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Ecuador/ Kolumbien: Stationen einer gescheiterten Drogenpolitik

  • von © Robert Lessmann Dr
  • 06 Apr., 2024

Die internationale Drogenpolitik scheitert weiter vor sich hin. Doch es gibt auch vielversprechende Reformansätze.

Wien im März 2024. Die kolumbianische Botschafterin war in ihrem Schlusswort sehr klar: „Als ich vor einem Jahr erstmals hier sprach, stellte ich mich mit den Worten vor: ‚Ich heiße Laura Gil. Ich komme aus Kolumbien und ich bin müde.‘“ Müde von der Gewalt, den Toten, den leeren Versprechungen. Ein Jahr später müsse sie sagen: „Wir sind heute 60 Länder und wir sind es leid!“


Laura Gil sprach auf einem so genannten side event im Rahmen der 67. UN Commission on Narcotic Drugs.(1) Obwohl eine Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen (UNGASS) zum Thema Drogen im Jahr 2016 eine flexiblere Auslegung der einschlägigen Konventionen versprochen hatte, sei in der Praxis alles so starr und bürokratisch geblieben wie eh und je, sagte Gil, die zuletzt als Vize-Außenministerin ihres Landes für multilaterale Beziehungen zuständig war. UNGASS 2016 war auf Initiative Mexikos, Kolumbiens und Guatemalas einberufen worden: Eine Überarbeitung des bisherigen Ansatzes der internationalen Gemeinschaft gegenüber Drogen könne nicht länger aufgeschoben werden, hieß es bereits in einer gemeinsamen Erklärung vom 1. Oktober 2012. Dabei müssten die Vereinten Nationen eine Führungsrolle übernehmen, um „alle Optionen zu analysieren, einschließlich regulierender – oder Marktmechanismen, um ein neues Paradigma zu etablieren, das den Ressourcenfluss zu Gruppen organisierter Kriminalität verhindert.“ Herausgekommen ist das Versprechen größerer Flexibilität. In der Tat wurden seither Entkriminalisierungs- und Regulierungsmodelle bei Cannabis toleriert.


Neustart als Rohrkrepierer

Zu einer energischen Schwerpunktsetzung beim Kampf gegen die organisierte (Gewalt-) Kriminalität und die Geldwäsche – wie es die Lateinamerikaner gefordert hatten – kam es jedoch nicht. Im Jahr 2011 hatte das Büro für Drogen und Verbrechensbekämpfung der Vereinten Nationen (UNODC) eine bahnbrechende Studie über Geldwäsche vorgelegt. Demnach lag deren jährliches Volumen damals zwischen 1,2 und 1,6 Billionen US Dollar. Der größte Anteil entfalle mit 350 Mrd. auf den Drogenhandel und dabei wiederum auf den mit Kokain, der besser organisiert und zentralisierter sei als der mit anderen illegalen Substanzen. Zum Vergleich: Der aktuelle Budgetentwurf der deutschen Bundesregierung liegt bei 470 Mrd. €. Der illegale Drogenhandel sei gewissermaßen das Rückgrat der internationalen organisierten Kriminalität, hieß es damals in UNODC-Papieren. Indes: Eine längst überfällige Aktualisierung dieser Studie ist nicht in Sicht. Unter dem damaligen Exekutivdirektor des UNODC, Antonio Maria Costa (2002-2010 - ein Banker übrigens), habe man sich dieses heiklen Themas angenommen. Seither fehle der politische Wille dazu, ist aus dem UNODC zu vernehmen.


Dabei wäre es sechs Jahrzehnte nach der Verabschiedung der maßgeblichen UNO Drogenkonvention und einem halben Jahrhundert von Washingtons federführendem „War on Drugs“ höchste Zeit, neue und innovative Wege einzuschlagen. Die Zahl der Drogenkonsumenten befindet sich auf Rekordniveau und wächst schnell weiter. Schneller noch wachsen die Opferzahlen, vor allem durch neue, im Labor hergestellte psychoaktive Substanzen. Überdosen mit dem künstlichen Opioid Fentanyl sind heute die häufigste Todesursache für Männer zwischen 18 und 45 Jahren in Nordamerika. Die Produktion der klassischen, pflanzengestützten Drogen Kokain (Grundstoff sind die Blätter des Kokabusches aus Bolivien, Kolumbien und Peru) und Heroin (Schlafmohn/Opium aus Afghanistan, Myanmar und Mexiko) befindet sich jeweils auf Rekordniveau. Sogenannte Neue Psychoaktive Substanzen drängen mit einer Schnelligkeit und Vielfalt auf den Markt, die schon ihre Erfassung und damit das Kontrollsystem der Drogenkonventionen über Listen kontrollierter Substanzen überfordert. Zusammen mit einer wachsenden Rolle des Darknet beim Handel schränkt das die Zugriffsmöglichkeiten der Exekutive drastisch ein. Therapie und Prävention scheinen die wesentlich effektiveren Instrumente zu sein. Doch in der Praxis dominiert allenthalben noch immer der repressive Ansatz über das Strafrecht.


