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Lateinamerika: Zwischen 'Progresismo' und Regression

  • von © Robert Lessmann Dr
  • 16 Feb., 2023

Die aktuellen Unruhen in Peru sind nur das jüngste Beispiel für Kämpfe um soziale Gerechtigkeit und Emanzipation, die seit einem Vierteljahrhundert in Lateinamerika toben.

Ende Januar schaffte es Peru in die Schlagzeilen und die Hauptabendnachrichten: „Proteste in Peru laufen aus dem Ruder“, titelte der ORF. Papst Franziskus schloss Peru in sein Angelus-Gebet ein und der UNO-Hochkommissar sandte endlich einen Sonderbeauftragten nach Lima, der Aufklärung über Menschenrechtsverletzungen verlangte und darüber, wie sie künftig verhindert werden könnten. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Zahl der Todesopfer bereits mit etwa 50 beziffert, bis auf wenige Ausnahmen Zivilisten und getötet mit Waffen, wie sie das Militär verwendet.


An jenem Wochenende um den 20.-22. Januar 2023 hatten Protestbewegungen aus dem ganzen Land zu einem Sternmarsch auf Lima aufgerufen unter dem Motto: „Toma de Lima“, die Hauptstadt sollte „eingenommen“ werden. Der Marsch war deklariert als „Marcha de los Suyus“ – eine klare Anspielung auf die indigene Protestkomponente, hatte sich doch das Inkareich bis zur Conquista 1532/33 als Tawantinsuyu verstanden, als Reich der vier Regionen: Chinchay Suyu im Norden bis ins heutige Ecuador, Kunti Suyu an der Pazifikküste im Westen, das Qolla Suyu im Andenhochland einschließlich des heutigen Bolivien und das Anti Suyu in Amazonien. Doch diesen Kontext hatte die hiesige Journalistik weder im Auge, noch im Kopf, als sie sich besonders um den Tourismus rund um die ehemalige Inkahauptstadt Cusco sorgte und um Besuchergruppen, die in Aguas Calientes unterhalb der Ruinen von Machu Picchu festsaßen, weil die Bahnverbindung unterbrochen war. Blockaden von Straßen- und Eisenbahnverbindungen sowie Versuche, Flughäfen zu besetzen, dauerten zu diesem Zeitpunkt bereits seit sechs Wochen an. Die Proteste hatten vor allem im südlichen Hochland ihren Ausgang genommen, in den Provinzen Arequipa, Cusco und Puno am Titicaca-See. Doch inzwischen war in einem Drittel der Provinzen der Ausnahmezustand verhängt worden. Die gewalttätige Repression der Staatsmacht hatte sie nur umso mehr befeuert. Sie sind getragen von Gewerkschaftsorganisationen, Bauern, indigenen Organisationen, zunehmend auch von Studenten. Die Mittelschichten fehlen weitgehend (noch). Im Gegensatz zur Behauptung der Regierung, sie seien von Drogenhändlern, illegalen Minenarbeitern, Extremisten des „Sendero Luminoso“ (der seit drei Jahrzehnten als zerschlagen gilt) und vom benachbarten Bolivien gesteuert, scheinen sie weitgehend spontan gewesen zu sein. Es ist keine klare Führung auszumachen und die Forderungen sind uneinheitlich: Rücktritt der „Interimspräsidentin“ Dina Boluarte und Neuwahlen, Freilassung des abgesetzten Präsidenten Pedro Castillo, Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung sind die wichtigsten darunter. Eine zunehmend größere Rolle spielt auch die Forderung nach Bestrafung der Verantwortlichen für die harte Repression. Darüber hinaus herrscht auch eine profunde Ablehnung des politischen Systems und seiner Repräsentanten, wie sie im allgegenwärtigen Slogan „que se vayan todos“ – sie sollen alle abhauen – zum Ausdruck kommt.


