität nicht mehr schaffen, denn die erfordert Investitionen und Geduld.


Unklare Konsequenzen

Bei der verbleibenden Schlafmohnproduktion im Land, vor allem in der Provinz Kandahar, lässt sich ein Trend zu kleineren, versteckten Flächen beobachten. In den vergangenen Jahren wurden 40-60 Prozent der Ernte in Form von Rohopium exportiert. Über die Qualität der Weiterverarbeitung zu Heroin im Lande selbst ist wenig bekannt. Sie dürfte stark variieren. Während die Herstellung von Heroin in Afghanistan allem Anschein nach zurückgeht, deutet vieles darauf hin, dass Händler nun Lagerbestände verkaufen – und die dürften nach Ansicht des UNODC nach mehreren aufeinanderfolgenden Rekordernten beträchtlich sein. Die allermeisten Bauern verkaufen ihre Ernte aber direkt und nur wenige verfügen über solche Bestände. Die Verknappung dürfte also nicht zuletzt größeren Produzenten und Drogenhändlern zugute kommen. In der Tat waren die farmgate-Preise für ein Kilogramm getrocknetes Opium im August 2023 mit 408 USD fünfmal höher als zwei Jahre vor der Machtübernahme durch die Taliban, als die Preise aufgrund immer neuer Rekordernten relativ niedrig waren.


Um die Auswirkungen auf den internationalen Drogenmärkten abzuschätzen sei es noch zu früh, sagt das UNODC. Normalerweise braucht es ein bis zwei Jahre, bis die Opiate zu den Konsumentenmärkten gelangen. Und auf dem Weg dorthin, dürfte es reichhaltige Lagerbestände geben. Theoretisch wäre eine Angebotsverknappung, ein Preisanstieg und sinkende Reinheit der Ware denkbar. Auch eine Hinwendung der Konsumenten zu billigeren und potenteren synthetischen Ersatzdrogen wie Fentalyl wäre zu befürchten. Fentanyl ist 100 Mal potenter als Morphin und wird häufig dem Heroin auch beigemischt. Fentanyl-Überdosen sind heute die häufigste Todesursache für US-Amerikaner zwischen 18 und 45 Jahren. Europa ist davon weit entfernt, doch Probleme mit Fentanyl nehmen auch hier zu.


Schließlich könnten mittelfristig andere Anbaugebiete die Lücke füllen. Bevor afghanische Mudschaheddin-Gruppen in den 1980er Jahren Opium als probates Produkt zur Finanzierung ihres Kampfes gegen die sowjetischen Besatzer entdeckten – und der Westen dies augenzwinkernd tolerierte – hatte der Anbau von Schlafmohn dort keine Rolle gespielt. Als die Taliban 1996 zum ersten Mal in Kabul einmarschierten erzeugte Afghanistan bereits zwei Drittel des Weltopiums. Beim vormaligen Marktführer Myanmar bröckelt heute die Herrschaft der Militärdiktatur. So erfreulich das ist, ein Machtvakuum würde ideale Bedingungen für eine mögliche Rückkehr der Drogenwirtschaft zu alter Größe dort schaffen. Myanmar ist schon heute wieder Nummer eins bei der Opiumproduktion. Und in Afghanistan selbst expandiert derweil die Produktion von Metamphetamin.


Wie dem auch sei: Ein erstes Anbauverbot durch die Taliban in den Jahren 2000/2001 hatte auf den Konsumentenmärkten keine Auswirkungen. Damals hatte man vermutet, die Taliban würden diese Maßnahme setzen, um auf der Grundlage voller Lagerbestände die Preise zu stabilisieren. Ob es ernst gemeint war, konnte man nicht mehr feststellen, denn Ende 2001 waren die Taliban durch die Operation „Enduring Freedom“ vertrieben und die Regierung Hamid Karzai auf der Petersberger Konferenz installiert. Der Opiumanbau war damals tatsächlich von 82.171 auf 7.606 Hektar gefallen. Aber 2002 hatte er bereits wieder alte Größenordnungen erreicht. Schlafmohn ist eine einjährige Pflanze. Zwischen Aussaat und Ernte liegen nur einige Monate. Weshalb also sollten die Taliban den dürren Halm kappen, an dem die Volkswirtschaft noch hängt? Aus religiösen Gründen, sagen sie heute wie damals. Vielleicht ist es einfach ein Versuch, mächtige Lokalfürsten und Warlords an die Kandare zu nehmen, die vom illegalen Geschäft profitier(t)en. Eine Frist erlaubte im letzten Jahr noch den Verkauf der Ernte 2022. Wie auch immer: Die Entscheidung ist problemlos reversibel.

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