Diese konventionelle Politik ist in Bausch und Bogen gescheitert. Es gab allenfalls regionale Schwerpunktverlagerungen. Inwieweit ein Anbauverbot der Taliban für Schlafmohn in Afghanistan vom April 2022 nachhaltig sein wird, bleibt vor dem Hintergrund voller Lagerbestände abzuwarten. Ein ebensolches Verbot vom Jahr 2000/2001 war es jedenfalls nicht. Immerhin ist aktuell ein Rückgang der dortigen Opiumproduktion um 95 Prozent zu verzeichnen. Zwanzig Jahre westlicher Sicherheitskooperation waren dagegen von einem stetigen Anwachsen des Anbaus in Afghanistan begleitet. Schon nimmt der Anbau beim vormals wichtigsten Schlafmohnproduzenten, Myanmar, rapide zu.


Das Epizentrum des Kokaanbaus verlagerte sich bereits in den 1990er Jahren aus den traditionellen Anbauländern Bolivien und Peru nach Kolumbien (ohne dort zu verschwinden oder auch nur nachhaltig vermindert zu sein) und zwischenzeitlich auch wieder zurück. Man spricht vom Ballon Effekt; Druck an einer Stelle führt zur Ausdehnung anderenorts. Heute befinden sich 204.300 Hektar Anbaufläche (von insgesamt 296.000) in Kolumbien (2). Die Schaltzentralen des Kokaingeschäfts verlagerten sich von Kolumbien nach Mexiko, doch produziert wird nach wie vor in Kolumbien, wo rund zwei Drittel der Kokainlabors entdeckt und zerstört werden. Mehr als von einer Verlagerung muss man also von einer Ausbreitung des illegalen Drogengeschäfts und der mit ihm verbundenen Probleme sprechen.


Ecuador, Kolumbien und der War on Drugs

Jüngstes Beispiel dafür ist Ecuador, das in einer Welle von Gewalt versinkt, wie die deutsche Tagesschau am 11. Januar 2024 titelte. Ecuador, dabei dachte man an Galapagos, den 6.263 Meter hohen Chimborazo, Charles Darwin und Alexander von Humboldt, ein stark von seiner indigenen Bevölkerung geprägtes Land und jenes mit der wahrscheinlich größten Artenvielfalt. Doch heute ist Ecuador ein wichtiges Transitland für Kokain geworden. Aus dem friedlichen und aufstrebenden Ecuador wurde eines der gefährlichsten Länder Lateinamerikas.


Wie kam es dazu? Ecuador hat mit Guayaquil einen großen Seehafen und eine fast 600 Kilometer lange Grenze zum Nachbarland Kolumbien, wo seit vielen Jahren etwa zwei Drittel des auf den illegalen Weltmärkten erhältlichen Kokains erzeugt werden. Ein halbes Jahrhundert War on Drugs, Milliarden von Dollars, US- Militärbasen und Sprühflugzeuge mit Glyphosat gegen Kokafelder haben daran nichts geändert. Älteren Leserinnen und Lesern sind die Namen Pablo Escobar, Carlos Lehder, die Ochoa-Familie und die Rodríguez-Orejuela in Erinnerung, das Cali- und das Medellín-Kartell (der völlig falsche Ausdruck übrigens, aber von der Journaille so eingebürgert) in Erinnerung, die Ende der 1980er, Anfang der 90er Jahre gegen ein Auslieferungsabkommen mit den USA anbombten. Allein drei Präsidentschaftskandidaten starben, dutzende Richter, Staatsanwälte, Journalisten wurden damals ermordet. Nach der Zerschlagung der mächtigen „Kartelle“ übernahmen Dutzende kleinere Organisationen das unvermindert boomende Geschäft, die nicht mehr über die Kontakte in die Anbauregionen in Bolivien und Kolumbien verfügten. Ungeachtet einer einsetzenden Besprühungskampagne mit Pflanzengift aus der Luft wurde Kolumbien in der zweiten Hälfte der 90er selbst zum wichtigsten Grundstoffproduzenten. Wirtschaftswissenschaftler nennen das Importsubstitution. Der Kokaanbau in Kolumbien verdreifachte sich. Und er breitete sich aus: Waren es zu Beginn der Besprühungen sechs Provinzen, so wurde zur Jahrtausendwende Koka in 23 der 33 kolumbianischen Departments angebaut.