Auslöser der Proteste waren der Sturz und die Verhaftung des gewählten Präsidenten Pedro Castillo am 7. Dezember 2022 nach nur 16 Monaten im Amt. Pedro Castillo ist ein Grundschullehrer und Gewerkschafter aus einer Kleinstadt der Region Cajamarca im Norden. Der politische Newcomer gehörte der sich als marxistisch-leninistisch bezeichnenden Partei „Perú Libre“ an und setzte sich in der Stichwahl gegen die im politischen Establishment bestens vernetzte Tochter des autoritären und später zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilten Expräsidenten Alberto Fujimori ganz knapp durch. Beide, Pedro Castillo und Keiko Fujimori, hatten es im ersten Wahlgang nicht auf 20 Prozent der Stimmen gebracht. Unter dem Motto „keine Armen mehr im reichen Peru“ trat er am 7. Juli 2021 seine Präsidentschaft an.


Der Präsident vom Lande hatte keine Mehrheit im Kongress. Die städtischen Eliten standen ihm misstrauisch bis feindselig gegenüber und stellten, mit tätiger Mitwirkung der Medien, die sich in ihren Händen befinden, von Anbeginn seine Befähigung in Frage. Hautfarbe und Hochsprache, wie sie von den Eliten in Lima gesprochen wird, sind die zwei wichtigsten Kriterien für rassistische Stigmatisierung. Von Anfang an hatte er es mit teils offen rassistischen Anfeindungen, Korruptionsermittlungen und Amtsenthebungsverfahren zu tun. Dutzende Gesetzentwürfe wurden abgelehnt. Planlosigkeit, konfuse Entscheidungen, mangelnde Transparenz und die Berufung unfähiger Leute waren Wasser auf die Mühlen seiner Gegner. Wertkonservative bis reaktionäre Haltungen – etwa in Fragen der sexuellen Orientierung – brachten aber auch Sympathisanten zum Stirnrunzeln. Bereits nach einem Vierteljahr Amtszeit raubte das Parlament der Regierung mit dem Ley 31.355 vom Oktober 2021 die Möglichkeit, Verfassungsreformen durchzusetzen, den Kongress aufzulösen und Parlamentswahlen auszurufen. In 495 Amtstagen hatte Castillo fünf Kabinette mit 78 Ministern, überstand zwei Amtsenthebungsverfahren und unzählige politische Skandale.


Um einem dritten Amtsenthebungsverfahren zuvorzukommen, kündigte Castillo am 7. Dezember die Auflösung des Parlaments an. Unter den gegebenen Umständen politischer Selbstmord. Stattdessen wurde er unter dem Vorwurf eines versuchten Staatsstreichs und „moralischer Unfähigkeit“ vom Parlament abgesetzt und verhaftet. Nachfolgerin wurde Vizepräsidentin Dina Boluarte. Ebenfalls aus der Partei „Perú Libre“ stammend und politisch unerfahren, war sie von Pedro Castillo erst Anfang 2022 als Verlegenheitslösung zur Vizepräsidentin berufen worden, nachdem sein Wunschkandidat, der Mediziner Vladimir Cerrón Rojas, wegen juristischer Hindernisse ausgefallen war. Sie ist legitime, verfassungsmäßige Nachfolgerin, wird es aber schwer haben, sich mit der Verantwortung für so viele Tote zu behaupten. Drei ihrer Minister sind schon zurückgetreten. Schwer zu sagen, ob es einen Weg des Dialogs gegeben hätte, aber sie hat von Anfang an darauf gesetzt, lange im Amt zu bleiben und ihre Macht polizeilich-militärisch abzusichern. Wahlen sind erst für April 2024 angesetzt. Vorgezogene Neuwahlen – inzwischen auch von Boluarte selbst ins Spiel gebracht – wurden vom Parlament mehrmals verworfen, allerdings mit zunehmend schwindenden Mehrheiten. Eigentlich starker Mann ist ihr Verteidigungsminister Luis Alberto Otárola, der inzwischen zum Ministerpräsidenten aufgestiegen ist. Boluarte hat sich damit rechten Hardlinern ausgeliefert. Sollte auch sie zurücktreten, wäre mit Parlamentspräsident José Williams ein ultrarechter pensionierter Armeegeneral der verfassungsmäßige Nachfolger.


