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Kolumbien: Kokabesprühung aus der Luft - Hundert Jahre Einsamkeit?

  • von © Robert Lessmann Dr
  • 15 Juni, 2021

"Die Definition von Wahnsinn ist, immer das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten." Der Satz wird Albert Einstein zugeschrieben. Während in der internationalen Drogenpolitik nach Jahrzehnten der Beharrung und angesichts zunehmender Probleme die Weichen auf Reformen stehen, setzt die kolumbianische Regierung auf Maßnahmen, die seit einem Vierteljahrhundert in ein Nachhaltigkeitsdesaster mit hohen ökologischen und sozialen Kosten münden. Kritiker vermuten, der „Wahnsinn“ hat Methode: Bauernvertreibung und Landraub.

Als katastrophales Jahr für die Menschenrechte bezeichnete das katholische Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat das Jahr 2020. Kolumbien gilt als das gefährlichste Land der Welt für Menschenrechtsaktivist:innen. Das Büro der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, verzeichnete bis zum 16. Dezember 66 Massaker, die Menschenrechtsorganisation INDEPAZ gar 93. Die Anzahl der Tötungen von Aktivist:innen (lideres sociales) erreichte ein schockierendes Ausmaß: 292 laut INDEPAZ.


Dahinter stehe die Drogenmafia, versicherte auf dem Höhepunkt einer Welle der Gewalt im August der inzwischen verstorbene damalige Verteidigungsminister Holmes Trujillo, der in Kolumbien auch für die Polizei zuständig ist. Daher müsse man die Besprühung der illegalen Drogenpflanzen aus der Luft mit Glyphosat wieder aufnehmen. Die illegalen Kokapflanzungen und der Drogenhandel seien der wichtigste Feind des Friedens in Kolumbien.

In der Tat spielte der Kampf gegen den Drogenhandel und den Kokaanbau auch im Friedensabkommen zwischen der Regierung und den FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) von 2016 eine wichtige Rolle. Dazu müssten nachhaltige und partizipative Strategien mit den Produzentengemeinschaften entwickelt werden, heißt es da. Die umstrittenen Besprühungen waren während der Verhandlungen im Jahr 2015 ausgesetzt worden, nachdem die Weltgesundheitsorganisation WHO Glyphosat als „wahrscheinlich krebserregend“ eingestuft hatte. Seither waren Kokaanbau und Kokainproduktion auf ein Rekordniveau geklettert, weshalb Donald Trump dem kolumbianischen Präsidenten Iván Duque bei dessen Besuch im Weißen Haus im März 2020 ausrichtete: „You’re going to have to spray.“


Nachhaltigkeitsdesaster

Kampagnen zur Reduzierung des Kokaanbaus sind in Kolumbien mehr als ein Vierteljahrhundert alt. Besprühungen mit Pflanzengift gegen Kokafelder vom Flugzeug aus begannen im Jahr 1994. Präsident Ernesto Samper willigte in eine deutliche Ausweitung der umstrittenen Besprühungsprogramme ein, nachdem Kolumbien zweimal die certification für drogenpolitisches Wohlverhalten durch Washington entzogen worden war (1996 und 1997) und Sanktionen drohten.

Interessanterweise kam es gleichzeitig zu einem Prozess der Importsubstitution. Die großen „Kartelle“ von Medellín und Cali waren zerschlagen worden und ihre kleineren Nachfolger kauften nicht mehr in den traditionellen Koka-Produzentenländern Peru und Bolivien ein, sondern zu Hause. Drogenpolitische Erfolge wurden vom Markt direkt in ihr Gegenteil gewendet; man spricht auch von einem Ballon-Effekt. Gab es zu Beginn der fumigaciones im Jahr 1994 44.700 Hektar Koka in Kolumbien, so waren es im Jahr 2000 163.300. Und während der Kokaanbau 1994 auf sechs Provinzen beschränkt war, gab es zur Jahrtausendwende Kokaanbau in 23 der 33 Departements. (Alle Zahlen aus Berichten des Drogenkontrollprogramms der Vereinten Nationen, UNODC).


 Die Besprühungen wurden – nun im Rahmen der seguridad democrática (Plan Colombia) vermehrt unter dem Schutz des Militärs – noch einmal ausgeweitet und von einer Kampagne der manuellen Eradikation (ebenfalls unter dem Schutz des Militärs) ergänzt. Die Drogenpolitik unter der Prämisse der seguridad democrática des Präsidenten Álvaro Uribe Vélez ging davon aus, dass Drogeneinnahmen die wichtigste Stütze illegaler bewaffneter Gruppen darstellen, und wollte ihnen diese entziehen.