Kokaanbau historisch in Hektar

        1986     1995     2000

Bolivien    25.800   48.600   14.600

Kolumbien   24.400   50.900   163.300

Peru     150.400   115.300    43.400

Total      200.440   214.800   221.300

Quelle: UNODCCP Global Illicit Drug Trends bzw. UNODC World Drug Reports


Washington hatte Mitte der 90er den Präsidenten Ernesto Samper mit Korruptionsvorwürfen unter Druck gesetzt und zur Einwilligung in die Besprühungskampagne genötigt. Mit einer Operation Airbridge hatte man zudem versucht, den Import des Zwischenprodukts, der Pasta Básica de Cocaína, aus Bolivien und Peru einzudämmen. Nicht identifizierte Kleinflugzeuge wurden zur Landung gezwungen oder abgeschossen, bis der Kongress dieses Vorgehen stoppte. Wegen eines Kommunikationsfehlers zwischen dem amerikanischen Aufklärer und dem peruanischen Jäger hatte man versehentlich die Cessna einer US-Missionarsfamilie abgeschossen.


Zunehmend bemächtigten sich nun auch bereits seit 1964 in Kolumbien operierende Guerrillagruppen des illegalen Geschäfts, und stärker noch die rechtsextremen Paramilitärs, die gegen die Guerrilla kämpften. Teilweise hatten diese Gruppen zigtausende Kämpfer unter Waffen, die alle verköstigt, eingekleidet und bewaffnet werden mussten. Hatte die Guerrilla anfangs nur die Kokabauern besteuert und Gebühren für die klandestinen Landepisten der Drogenhändler in den Anbaugebieten erhoben, so wurde das illegale Geschäft zunehmend zum Selbstzweck und verschiedene ihrer frentes stiegen immer tiefer ein. Ab der Jahrtausendwende hielt Washington mit dem Plan Colombia dagegen. Milliarden wurden ausgegeben, sieben Militärbasen in Kolumbien errichtet, Spezialkräfte ausgebildet und die Besprühung mit Glyphosat noch einmal ausgeweitet. Der War on Drugs verschmolz mit dem War on Terror. Nur Weltpolizist Uncle Sam verfügt über eine Abteilung für internationale Drogen- und Gesetzesvollzugsangelegenheiten (INL(3)) im Außenministerium. Ende des vorletzten Jahrzehnts (FY 2010) gingen mehr als 50 Prozent des INL-Budgets in Höhe von insgesamt 878,9 Mio. USD nach Afghanistan und Kolumbien – zwei Schlüsselländer im Krieg gegen den Terror. Zum Vergleich: Das Gesamtbudget des UNODC war nicht einmal halb so hoch.


Nachhaltigkeitsdesaster und Bürgerkrieg

Besprüht wurde nun vor allem in den Guerrilla-Hochburgen im Süden des Landes. Im Laufe der Jahre will man laut Statistik deutlich mehr als das Zehnfache dessen an Feldern vernichtet haben, was jemals als maximale Anbaufläche vorhanden war. Ein Nachhaltigkeitsdesaster. Die Bauern zogen weiter, legten neue Kokafelder an – teilweise schon prophylaktisch. Die Politik der Kokavernichtung ohne Nachhaltigkeit dürfte damit enorme Flächen tropischen Regenwaldes gekostet haben.(4) Doch nicht nur das: Durch die zur Weiterverarbeitung notwendigen Chemikalien wurden immer neue Böden und Gewässer vergiftet. Und Kolumbien war lange noch vor Syrien das Land mit der höchsten Zahl von Binnenflüchtlingen (8 von insgesamt 50 Millionen Einwohnern), wofür hauptsächlich der Guerrillakrieg, aber eben auch Bauernvertreibung durch Kokaeradikation verantwortlich war.