Es handelt sich um eine Dauerkrise. Peru hatte in fünf Jahren sechs Präsidenten. Alle schieden unfreiwillig aus dem Amt. Viele sind mit der Justiz konfrontiert und einer, Alan García, hat sich erschossen, um einem Korruptionsverfahren zu entgehen. Ungeachtet des politischen Chaos steht Peru mit soliden Wachstumsraten da. Aber mehr als 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden im Großraum Lima erwirtschaftet und ein großer Teil der Bevölkerung ist vom Wohlstand ausgeschlossen. Während der Pandemie ist die Armutsquote von 20 auf 30 Prozent angewachsen. Die Grenze zwischen Arm und Reich verläuft parallel zu der zwischen indigen und nicht-indigen. Lima und das Landesinnere, das sind zwei verschiedene Welten. Pedro Castillo, der für 36 Monate in Untersuchungshaft sitzt, ist – politisch möglicherweise unverdientermaßen – zu einer gewissen Identifikationsfigur für die Unterdrückten und Beleidigten (Dostojewski), die Bauern und Indigenen, die Armen und Marginalisierten geworden. Der Historiker Gustavo Montoya von der Universidad Nacional Mayor de San Marcos sieht die derzeitige Situation auch als historische Chance, darüber nachzudenken, welchen Staat Peru hat und in welchem Verhältnis Staat und Gesellschaft zueinander stehen. Vieles wird davon abhängen, inwieweit sich die spontanen Proteste weiter verstetigen, sich organisatorisch zusammenfügen und eine Führung finden.


Demokratie als umkämpftes Terrain

Anders geartet, aber in frischer Erinnerung ist der Sturm auf die Regierungsgebäude in Brasilia nach dem Wahlsieg von Lula da Silva am 8. Januar, der nach ähnlichem Drehbuch abzulaufen schien, wie zwei Jahre zuvor der Sturm paramilitärisch organisierter Trump-Anhänger auf das Kapitol in Washington. In beiden Fällen geschah dies unter Vorwürfen von Wahlbetrug, den die Protagonisten jeweils schon vor der Wahl prophezeiten. In Brasilia richteten sie sich gegen einen Wahlsieger und frisch ins Amt eingeführten Präsidenten unter Mithilfe von Teilen der Sicherheitskräfte. In Washington wurden sie mutmaßlich von einem noch amtierenden Präsidenten gegen den Wahlsieger orchestriert. Die Parallelen scheinen weniger erstaunlich, wenn man weiß, dass die extreme Rechte weltweit gut vernetzt ist. Eduardo Bolsonaro, Sohn des abgewählten brasilianischen Präsidenten, ist beispielsweise Verbindungsmann von Trump-Berater Steve Bannon nach Südamerika. Zu diesen Netzwerken lohnen weitere Recherchen und Forschungen.


Schon im Herbst 2019 war ich zu einer Serie von Veranstaltungen eingeladen mit der Frage: „Flächenbrand in Lateinamerika?“ In Chile, Ecuador und Kolumbien waren damals Proteste gegen das neoliberale wirtschaftliche Modell eskaliert, die von Fahrpreiserhöhungen beziehungsweise Benzinpreissteigerungen ausgegangen waren. In Chile führten sie zu einem Linksruck, einem Regierungswechsel und einem Verfassungsprozess zur Ablösung der alten Pinochet-Verfassung. In Kolumbien wurde letztes Jahr mit Gustavo Petro zum ersten Mal ein Linker zum Präsidenten gewählt. In Bolivien wurde dagegen 2019 mit Evo Morales der Repräsentant eines Gegenmodells zum Neoliberalismus und Hoffnungsträger der Linken gestürzt, der bereits bei den Wahlen vom Oktober 2005 durch einen Erdrutschsieg an die Macht gekommen war, was auch als Revolution mit dem Stimmzettel bezeichnet wurde. Ein Jahr später, 2020, erzwangen die sozialen Bewegungen dort Neuwahlen, die wiederum die alte Regierungspartei MAS (Movimiento al Socialismo) mit absoluter Mehrheit gewann. Damit ist dort der Prozess des Wandels (proceso de cambio) zurück. Die MAS selbst ist allerdings heute von Spaltung bedroht. Statt von einer Wellenbewegung zwischen Links und Rechts, zwischen fortschrittlichen und regressiven Kräften, darf man also eher von einem permanenten Machtkampf sprechen.