Eine Halbierung des Kokaanbaus zwischen 2000 und 2004 wurde durch eine aggressive Besprühungskampagne erreicht, die sich auf die beiden FARC-Guerillahochburgen Caquetá und Putumayo konzentrierte: In Caquetá ging die Kokaanbaufläche von 26.000 Hektar (2000) auf 6.500 Hektar (2004) zurück; in Putumayo von 66.000 (2000) auf 4.386 Hektar (2004). Das heißt: Eine landesweite Reduzierung um 80.000 Hektar wurde praktisch ausschließlich in Caquetá und Putumayo erzielt – Hochburgen der FARC, wo der Anbau in den folgenden Jahren dann auch am stärksten wieder zunahm.


Eradikation als Waffe im Bürgerkrieg

Der Ballon-Effekt wurde auch innerhalb Kolumbiens wirksam. Sehen wir uns die Details des Erfolgsjahres 2008 nach einzelnen Departements an: Den wichtigsten Reduzierungen in Cundinamarca (-91%), Arauca (-79%), Meta (-47%), Vichada (-56%) stehen Zuwächse gegenüber in Caldas (234%), Valle de Cauca (361%), Chocó (159%) und Boyacá (149%). Insgesamt konnte die Kokaanbaufläche damals um 18 Prozent reduziert werden (UNODC June 2009).


Im Ergebnis kann man diese Politik als Nachhaltigkeitsdesaster bezeichnen. Seit Präsident Samper unter Korruptionsvorwürfen Washingtons im Jahr 1994 zur Einwilligung in das Besprühungsprogramm gedrängt wurde, hat man in Kolumbien rund 2,5 Millionen Hektar Koka vernichtet, etwa das 15-fache des historischen Maximums der Anbaufläche (171.000 ha im Jahr 2017). Bis zum Jahr 2013 wurde laut Statistik alljährlich das Mehrfache dessen „vernichtet“, was überhaupt vorhanden war – das Gegenteil einer rationalen und nachhaltigen Strategie. Der Kokaanbau ist dadurch zu einer extrem volatilen Angelegenheit geworden. Verschwunden oder auch nur entscheidend vermindert ist er nicht.


Bei der besonders umstrittenen Besprühung von Kokafeldern mit Pflanzengift aus der Luft kann man vielmehr von einer regelrechten Bauernvertreibung sprechen. Bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 49,6 Millionen Menschen sind in Kolumbien fast 8 Millionen auf der Flucht – vor allem infolge des Bürgerkriegs. Kolumbien ist damit noch vor Syrien das Land mit den meisten Binnenflüchtlingen (UNHCR 2019). Hinzu kommen rund zwei Millionen Flüchtlinge aus Venezuela. Die Politik der Kokavernichtung ohne Nachhaltigkeit hat zum Problem unfreiwilliger Mobilität in Kolumbien sicherlich noch beigetragen.


Es gibt unzählige Berichte und Studien über schädliche gesundheitliche und ökologische Auswirkungen der Besprühung mit Glyphosat und anderen Beimischungen, ebenso wie Klagen über mangelnde Zielgenauigkeit. Auch Felder mit legitimen Produkten und selbst Projekte der Alternativen Entwicklung wurden versehentlich besprüht. Es wird von Gegenmaßnahmen der Bauern berichtet, weshalb die empfohlene Konzentration von Glyphosat überschritten und aggressivere Chemikalien beigemischt würden. Der langjährige Experte Ricardo Vargas geht davon aus, dass nur weniger als ein Drittel der besprühten Felder auch tatsächlich vernichtet würden. Doch selbst wenn man nur die Angaben über die manuelle Eradikation zwischen 2008 und 2018 addiert, kommt man auf 442.947 Hektar, das Zweieinhalbfache des historischen Maximums des Anbaus (171.000 Ha.).


Die Strategie der zwangsweisen Kokaeradikation ist nicht nachhaltig und daher zur Drogenkontrolle unbrauchbar. Sie hat stattdessen ökologische Probleme geschaffen und die Lebensunsicherheit in den betroffenen Regionen erhöht. Die Frage muss erlaubt sein, weshalb man ungeachtet desaströser Ergebnisse an dieser Strategie festhält und sogar zu einer Politik der fumigaciones zurückkehren will.