Die Umsetzung des Plan Colombia hieß in Kolumbien unter Präsident Álvaro Uríbe (2002-2010) Seguridad Democrática und verfolgte das Ziel, illegale bewaffnete Gruppen von ihrer Finanzierung abzuschneiden. Gesprüht wurde nun insbesondere in den Hochburgen der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) im Süden des Landes in den Departments Caquetá und Putumayo. Landesweite Kokareduzierungen um 80.000 Hektar zwischen 2000 und 2004 wurden praktisch ausschließlich dort erzielt.


Im Jahr 2015 wurden die Besprühungen eingestellt, im Jahr 2016 ein Friedensabkommen mit den FARC unterzeichnet. Der Krieg mit der ältesten (seit 1964) und größten Guerrilla war zu Ende. Präsident Juan Manuel Santos erhielt dafür den Friedensnobelpreis. Mehr als 13.000 Kämpfer wurden demobilisiert, Hunderte davon später ermordet. Nachfolger Iván Duque hielt nichts von dem Abkommen und das ehrgeizige Programm zur Schaffung von Alternativen für die Bauern wurde praktisch nicht vollzogen. Duque setzte die Zwangseradikation von Kokafeldern fort und wollte sogar zu einer Besprühung der Felder aus der Luft zurückkehren. Es ist nicht gelungen, das Machtvakuum, das durch den Abzug der Guerrilla entstand, durch staatliche Institutionen zu füllen. Stattdessen geben dort nun FARC-Dissidenten (5.500 Kämpfer), Kämpfer des Ejercito de la Liberación Nacional (ELN 2.200) und Angehörige krimineller Banden (8.350 nach offiziellen Zahlen) den Ton an. Bei seinem Amtsantritt im Jahr 2018 gab es in Kolumbien 169.000 Hektar Koka und Duque strebte bis 2023 eine Halbierung an. In einem Working-Paper von 2020/21 für das deutsch-kolumbianische Friedensinstitut Capaz (www.instituto-capaz.org) schrieb der Autor dieser Zeilen damals: „Nichts deutet darauf hin, dass die Zielvorgaben heute realistischer sind als vor 10 oder 20 Jahren. Es ist vielmehr zu erwarten, dass die neuerliche Eradikationsoffensive auch diesmal nicht nachhaltig sein wird und es besteht die Gefahr, dass damit die Unsicherheit der Lebensumstände in den betroffenen Gebieten vergrößert wird.“


Heute kämpft die Regierung des Präsidenten Gustavo Petro unter dem Slogan Paz Total gegen verbrannte Erde an. Die Bauern sind einmal mehr vom Staat enttäuscht und desillusioniert. Statt der angestrebten Halbierung ist die Kokaanbaufläche um gut ein Drittel weiter angewachsen und liegt heute (2022) bei 230.028 Hektar, fast die Hälfte davon in den südlichen Departments Putumayo und Nariño im Grenzgebiet zu Ecuador (5). Und damit nicht genug. Durch bessere Sorten und Anbaumethoden soll die Ernte pro Hektar nach Berechnungen des UNODC um durchschnittlich 24 Prozent angestiegen sein und durch Optimierung der Weiterverarbeitung auch der Kokainertrag. Solche neuen Hochproduktivitätszonen befinden sich unter Kontrolle sogenannter narcoparamilitares, FARC-Dissidenten bzw. der ELN. Alle zusammen werden sie Grupos Armados Ilegales (GAI) genannt. 35 Prozent der Kokaanbauflächen Kolumbiens befinden sich in Zonen, in denen eine oder mehrere GAI präsent sind. Diese arbeiten fallweise zusammen oder bekriegen sich. Aber alle sind um eine strikte Kontrolle des Produktionsprozesses bemüht. Im Department Putumayo lassen sich sechs Gruppen identifizieren, die nahezu umfassende Kontrolle ausüben. Die größten sind ehemalige frentes der FARC, das Comando Frontera und die Frente Carolina Ramírez und sie bekämpfen sich gegenseitig. Gemeinsam ist ihnen allen der Vektor des Kokainabsatzes: der Rio Putumayo. Interessanterweise befindet sich auch auf der südlichen, der peruanischen Seite des Grenzflusses im Departement Loreto ein Koka-Kokain-Nukleus. Auf ihm oder an ihm entlang gelangt die heiße Ware nach Ecuador.