Nach einer Epoche der Diktaturen in den 1960er bis 1980er Jahren und zwei bis drei Jahrzehnten Neoliberalismus und Rückkehr zur Demokratie steht der Halbkontinent makroökonomisch ganz gut da und formaldemokratisch leidlich stabil. Das ändert sich gerade mit den Folgen der Pandemie und der drohenden Rezession. Peru beispielsweise steht im Human Development Index der Vereinten Nationen unmittelbar nach Kuba (83) auf Rang 84 vor Mexiko (86), Brasilien (87), Kolumbien (88) und Ecuador (95). Lateinamerika ist aber die Region mit der markantesten sozialen Ungleichheit, der höchsten Kriminalität und einem ausgeprägten Hang zu gewalttätigen Konfliktlösungen.


Seit einer Welle „progressistischer“ Regierungen tobt ein heftiger Machtkampf, nicht mehr so sehr mit dem Militär oder Guerillagruppen, sondern an der Grenze zum „low intensity conflict“ mit Straßenprotesten, Blockaden und Prozessen (lawfare statt warfare). Den Anfang machte 1999 Hugo Chávez in Venezuela, gefolgt von Lula da Silva in Brasilien (2003), Néstor Kirchner in Argentinien (2003), Tabaré Vasquez in Uruguay (2005), Evo Morales in Bolivien (2006), Rafael Correa in Ecuador (2007). In Argentinien, Brasilien und Bolivien kam zwischenzeitlich die Rechte zurück – in Uruguay und Ecuador ist sie noch an der Regierung. In Chile und Kolumbien gibt es neuerdings mit Gabriel Boric und Gustavo Petro Linksregierungen, die vor großen Herausforderungen stehen. In Chile ist das Verfassungsprojekt der Regierung Boric zunächst im Referendum vom 4. September 2022 mit 62:38 Prozent krachend gescheitert. Auch sie verfügt über keine Mehrheit im Parlament und ist mit finanzkräftigen alten Eliten konfrontiert, die die Medien kontrollieren und vor einer „Venezolanisierung“ und dem Kommunismus warnen. Ein wichtiger Grund der Ablehnung des Verfassungsentwurfs war das plurinationale Staatsmodell, das heißt die Aufwertung der indigenen Völker. Nicht hilfreich war die fehlende Einheit der Linken im Allgemeinen und das allzu radikale Auftreten gewisser Gruppen im Besonderen.


Die genannten Präsidenten der ersten „Linkswelle“ – man könnte beispielsweise noch Michelle Bachelet in Chile (ab 2006) hinzufügen - verfolgten durchaus unterschiedliche politische Agenden, wie sie vage als „progressistisch“ bezeichnet werden. Sie alle waren aber mit steifem Gegenwind konfrontiert. Hugo Chávez, der 1998 mit 56 Prozent der Stimmen gewählt und im Jahr 2000 auf der Grundlage einer neuen Verfassung mit 60,3 Prozent bestätigt worden war, wurde im April 2002 mit Unterstützung Washingtons kurzfristig aus dem Amt geputscht. Er gewann übrigens alle Wahlen und Abstimmungen von 1998-2012, mit Ausnahme des Referendums um eine Verfassungsänderung 2007, dessen Ergebnis er respektierte. Zum Teil antworteten sie mit dem Rückgriff auf populistische und autoritäre Herrschaftstechniken bis zu einem Punkt, wo sie nicht mehr als Vorbild dienen, sondern als abschreckendes Beispiel. Wo sie konnten, nutzten sie die Konjunktur und stützten ihre Modelle auf den Verkauf nicht erneuerbarer Rohstoffe (Extraktivismus), wie Öl und Gas, um Sozialprogramme zu finanzieren – und verzichteten dabei auf strukturelle Veränderungen, wie wirtschaftliche Diversifizierung. „Progressistisches“ Regieren war nicht frei von Widersprüchen, persönlichen Ambitionen und Korruption. In Ecuador, wo unter Rafael Correa in einer neuen Verfassung umfänglich indigene Rechte und zum ersten Mal die Rechte der „Mutter Erde“ festgeschrieben wurden, hinkte die Umsetzung derart hinter dem Anspruch her, dass Correa 2017 ins Exil ging. Nachfolger Lenin Moreno fiel durch den Gegensatz von progressistischer Rhetorik und neoliberaler Politik auf. Im Herbst 2019 ließ er Proteste blutig niederschlagen. Die Beziehungen zwischen dem (ehemals) progressistischen und dem indigenen Lager waren schließlich derart zerrüttet, dass man im Jahr 2021 einen Wahlsieg quasi verschenkte. Während der „Correist“ Andrés Arauz den ersten Wahlgang mit 14 Prozentpunkten Vorsprung gewonnen hatte und Yaku Pérez (Pachakutik) das bislang beste Ergebnis für das indigene Lager holte, gewann der neoliberale Guillermo Lasso die Stichwahl, der im ersten Wahlgang nur 19,5 Prozent holen konnte. Statt ein Bündnis einzugehen, bekämpfte man sich.