Präsident Iván Duque – allein zu Haus

Im Rahmen des Friedensprozesses wurde mit dem Programa Nacional Integral de Sustitución de Cultivos Ilícitos das bis dato umfassendste und beste Programm der Alternativen Entwicklung verabschiedet. Die Bauern würden Überbrückungshilfen und technische Unterstützung bei der Umstellung der Produktion erhalten. Experten hielten allerdings die Fristen für viel zu ambitiös. Innerhalb des ersten Jahres sollten 100.000 Hektar reduziert werden. Das hatte noch nie geklappt – nirgendwo! Vor allem aber wurde es auch nicht umgesetzt. Mit dem Regierungswechsel von 2018 ging auch noch der politische Wille verloren und damit einmal mehr das Vertrauen der bäuerlichen Produzent:innen. Zwischen 2015 (96.000 Hektar) und 2017 (171.000 Hektar) hat sich die Anbaufläche beinahe verdoppelt. Die von den FARC-Kämpfern geräumten Territorien wurden oftmals nicht von den staatlichen Institutionen besetzt, sondern von anderen Guerillagruppen, FARC-Dissidenten, die aus dem Friedensprozess ausscherten, Neo-Paramilitärs und kriminellen Banden, die um die territoriale Kontrolle kämpfen.


Stets war Washington mit seiner Sanktionspolitik die treibende Kraft hinter Politiken der Zwangseradikation. So hat man mit Washington im Oktober 2019 eine Halbierung des Kokaanbaus bis 2023 vereinbart, wobei man von solchen Reduzierungen in der Praxis weit entfernt ist. Das Eradikationsziel für 2020 lag bei 130.000 Hektar – 2019 erreichte man 15.000 von geplanten 80.000. Eine Halbierung des Kokaanbaus wurde beim Stand von 169.000 Hektar auch zum Auftakt des Plan Colombia im Jahr 1999 vereinbart. Seither hat der US-Steuerzahler dafür zehn Milliarden US-Dollar ausgegeben und die Produktion ist auf Rekordhöhe, wie ein kritischer Kongressbericht vom Dezember 2020 anmerkt.

Nichts weist darauf hin, dass dieses Ziel heute realistischer ist. Plan Colombia sei ein Erfolg für die Aufstandsbekämpfung, aber drogenpolitsch gescheitert, heißt es in dem noch von Trumps Außenminister Mike Pompeo mitunterzeichneten Bericht beider Kongressparteien, von dem man eben deshalb annimmt, dass er die Grundlage für die Drogenpolitik der Biden-Administration darstellen dürfte. In der Tat: In einem Strategiepapier für das erste Amtsjahr kommt das Wort Eradikation nicht einmal vor.


Nichtdestoweniger hat Präsident Iván Duque im April per Dekret 380 die Tür zu einer Rückkehr zur Besprühung von Kokafeldern aus der Luft geöffnet. Doch er steht mit seiner Position zunehmend einsam da. In Kolumbien selbst haben die Senatoren Iván Marulanda (Grüne) und Feliciano Valencia (Movimiento Alternativo Indígena Social - MAIS) bereits im letzten Jahr einen Gesetzentwurf (236) zur Regulierung der Kokaproduktionskette vorgelegt, mit Fokus auf Menschenrechten, öffentlicher Gesundheit und Schadensminderung. Es geht dabei um Unterstützung für indigene und marginalisierte Gemeinschaften, die Koka anbauen. Aber er schlägt auch vor, dass der kolumbianische Staat die Rolle eines globalen Anbieters für Kokain auf einem regulierten Markt übernimmt. Obwohl es unwahrscheinlich ist, dass es verabschiedet wird, ist dieses Reformprojekt doch geradezu revolutionär für die internationale Debatte. Und: Auch Gustavo Petro, der frühere Bürgermeister von Bogotá und in Umfragen aussichtsreiche Präsidentschaftskandidat, kann der Idee, den illegalen Drogenmärkten die Rentabilität zu entziehen, etwas abgewinnen, wie er unlängst in einem TV-Interview erklärte. Eine Rückkehr zur Besprühungspolitik lehnt er strikt ab.


Der Beitrag fußt auf einem Arbeitspapier für das deutsch-kolumbianische Friedensforschungsinstitut CAPAZ (www.instituto-capaz.org); spanische und deutsche Vorabversionen weiter unten in diesem Blog.



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