Ecuador: Neoliberalismus und Drogentransit

Immer wieder tauchten in den letzten Jahren in Supermärkten Kokainpäckchen in Bananen- oder Schnittblumenlieferungen aus Ecuador auf, die von den Adressaten übersehen worden waren. Ecuador ist selbst kein Anbauland in nennenswertem Umfang, doch wurde es für den Drogenhandel nicht nur wegen des Pazifikhafens Guayaquil interessant. Kokainbeschlagnahmungen sind dort von 88 Tonnen (2019) auf 201 Tonnen (2022) kontinuierlich angestiegen. Neben dem Seehafen und der langen Landesgrenze zu den wichtigsten Kokain-Produktionszentren verfügt Ecuador noch über weitere, politisch-hausgemachte „Standortvorteile“. Das notorisch exportabhängige Land – vor allem Erdöl mit seinen schwankenden Weltmarktpreisen – befindet sich seit langem in einer wirtschaftlichen Dauerkrise, unterbrochen nur durch einen Boom im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends. Zur Jahrtausendwende wurde daher die Wirtschaft „dollarisiert“, was Außenhandelsgeschäfte ebenso erleichtert wie die Geldwäsche. Sie soll bei etwa 3,5 Mrd. USD jährlich liegen, was etwa 3 Prozent des BIP entspricht, Geld, das zu 75 Prozent im Land selbst in legale Wirtschaftskreisläufe eingespeist werde. Kolumbianische Wirtschaftswissenschaftler bezeichneten solcherlei Verhältnisse für ihr Land schon von mehr dreißig Jahren als „Verschmutzung der Wirtschaft“ (la economía se ensucia) und sprachen von einer „bewilligten Illegalität“ (ilegalidad consentida) (6), die der Gesetzgeber billigend in Kauf nehme.


Ecuador war mit seiner neuen Verfassung von 2008 und einer zunächst stärkeren Akzentuierung der Sozial-, Indigena- und Umweltpolitik unter Präsident Rafael Correa einer der Hoffnungsträger der progressistischen Welle in Lateinamerika. Doch eine Abkehr vom Extraktivismus, eine Überwindung der Abhängigkeit vom Erdöl gelang nicht und Correa ging 2017 unter Korruptionsvorwürfen ins französische Exil. Sein Nachfolger, Lenin Moreno, fiel nurmehr durch den scharfen Gegensatz zwischen progressiver Rhetorik und neoliberaler Praxis auf. Proteste ließ er im Jahr 2019 blutig niederschlagen. Das Verhältnis zwischen dem indigenen und dem „progressistischen“ Lage ist so zerrüttet, dass man 2021 den Wahlsieg quasi verschenkte. Während der „Correist“ Andrés Arauz den ersten Wahlgang mit 14 Prozentpunkten Vorsprung gewonnen hatte und Yaku Pérez das historisch beste Ergebnis für das indigene Lager erzielte, gewann der neoliberale Kandidat Guillermo Lasso die Stichwahl, der im ersten Wahlgang nur 19,5 Prozent der Stimmen bekommen hatte. Statt ein Bündnis einzugehen, bekämpften sich die progressiven Kräfte. Während der 900 Tage seiner Amtszeit soll das Vermögen von Guillermo Lasso um 21 Mio. USD angewachsen sein. Speziell seit der Pandemie wurde unter Moreno und Lasso eine extreme Sparpolitik betrieben, um Auslandsschulden begleichen zu können – nicht zuletzt auch im Sicherheitsbereich. Gerade Lasso war in der Sicherheitspolitik gleichzeitig aber ein Verfechter der „harten Hand“. Das in ganz Lateinamerika notorisch prekäre und hier nun noch einmal besonders vernachlässigte Gefängnissystem wurde mit Kleinkriminellen überfüllt. Vor dem Hintergrund allgegenwärtiger Korruption entwickelten sich die Haftanstalten geradezu zu Hauptquartieren krimineller Banden.