Qollasuyu – andine Gemeinsamkeiten

Dina Boluarte und Jeanine Añez haben Vieles gemeinsam. Auch wenn die eine den Jahreswechsel auf dem Präsidentensessel des Palacio de Gobierno in Lima verbrachte und die andere hinter Gittern in La Paz. Beide kamen unverhofft zur Präsidentschaft. Beide wurden dazu eingeladen, nicht gewählt. Vizepräsidentin Boluarte wurde es dann durch die überraschende Entfernung ihres Vorgesetzten aus dem Präsidentenamt. Añez wurde durch eine Versammlung von Ex-Politikern, mehrheitlich aus dem Umfeld des Ex-Diktators Hugo Banzer, ausgewählt, die in der Universidad la Católica von La Paz tagten, nicht im Parlament. Keiner von ihnen hatte irgendein Mandat. Unter tätiger Mithilfe der Katholischen Kirche und des damaligen EU-Botschafters, León de la Torre, wollten sie ein Machtvakuum füllen, an dessen Entstehung sie regen Anteil hatten. Die Vorgänge sind Gegenstand laufender Gerichtsverfahren. Auch Evo Morales, der gewählte Amtsvorgänger von Frau Añez, wurde aus dem Amt entfernt, und zwar unter Vorwürfen des Wahlbetrugs. Schon im Vorfeld der Wahlen vom Oktober 2019 behauptete die Opposition, dass es Wahlbetrug geben würde und es gab gewalttätige Übergriffe auf Kundgebungen und Büros der Regierungspartei MAS. Organisiert wurden sie von sogenannten Zivilkomitees, besonders dem der größten Stadt Santa Cruz, dem Luis Fernando Camacho vorstand und unter Beteiligung paramilitärischer Schlägertrupps wie der Unión Juvenil Cruceñista und der Resistencia Juvenil Cochala. Als es dann bei der Schnellauszählung am Wahlabend zu Unregelmäßigkeiten kam, die von Wahlbeobachtern der OAS vorschnell öffentlich gemacht wurden (wirklich bewiesen wurde ein Wahlbetrug bis heute nicht) eskalierten die Proteste. In sechs von neun Departementshauptstädten gingen die Büros der Wahlkommission in Flammen auf. Schlechtes Krisenmanagement der Regierung tat ein Übriges. Schließlich stand der Wahlsieg der MAS als solcher (mit rund 47 Prozentpunkten) trotz herber Verluste gar nicht in Zweifel. Es ging um 10 Prozentpunkte Abstand vor dem Zweitplatzierten, die laut Wahlgesetz nötig sind, um eine Stichwahl zu vermeiden. Als dann noch eine Polizeimeuterei ausbrach und die Militärführung Morales den Rücktritt nahelegte, flohen Präsident und Vizepräsident außer Landes. Weder hatten sie ihren Rücktritt offiziell eingereicht, noch war dieser vom Parlament angenommen worden, wie es die Verfassung vorschreibt. Auch wäre Frau Añez als zweite Vize-Präsidentin des Senats nicht an der von der Verfassung definierten Reihe der Nachfolger gewesen. Trotzdem wurde sie in den westlichen Hauptstädten genauso schnell anerkannt wie die legitime Nachfolgerin Boluarte in Peru. Wie Boluarte dachte auch Frau Añez rasch an mehr als nur eine Interimspräsidentschaft. Ein ums andere Mal wurde ein möglicher Wahltermin unter Hinweis auf die Pandemie verschoben und bereits nach zwei Monaten gab Añez bekannt, dass auch sie kandidieren wolle – sehr zur Empörung des Zweitplatzierten bei der umstrittenen Wahl, Carlos D. Mesa. Wie Boluarte ließ sie ihre Präsidentschaft polizeilich-militärisch absichern. Abgeordneten der Regierungspartei, die über die absolute Mehrheit verfügte, wurde an den entscheidenden Tagen ihrer Machtergreifung der Zugang zum Parlament verwehrt. Es kam zu Massakern gegen protestierende MAS-Anhänger.