Deren wichtigste, die „Choneros“ arbeiten mit der mexikanischen Sinaloa-Gruppe zusammen, „Los Lobos“ mit der ebenfalls mexikanischen „Jalisco Nueva Generación“. Beide Gruppen bekämpfen sich. Ein Fanal war die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio, dessen Hauptthemen der Kampf gegen die Korruption und den illegalen Drogenhandel waren, auf einer Kundgebung in Quito im August 2023. Eine Komplizenschaft aus den Reihen der Sicherheitskräfte wird vermutet. Die Hauptverdächtigen wurden später in zwei verschiedenen Gefängnissen ihrerseits ermordet. Ein zweites Fanal war der Ausbruch des Anführers der „Choneros“, Adolfo „Fito“ Macias, Anfang Januar 2024, nachdem er in ein anderes Gefängnis verlegt werden sollte, sowie die bewaffnete Besetzung eines Fernsehstudios während einer Livesendung. Inzwischen hatte der heute 36-jährige, in Miami geborene und steinreiche Unternehmer Daniel Noboa die Wahlen gewonnen. Nach nur wenigen Wochen im Amt, sprach er am 9. Januar von einem „internen bewaffneten Konflikt“ und rief einen 60-tägigen Notstand aus. In kurzer Zeit wurden mehr als 9.000 Menschen verhaftet. Es wird sogar über eine Wiedereröffnung der US-Luftwaffenbasis Manta diskutiert, die im Kontext des Plan Colombia 1999 als sogenannte Forward Operation Location zur Luftraumüberwachung (AWACS) eröffnet worden war. Insgesamt 500 Mann US-Personal genossen damals quasi diplomatische Immunität und Bewegungsfreiheit in ganz Ecuador. Sie war 2008/2009 unter Rafael Correa geschlossen worden und eine Wiedereröffnung würde heute gegen die neue Verfassung verstoßen.


Der Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta, der unter anderem in Köln studiert hat, war in den Jahren 2007 und 2008 Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors und im ersten Halbjahr 2007 Minister für Energie und Bergbau im Kabinett von Rafael Correa. Er hat Zweifel am Erfolg dieser Politik der Militarisierung: Die Nationalpolizei werde zum Erfüllungsgehilfen des Militärs degradiert. Er spricht vom grundlegenden Problem einer Koexistenz zwischen dem Staat und einigen kriminellen Banden, die nach und nach die staatlichen Institutionen übernahmen. Der Grad der Durchdringung des organisierten Verbrechens sei so groß, dass seine Infiltration fast aller staatlichen Instanzen, der Justiz, der Sicherheitskräfte, des Privatsektors und sogar des Sports öffentlich anerkannt werde.


Vor anderthalb Jahrzehnten reagierte das Kokaingeschäft auf stärkere Kontrollen der europäischen Seehäfen mit dem Absatz über Venezuela und Westafrika entlang des 10. Breitengrades, der die kürzeste Verbindung zwischen Lateinamerika und Westafrika darstellt. Fahnder sprachen damals vom Highway Number 10. Einige der ärmsten Länder der Welt waren nun plötzlich mit einem Millionengeschäft konfrontiert. In der Wüste Malis wurde im Jahr 2009 das Wrack einer aufgelassenen Boeing 727 gefunden, mit der 10 Tonnen Kokain transportiert worden waren: die Air Cocaine. Der Weitertransport durch die Sahara zum Mittelmeer erfolgte über dieselben Routen und durch dieselben Organisationen, die auch im Schleppergeschäft aktiv sind, unter anderem Al Qaeda. Ab 2011 erhielten sie üppige Bewaffnung aus Beständen des gestürzten Diktators Muhammar al Gaddhafi. Und während neuerdings Ecuador die Aufmerksamkeit erregt, zeichnet sich bereits eine Wiederbelebung des Highway Number 10 ab. Wie auch immer die Routen sich ändern: Die Fahnder laufen hinterher.


Drogenbekämpfung und Menschenrechte: ein neuer Anlauf

Zurück nach Wien und zur Commission on Narcotic Drugs. Der War on Drugs sei gescheitert, sagt Volker Türk, der UNO Hochkommissar für Menschenrechte: gescheitert Leben zu retten; gescheitert die Würde, Gesundheit und Zukunft von weltweit 296 Millionen Drogennutzern zu schützen; gescheitert, den Politikwechsel herbeizuführen, den wir dringend brauchen, um weitere Rückschläge bei den Menschenrechten abzuwenden. Die gegenwärtige Drogenpolitik mit ihrem strafenden Ansatz und ihren repressiven Politiken, so Türk, hatte verheerende Folgen für die Menschenrechte auf allen Ebenen. „Drogen töten und zerstören Leben und Gemeinschaften. Aber unterdrückerische und rückwärtsgewandte Politiken tun das auch.“ (Übers. aus dem Englischen R.L.)


Seit der Vorbereitung der UNGASS Konferenz von 2016 werden andere UNO-Organisationen (wie UNAIDS oder das Hochkommissariat für Menschenrechte mit Sitz in Genf) sowie NGO’s in die Drogendebatte einbezogen, die bis dato von den in Wien ansässigen UN „Drogenorganisationen“ dominiert, wenn nicht monopolisiert gewesen war. Drogenpolitik wurde in den Kontext der nachhaltigen UN-Entwicklungsziele (oder Agenda 2030) gestellt – zumindest in den Debatten. Im August 2023 legte das Büro des Menschenrechts-Hochkommissars einen Bericht über Herausforderungen für die Menschenrechte bei der Drogenbekämpfung vor. Der kolumbianische Außenminister Murillo erkannte auf dem genannten side event sofort, den Gegensatz zwischen Wien und Genf. Und die frühere Bundespräsidentin der Schweiz, Ruth Dreyfuss, plädierte für eine dringend notwendige „Kommunion“ der Ansätze, wie sie es formulierte. Es ist hohe Zeit, dass daraus Wirklichkeit wird. Nicht nur in den Diskursen, sondern in der Praxis.


(1) Auf der alljährlich in Wien stattfindenden „Commission“ kommen die Delegierten der Mitgliedsländer zusammen, um die internationale Drogenpolitik zu diskutieren und zu gestalten. Das erwähnte side event (Human rights in global drug policy and the case of the current classification of coca leaf in the 1961 single convention: A debate on the implementation and effectiveness of the international drug control regime) fand am 14. März 2024 statt. Am Podium saßen neben Laura Gil, der bolivianische Vizepräsident David Choquehuanca, der kolumbianische Außenminister Luis Gilberto Murillo, die ehemalige Bundespräsidentin der Schweiz, Ruth Dreyfuss (als Mitglied der Global Commission on Drug Policy) sowie der UN Hochkommissar für Menschenrechte, der Österreicher Volker Türk.

(2) Der World Drug Report 2023 des UNODC nennt für Bolivien 30.500 Hektar und für Peru 80.681 Hektar, was zusammengenommen 315.481 Hektar ergibt. Die Zahlen sind von daher inkonsistent bzw. die Addition fehlerhaft.

(3) Das Bureau for International Narcotics Matters and Law Enforcement Affairs (INL) im State Department wurde 1978 gegründet und 1995 zum heutigen Namen umbenannt. Insgesamt ist das Anti-Drogen-Budget der USA noch erheblich höher und in seinen internationalen Aspekten auf State Department (INL und USAID), Justiz- (DEA) und Verteidigungsministerium verteilt.

(4) Eine auch methodologische Auseinandersetzung mit dem Thema stellt fest: „...that coca cultivation area, number of cattle, and municipality area are the top three drivers of deforestation…“ und die Gewichtung dieser Faktoren sei „highly context-specific“. (Ganzenmüller/Sylvester/Castro-Nuñez: „What Peace Means for Deforestation: An Analysis of Local Deforestation Dynamics in Times of Conflict and Peace in Colombia“ in: Frontiers in Environmental Science Vol. 10, Bucharest, 21.2.2022

(5) UNODC: Monitoreo de los territorios con presencia de cultivos de coca 2022, Bogotá/ Viena, Septiembre 2023.

(6) Arrieta/ Orejuela/ Sarmiento Palacio/ Tokatlián: „Narcotráfico en Colombia“, Bogotá, 1990.


Volker Türks bemerkenswerte Rede auf dem erwähnten side event: www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2024/03/war-drugs-has-failed-says-high-commissioner

Sein Statement vor dem Plenum:

www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2024/03/turk-urges-transformative-change-global-drug-policy


Foto: Verurteilte Drogenkurierin, Frauengefängnis Bogotá 1990. Noch immer werden Haftanstalten mit Kleinkriminellen vollgestopft. 

© Robert Lessmann


Weitere Beiträge zum Thema weiter unten in diesem Blog, insbesondere:

www.robert-lessmann.com/proceso-de-paz-y-guerra-contra-las-drogas-en-colombia-sostenibilidad-y-alter...

www.robert-lessmann.com/kolumbien-drogenbekaempfung-und-friedensprozess

www.robert-lessmann.com/drogenpolitik-augen-zu-und-weiter-so

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