Zwischen Castillo und Morales gibt es ebenfalls Gemeinsamkeiten. Auch die Regierung Morales war in der Anfangszeit von vielen handwerklichen Schwächen gekennzeichnet und auch sie stand von Anfang an unter immensem Druck. Die Verfassunggebende Versammlung (ab 2006) wurde sabotiert und behindert, sodass sie in eine Militärakademie ausweichen und schließlich in eine andere Stadt umziehen musste. Der Zivilputsch von Santa Cruz 2008 brachte das Land an den Rand einer Spaltung. Aber Morales hatte die absolute Mehrheit im Parlament und war – im Unterschied zu Castillo – von starken sozialen Bewegungen getragen, aus deren Reihen er hervorgegangen war. Er war also im Unterschied zu Castillo kampferprobt, nicht unerfahren. Doch auch seinem Sturz gingen eklatante Fehler voraus. Seine Präsidentschaft war von vielen Erfolgen begleitet. Eine neue Verfassung schrieb soziale Rechte, Indígena-Rechte und die Rechte der Pachamama fest. Bolivien wurde zum „Plurinationalen Staat“. Indigene Sprachen wurden auch Amtssprachen und die bunte Wiphala-Fahne gleichwertig neben die rot-gelb-grüne Nationalflagge gestellt. Die Nationalisierung der Kohlenwasserstoffressourcen spülte bei günstiger Konjunktur Devisen in die Staatskasse, die für eine Umverteilungs- und Sozialpolitik verwendet wurden. Die Armutsquote sank deutlich, die Lebenserwartung wuchs um Jahre, ein bedeutender Teil der Unterschicht stieg in die Mittelschicht auf. Ihre Binnennachfrage stabilisierte die Wirtschaft, auch als die Exporteinnahmen nach 2015 einbrachen. Grundlage war auch hier der Extraktivismus, grundlegende Strukturreformen unterblieben. Die Präsidentschaft von Morales war von einer Serie von Wahlen und Abstimmungen begleitet, die manche Beobachter als „referenditis“ bezeichneten. Er hat sie alle mit absoluter Mehrheit gewonnen. Eine in Bolivien bis dahin unbekannte demokratische Stabilität.


Bis zum Februar 2016, als Morales durch ein Referendum den Artikel 168 der Verfassung ändern lassen wollte, der nur zwei Amtsperioden in Folge zulässt. Das Referendum ging knapp verloren. Morales ignorierte das Resultat und kandidierte 2019 erneut. Viele Bolivianerinnen und Bolivianer sahen sich nun durch ihn um das einmalige Demokratieerlebnis betrogen, das er ihnen zuvor beschert hatte. Die völlig zersplitterte und inhaltsleere Opposition witterte Morgenluft.


Am 28. Dezember 2022 wurde in Santa Cruz der nunmehrige Gobernador (Ministerpräsident) des Departements, Luis Fernando Camacho, festgenommen. Er hatte sich geweigert, vor Gericht zu den Vorgängen um die Machtergreifung von Jeanine Añez auszusagen. An den Treffen in der Universidad la Católica hatte er selbst nicht teilgenommen, aber einen Vertreter geschickt. Insbesondere hatte er sich öffentlich damit gebrüstet, dass sein Vater die Polizei geschmiert und zur Meuterei angestiftet, und es mit dem Militär „geregelt“ habe. Schon kurz nach seiner Inhaftierung bekam er Besuch von Vertretern des chilenischen Boric-Widersachers und Pinochet-Bewunderers José Antonio Kast sowie der rechtsextremen spanischen Partei VOX.


Etwa zur gleichen Zeit zog Peru seine Botschafterin aus La Paz ab und Evo Morales, inzwischen MAS-Parteichef, erhielt Einreiseverbot. Die Schuldzuweisungen an Bolivien für die Unruhen in Peru nahmen zu. Ende Januar bezeichnete der fujimoristische Abgeordnete Ernesto Bustamante die von den Protestierenden benutzte bunte Wiphala-Fahne als „trapo“ (Fetzen), wie ihn auch der „Narcoterrorist Morales“ benutze. Bustamante forderte die Militarisierung der Grenze und ein Ultimatum an das Nachbarland. Wenn Bolivien nicht aufhöre, die Proteste in Peru anzustacheln und zu finanzieren, solle das Militär dort einmarschieren und Rohstofflager besetzen, damit man hinterher Reparationszahlungen geltend machen könne. Es gibt freilich keinerlei Beweise für eine Einmischung Boliviens in Peru. Vielmehr entstehen dem Binnenland Millionenschäden dadurch, dass Peru seine Probleme nicht geregelt bekommt und Hunderte von Lastwagen seit Wochen beiderseits der Grenze in Desaguadero festhängen.  Die Bevölkerung in den südlichen Provinzen Perus, von denen die Proteste ihren Ausgang nahmen, ist bäuerlich-indigen geprägt und arm. Bei Puno verläuft die Sprachgrenze zwischen Quetschwa und Aymara, das in der Gegend rund um den bolivianischen Regierungssitz La Paz gesprochen wird. Die Menschen dort haben vieles, was sie kulturell verbindet. Sie brauchen aber gewiss keine auswärtigen Anstifter um sich zu empören und zu protestieren. Was die absurden Anschuldigungen und die Beleidigungen gegen Symbole wie die Wiphala-Fahne zeigen, ist vor allem, dass hier wie dort die gleichen Kämpfe um soziale Gerechtigkeit und Emanzipation geführt werden. Beim Einzug von Frau Añez in den Präsidentenpalast in La Paz wurden Wiphala-Fahnen verbrannt und Gobernador Camacho hatte sich stets geweigert, sie zu hissen. Die siebenfarbigen Quadrate fanden sich auf Inka-Textilien. Ob es sich um eine Inka-Flagge handelte, ist nicht erwiesen. Doch im ganzen Andenraum und darüber hinaus gilt sie heute als indigenes Symbol. Sie zu missachten zeigt nur Unverständnis und rassistische Verachtung durch Eliten, die sich an die Macht und ein anachronistisches Herrschaftssystem klammern. Und genau darum geht es beim Kampf um die Demokratie.


Europa und die Wiederentdeckung Lateinamerikas

Diesseits des Atlantiks verhält man sich zu alledem bestenfalls eher nicht. Oft genug stand man auf der falschen Seite. Europa hat Lateinamerika sträflich vernachlässigt. Die Lateinamerika-Forschung an den Universitäten wurde ausgedünnt, auswärtige Ämter und Vertretungen quantitativ wie qualitativ unterbesetzt. Die Progressiven hat man bestenfalls distanziert mit der Pinzette angefasst, sich an US-Sanktionen beteiligt und beispielsweise die gescheiterte venezolanische Parallelregierung unter Juan Guaidó umgehend anerkannt. In Wien geschah dies damals auf der Grundlage eines Tweets des Lateinamerikaexperten Sebastian Kurz. Nebenbei führte das dort auch zu seltsamen Allianzen mit Ländern wie Belarus oder dem Iran nach dem Motto „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ - und weiterer Entfremdung. Nicht Europa, China hat das Vakuum gefüllt, das die Vereinigten Staaten auf dem Halbkontinent hinterlassen haben. Mit der geänderten geopolitischen Lage („Zeitenwende“) scheint man das nun korrigieren zu wollen. Wie willkommen die Kundfahrt des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz im Januar aufgenommen wurde, zeigte eine durchaus unübliche spontane Umarmung durch den brasilianischen Präsidenten Lula da Silva auf offener Bühne während einer gemeinsamen Pressekonferenz. Über die Ablehnung des Ansinnens von Waffenhilfe an die Ukraine brauchte man sich trotzdem nicht zu wundern. Wer mag Scholz da beraten haben? Moskau hatte – ob aus Altruismus oder aus geopolitischen Erwägungen - die „Progressisten“ unterstützt.


Neben Brasilien besuchte Scholz auch Argentinien und Chile, was medial als besonders weitsichtig hervorgehoben wurde. Handelt es sich doch um zwei der wichtigsten Lithiumproduzenten. Lithium ist für die geplante Energiewende von großer Bedeutung. Nicht besucht wurde das kleinere, angrenzende Bolivien, das über die größten Lithiumvorkommen der Welt verfügt. Dass darüber mit keinem Wort berichtet wurde, erstaunt erst auf den zweiten Blick, dann aber umso mehr: Am 12. Dezember 2018 war in Berlin im Beisein des bolivianischen Außenministers und des deutschen Wirtschaftsministers Peter Altmaier ein Joint Venture zur Lithiumgewinnung gegründet worden. Bis zum November 2019 saß der beteiligte baden-württembergische Mittelständler auf unterschriftsreifen Verträgen, die dann auf Eis gelegt wurden, was zu Spekulationen über eine Beteiligung von Mitkonkurrenten am Sturz der Regierung Morales Anlass gab, zumal Tesla-Chef Elon Musk in seiner bekannt flapsigen Art, darauf angesprochen später sagte: „Wir stürzen wen wir wollen.“ Zweifellos hätte er die finanziellen Mittel dazu. Sicher ist, dass es Widerstand der umliegenden Gemeinden gegen das Projekt gab, die um ihr knappes Grundwasser fürchten. Und das betroffene Departement Potosí lehnte die Verträge ab, weil es eine höhere Gewinnbeteiligung wollte. Der damalige Chef des dortigen Zivilkomitees COMCIPO, Marco Pumari, war deshalb während des Wahlkampfes 2019 sogar in einen zwölftägigen Hungerstreik getreten. Pumari war übrigens einer der engsten Verbündeten von Luis Fernando Camacho bei den Unruhen, die zum Sturz von Morales führten, und im Wahlkampf 2020 dessen Kandidat für die Vizepräsidentschaft.


Wie auch immer: Als die MAS erneut an die Regierung gewählt und diesbezügliche Verhandlungen wieder aufgenommen wurden, standen fünf potenzielle Partner zur Auswahl. Kein Unternehmen aus Europa war mehr darunter. Den Zuschlag erhielt ein chinesisches Konsortium und bereits in der zweiten Jahreshälfte 2023 soll die Produktion von Lithiumkarbonat industrielle Dimensionen annehmen. Man rechnet dann mit Einnahmen in Höhe von 576 Millionen USD (gegenüber 37,8 in der Pilotphase 2022). Langfristig sollen es 30 Milliarden pro Jahr werden. Bolivien verfügt über rund ein Viertel der bekannten Reserven. Ob das nicht einen Bericht wert gewesen wäre?


Es mag eine Reihe von Gründen dafür geben, dass Europa nicht mehr im Rennen ist. Aber man darf wohl davon ausgehen, dass die fragwürdige Rolle des seinerzeitigen EU-Botschafters bei der Machtergreifung der Rechten im November 2019 das Vertrauen in europäische Partner zumindest nicht gestärkt hat. Ob ihm ein Vorwurf zu machen ist? Das wenigste was man sagen kann: Er spricht zumindest Spanisch. Der Mann war vormals spanischer Botschafter in Nicaragua. Zeitgleich zur Rückkehr der MAS an die Regierung wurde er als EU-Botschafter nach Santiago de Chile versetzt.




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